L 11 KR 2771/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 5 KR 955/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 2771/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 KR 21/06 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Das Beitrittsrecht zur freiwilligen Versicherung gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Berechtigte ab dem 01.01.2005 Leistungen nach dem SGB XII erhält. Bestätigung der Entscheidung vom 11.04.2006 - L 11 KR 714/06 - ; Revision anhängig B 12 KR 21/06 R.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 9. März 2006 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- verfahrens zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob die Klägerin ab 01.01.2005 durch Beitritt freiwilliges Mitglied in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung der Beklagten geworden ist.

Die 1921 geborene Klägerin, die aus der Ukraine stammt, war zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert. Sie bezog in der Vergangenheit Leistungen nach §§ 11 ff. Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und bis 31.12.2004 Leistungen nach dem Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (GSiG). Seit 01.01.2005 ist sie Empfängerin von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

Im Dezember 2004 erklärte die Klägerin gegenüber der Beklagten den Beitritt zur freiwilligen Kranken- und Pflegeversicherung ab 01.01.2005.

Mit Bescheid vom 15.12.2004 lehnte die Beklagte einen Beitritt ab. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 8 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) könnten Personen, die zuvor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert gewesen seien und vor dem 01.01.2005 für mindestens einen Monat ununterbrochen Leistungen zum Lebensunterhalt nach § 11 BSHG bezogen hätten und diese vor dem 01.01.2005 beendet worden seien, eine freiwillige Krankenversicherung beantragen. Trete anstelle der Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG eine Leistung der Grundsicherung, könne nicht von einem beendeten Leistungsbezug ausgegangen werden. Da die Klägerin ab 01.01.2005 Leistungen der Grundsicherung erhalte, sei deshalb eine freiwillige Versicherung nach § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V nicht möglich.

Die Klägerin erhob hiergegen Widerspruch. Zur Begründung führte sie aus, sie erhalte ab 01.01.2005 keine Leistungen des BSHG mehr, sondern solche nach dem SGB XII. Im Gesetzestext heiße es nicht, dass der Leistungsbezug generell beendet sein müsse. Wenn der Gesetzgeber den Personenkreis, der weiterhin Leistungen erhalte, generell habe ausschließen wollen, würde das Gesetz praktisch "ins Leere" laufen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 01.03.2005 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Klägerin habe Leistungen der Grundsicherung und nicht nach dem BSHG erhalten. Hierbei handele es sich um zwei völlig unterschiedliche Leistungen mit unterschiedlichen Rechtsgrundlagen. Eine Bescheinigung über den beendeten Leistungsbezug nach § 11 BSHG sei dem Antrag nicht beigefügt gewesen. Außerdem liege auch kein glaubhafter Nachweis über die Nichtversicherung in der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung vor.

Hiergegen erhob die Klägerin Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG). Sie wiederholte im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen und legte den Bescheid des Sozialamts der Stadt F. vom 16.09.2002 über die Änderung von laufenden Leistungen nach § 11 ff BSHG und ein Schreiben des Sozialamtes vom 05.12.2003 über die bevorstehende Übernahme der Betreuung der Sozialhilfeempfänger im Krankheitsfall durch die Krankenkassen vor. Ergänzend berief sie sich auf ein Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 29.08.2005 - S 4 (6) KR 78/05).

Die Beklagte wies auf einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 07.07.2005 - S 81 KR 1003/05 - hin und vertrat die Auffassung, dass wenn an die Stelle der Leistungen nach § 11 BSHG Leistungen der Grundsicherung getreten seien, nicht von einem beendeten Leistungsbezug ausgegangen werden könne.

Mit Urteil vom 09.03.2006, der Beklagten zugestellt am 04.05.2006, hob das SG den Bescheid der Beklagten vom 15.12.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 01.03.2005 auf und verurteilte die Beklagte, die Klägerin ab 01.01.2005 als freiwilliges Mitglied in die Krankenversicherung nach § 9 SGB V aufzunehmen. In den Entscheidungsgründen führte es aus, die Auslegung nach dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V helfe bei der Frage, ob die Klägerin zum beitrittsberechtigten Personenkreis zähle oder nicht, nicht entscheidend weiter. Einerseits könne die ausdrückliche Erwähnung des Bezugs von Leistungen "in der Vergangenheit" dafür sprechen, dass es ab 01.01.2005 keinen weiteren Leistungsbezug geben dürfe; zum anderen könne die Erwähnung von Leistungen "nach dem BSHG" dafür sprechen, dass ein späterer Sozialhilfebezug unschädlich sei. Entscheidend für die Auslegung sei deshalb der Blick auf die Gesetzessystematik. Danach habe der Gesetzgeber den noch erwerbsfähigen früheren Sozialhilfeempfängern ab 01.01.2005 das so genannte Arbeitslosengeld II zugebilligt und gleichzeitig die gesetzliche Krankenversicherung dieses Personenkreises angeordnet. Dagegen würden bisherige Empfänger von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG, die nicht erwerbsfähig seien, ab dem 01.01.2005 weiter Leistungen zum Lebensunterhalt, jetzt nach den Vorschriften des SGB XII, erhalten und sollten binnen einer sechsmonatigen Beitrittsfrist ein Beitrittsrecht zur gesetzlichen Krankenversicherung als freiwilliges Mitglied bekommen. Nur so mache die vom Gesetzgeber getroffene Neuregelung einen Sinn. Wenn die Regelung auf den Personenkreis derjenigen begrenzt wäre, deren Leistungen zum Lebensunterhalt spätestens mit dem 31.12.2004 endgültig geendet hätten, würde sie nur einen sehr kleinen Kreis früherer Sozialhilfeempfänger betreffen, ohne dass zu erkennen wäre, wieso all diejenigen, die auch über den 31.12.2004 hinaus hilfebedürftig geblieben seien, von dem Beitrittsrecht ausgeschlossen werden sollten. Die Klägerin habe in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG bezogen und sie sei auch davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert gewesen. Damit gehöre sie zum beitrittsberechtigten Personenkreis und sei der Beklagten wirksam beigetreten.

Hiergegen hat die Beklagte am 30.05.2006 Berufung eingelegt. Sie ist weiter der Auffassung, dass die Klägerin kein Beitrittsrecht zur freiwilligen Krankenversicherung hat, da sie die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V nicht erfülle. Die Voraussetzungen dieser Norm würden nur dann vorliegen, wenn nicht nur der Bezug von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG zum 31.12.2004 geendet habe, sondern über diesen Zeitpunkt hinaus keine diesen Leistungen vergleichbare Leistungen, insbesondere nach dem SGB XII, bezogen würden. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V. Die Einfügung der Worte "in der Vergangenheit" solle zum Ausdruck bringen, dass nur demjenigen ein Recht, der Krankenversicherung als freiwilliges Mitglied beizutreten, eingeräumt werde, der seit dem 01.01.2005 keine Leistungen eines Sozialhilfeträgers mehr beziehe. Sofern sich die Worte allein auf das Wort "Bundessozialhilfegesetz" beziehen würden, wäre dies überflüssig, da dieses Gesetz zum 01.01.2005 aufgehoben worden sei. Dieses Auslegungsergebnis werde auch durch den Willen des Gesetzgebers gestützt. Nach der Gesetzesbegründung hätte nur einem eng begrenzten Personenkreis ehemaliger Bezieher von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt ein einmaliges befristetes Beitrittsrecht eingeräumt werden sollen. Die Ablösung des BSHG durch das SGB XII habe nicht dazu führen sollen, allen Sozialhilfeempfängern ein einmaliges Beitrittsrecht einzuräumen. Solange Bürger Leistungen nach dem SGB XII beziehen würden, würden sie einen umfassenden Schutz bei Krankheit durch die Betreuung nach § 264 Abs. 2 SGB V erhalten. Hätte der Gesetzgeber ein umfassendes Beitrittsrecht für notwendig gehalten, wäre das Rechtsinstitut der Betreuung nach § 264 Abs. 2 SGB V durch eine generelle Versicherung der Sozialhilfeempfänger zu ersetzen gewesen. Dies sei nicht der Fall. Die Gleichstellung derjenigen ehemaligen Bezieher von Hilfe zum Lebensunterhalt, die die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V nicht erfüllen würden, mit Personen, die aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld II Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung geworden seien und diese Mitgliedschaft bei Aufnahme einer versicherungsfreien Beschäftigung bzw. selbstständiger Tätigkeit fortsetzen könnten, sei nur im Hinblick auf die Möglichkeit der Erfüllung der Vorversicherungszeiten erfolgt. Eine Gleichstellung im Hinblick auf die begründete Mitgliedschaft als solche habe nach dem Willen des Gesetzgebers jedoch nicht erfolgen sollen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 9. März 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.

Der Senat hat die Stadt F. zum Verfahren beigeladen (Beschluss vom 03.07.2006).

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und der Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet. Die angefochtene Entscheidung des SG ist nicht zu beanstanden und verletzt die Beklagte nicht in ihren Rechten. Die Klägerin ist auf Grund ihres Antrags ab 01.01.2005 freiwilliges Mitglied in der Kranken- und Pflegeversicherung der Beklagten, weshalb das SG zu Recht den Bescheid der Beklagten vom 15.12.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 01.03.2005, mit dem der Beitritt abgelehnt wurde, aufgehoben hat.

Rechtsgrundlage für die von der Klägerin beantragte freiwillige Versicherung bei der Beklagten ist im Hinblick auf die Krankenversicherung § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V und hinsichtlich der Pflegeversicherung § 20 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Elftes Buch (SGB XI), wonach freiwillige Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung in der sozialen Pflegeversicherung versicherungspflichtig sind. Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 8 SGB V können der Krankenversicherung innerhalb von sechs Monaten ab dem 01.01.2005 Personen beitreten, die in der Vergangenheit laufende Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem BSHG bezogen haben und davor zu keinem Zeitpunkt gesetzlich oder privat krankenversichert waren.

Diese Voraussetzungen sind, wie das SG zu Recht entschieden hat, im vorliegenden Fall erfüllt. Der Senat schließt sich den begründeten und zutreffenden Ausführungen des SG im angefochtenen Urteil in vollem Umfang an und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Ergänzend weist der Senat - wie schon in der Entscheidung vom 11.04.2006 - L 11 KR 714/06 -, anhängig beim BSG B 12 KR 21/06 R an der er weiterhin festhält - darauf hin, dass sich die Formulierung in § 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 SGB V, wonach die Leistung "in der Vergangenheit" bezogen worden sein muss, nicht dahingehend interpretieren lässt, dass der Leistungsbezug bis zum 01.01.2005 abgeschlossen sein muss (vgl. Gerlach in Hauck/Haines Sozialgesetzbuch SGB V, K § 9 Rdnr. 78). Die von der Klägerin seit 01.01.2005 bezogene Leistung nach dem SGB XII beruht auf einem anderen Leistungsgesetz als dem BSHG. Das SGB XII hat das BSHG zwar teilweise abgelöst, stellt jedoch ein anderes Leistungsgesetz dar (vgl. BSG, Urteil vom 21.09.2005 - B 12 P 6/04 R -). Als der Gesetzgeber das Gesetz beschloss, war ihm auch bekannt, dass Personen, die bis zum 31.12.2004 Leistungen nach dem BSHG bezogen hatten, nunmehr entweder Arbeitslosengeld II oder aber Leistungen nach dem SGB XII beziehen würden. Wenn er den Personenkreis, der Leistungen nach dem SGB XII ab dem 01.01.2005 bezieht, hätte ausschließen wollen, hätte er den Zusatz "nach dem Bundessozialhilfegesetz" weglassen oder durch einen Einschub klarstellen können, dass die Personen, die ab dem 01.01.2005 weiterhin Sozialhilfeleistungen erhalten, nicht beitrittsberechtigt sein sollten. Die Einbeziehung des Personenkreises, dem die Klägerin angehört, führt auch nicht dazu, dass allen Sozialhilfeempfängern ein einmaliges Beitrittsrecht eingeräumt wird. Voraussetzung des Beitritts ist neben der Beendigung des Bezugs von Leistungen nach dem BSHG nämlich auch, dass zu keiner Zeit eine gesetzliche oder private Krankenversicherung bestand. Damit erfasst die Norm nicht alle Sozialhilfeempfänger, die nunmehr Leistungen nach dem SGB XII erhalten. Damit wird auch § 264 Abs. 2 SGB V nicht überflüssig. Er erfasst die Personen, die früher gesetzlich oder privat krankenversichert waren und im Übrigen auch die Personen, die innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten ab 01.01.2005 keinen Antrag gestellt haben.

Damit ist die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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