L 2 U 5058/03

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 1416/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 U 5058/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgericht Mannheim vom 23. Oktober 2003 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung der Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin als Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) streitig.

Die im 1944 geborene Klägerin absolvierte von April 1962 bis März 1965 eine Krankenpflegeausbildung, die sie erfolgreich abschloss. Im Anschluss daran übte sie bis September 1966 aus privaten Gründen keine Beschäftigung aus. In der Folgezeit arbeitete sie von Oktober 1966 bis April 1968 auf einer chirurgischen Station, von Mai 1968 bis August 1969 in Teilzeit (50%) im OP- und Pflegebereich und von November 1969 bis Mitte Januar 1972 einmal wöchentlich als OP-Hilfe. Vom 15. Januar 1972 bis 31. August 1975 ging sie keiner Beschäftigung nach. Im Anschluss hieran arbeitete sie vom 1. September 1975 bis 31. Dezember 1976 in Teilzeit (50%) als Röntgen- und OP-Schwester in einer neurologischen Praxis. Von Anfang 1977 bis Ende 1983 übte sie keine Beschäftigung aus, danach arbeitete sie Januar/Februar 1984 auf einer Sozialstation, von Juni 1984 bis August 1984 als Werkschwester und schließlich vom 1. Mai 1985 bis Mitte April 2000 wieder auf einer Sozialstation.

Am 3. April 2000 zeigte die Techniker Krankenkasse (TK) der Beklagten den Verdacht auf eine BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV an. Im Erhebungsbogen "Wirbelsäulenerkrankung" gab die Klägerin, die 1969, 1972 und 1978 Kinder geboren hat, an, die ersten Wirbelsäulenbeschwerden seien 1969 während der Schwangerschaft und nach der Geburt aufgetreten; außerberuflichen Wirbelsäulenbelastungen sei sie - neben den Schwangerschaften - von 1975 bis 1977 als Bauhelfer und 1990 und 1995 in der Pflege von Verwandten ausgesetzt gewesen. Die Beklagte zog das Vorerkrankungsregister der TK Mannheim (Bl. 42 der Verwaltungsakte (VA)) sowie zahlreiche medizinische Unterlagen bei (vgl. Bl. 19, 25/26, 31, 49,57, 59, 64/65 VA), aus denen sich Arbeitsunfähigkeitszeiten und Behandlungen wegen Wirbelsäulenbeschwerden ab Oktober 1992 ergaben. Diese ließ die Beklagte von Beratungsarzt Dr. K. auswerten, der zwar eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule bejahte, jedoch eine berufliche Verursachung verneinte (Bl. 75 VA). Nachdem auch der Staatliche Gewerbearzt Prof. T. eine BK nach Nr. 2108 nicht zur Anerkennung vorschlug, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 7. Dezember 2000 die Feststellung einer solchen ab, weil die Wirbelsäulenerkrankung der Klägerin auf eine anlagebedingte von der beruflichen Tätigkeit unabhängig bestehenden Schwäche des Bindegewebes zurückzuführen sei. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte bei der letzten Arbeitsgeberin der Klägerin Auskünfte bezüglich deren beruflicher Belastung ein (Bl. 104 bis 106 VA) und veranlasste wegen erheblicher Diskrepanzen zwischen den arbeitgeberseitigen Angaben und denen der Klägerin eine persönliche Befragung der Klägerin, die am 4. Dezember 2001 vom Technischen Aufsichtsbeamten (TAB) Dipl.-Ing. K. durchgeführt wurde. Entsprechend diesen Angaben berechnete der TAB die Hebe- und Tragebelastung in Anwendung des Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD) und kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin mit einem Lebensdosiswert von 26x106 Nh den Lebensdosisrichtwert für Frauen von 17x106 Nh zu 153% erreicht habe. Anschließend veranlasste die Beklagte eine Begutachtung bei Prof. Dr. C., Orthopädische Universitätsklinik H ... Dieser führte in seinem Gutachten vom 4. April 2002 aus, zweifelsfrei liege im Bewegungssegment L5/S1 eine bandscheibenbedingte Erkrankung vor; auch müsse auf Grund des kernspintomographischen und nativradiologischen Befundes von beginnenden multisegmentalen Bandscheibendegenerationen in den übrigen Lendenbandscheiben ausgegangen werden. Dennoch liege eine BK 2108 nicht vor, weil bei der Klägerin keine gegenüber der altersgemäßen Norm vorauseilende Entwicklung gegeben sei, degenerative Veränderungen auch in den anderen Wirbelsäulenabschnitten vorlägen und darüber hinaus ein angeborener Blockwinkel zwischen dem 4. und 5. Brustwirbelkörper sowie eine - wenn auch geringe - linkskonvexe Seitauslenkung der unteren Brustwirbelsäule bestehe. Gestützt auf dieses Gutachten wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2002 zurück.

Deswegen hat die Klägerin am 19. Juni 2002 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Das SG hat den Orthopäden Dr. W. als sachverständigen Zeugen schriftlich gehört, der in seiner Aussage vom 8. Oktober 2002 über die nach der erstmaligen Konsultation im Februar 2000 durchgeführten Behandlungen des rechten Kniegelenkes, der rechten Hüfte, der rechten Schulter und wegen Lumbago berichtet hat. Ferner hat das SG die medizinischen Unterlagen (u.a. Entlassungsbericht der Sankt R. Klinik, Bad Sc.; Gutachten des Orthopäden Dr. T. vom 20. Mai 2001 sowie dessen ergänzende Stellungnahme vom 21. Juni 2001) und den Rentenbescheid der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (heute: Deutsche Rentenversicherung Bund; Bewilligung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit vom 1. November 2000 bis 31. Oktober 2003) beigezogen. Sodann hat es ein orthopädisches Gutachten von Dr. S. eingeholt. Hierin (Gutachten vom 7. Februar 2003 und ergänzende Stellungnahme vom 24. April 2003) ist der Sachverständige - im Ergebnis wie Prof. Dr. C. - zu der Beurteilung gelangt, dass bei der Klägerin keine beruflich verursachte Wirbelsäulenerkrankung gegeben sei. Mit Urteil vom 23. Oktober 2003 hat das SG die Klage gestützt auf das Gutachten von Dr. S. mit der Begründung abgewiesen, bei der Klägerin habe bereits keine bandscheibenbedingte Erkrankung von klinischer Relevanz festgestellt werden können. Gegen das am 13. November 2003 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 12. Dezember 2003 Berufung eingelegt und an ihrem Begehren fest gehalten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 23. Oktober 2003 sowie den Bescheid vom 7. Dezember 2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. Juni 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihre Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat keine weiteren Ermittlungen von Amts wegen mehr durchgeführt.

Zum weiteren Vorbringen der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -), frist- und formgerecht eingelegt (§ 151 Abs. 1 SGG) und somit insgesamt zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet, denn die Klägerin hat gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Feststellung einer BK nach Nr. 2108 der Anlage zu BKV.

Auf den im Wege der Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) geltend gemachten Anspruch finden die Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Siebtes Buch (SGB VII) sowie die BKV vom 31. Oktober 1997 Anwendung. Gem. § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII sind BKen Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte bei einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Hierzu zählen nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Tatbestandsmerkmale für die Feststellung einer Erkrankung als BK nach 2108 sind eine bandscheibenbedingte Erkrankung der LWS, die durch langjährige berufsbedingte Belastungen in dem in der genannten Listennummer umschriebenen Umfang und Ausmaß (arbeitstechnische Voraussetzungen) entstanden ist, wobei die Erkrankung - als versicherungsrechtliche Voraussetzung - zusätzlich den Zwang zur Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten herbeigeführt haben und als Konsequenz aus diesem Zwang die Aufgabe dieser Tätigkeiten tatsächlich erfolgt sein muss (vgl. BSG SozR 3-5670 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2 S. 4; BSG SozR 3-2200 § 551 Nr. 16 S. 81). Zu beachten ist ferner die Rückwirkungsvorschrift des § 6 Abs. 2 BKV (vgl. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 der 2. ÄndVO; entspricht in der - ab 1. Oktober 2002 geltenden - aktuellen Fassung: § 6 Abs. 3). Hat ein Versicherter am 1. Januar 1993 an einer Krankheit gelitten, die erst auf Grund der 2. ÄndVO als BK anerkannt werden kann, ist die Krankheit auf Antrag als BK anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. März 1988 eingetreten ist (zur Verfassungsmäßigkeit der Stichtagsregelung vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG) SozR 3-2200 § 551 Nr. 15; BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 2000 - 1 BvR 1319/95 - HVBG-INFO 2001, 123). Nach ständiger Rechtsprechung müssen im Unfallversicherungsrecht die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen und die Erkrankung erwiesen sein, d.h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr. 1; BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr. 84). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSGE 58, 80, 83; 61, 127, 129); das bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (vgl. BSGE 45, 285, 286 = SozR 2200 § 548 Nr. 38; BSG SozR 3-2200 § 551 Nr. 16 S. 81 f.). Kommen mehrere Ursachen in Betracht (konkurrierende Kausalität), so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr. 91). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. BSGE 6, 70, 72; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr. 11 S. 33).

In Anwendung dieser rechtlichen Grundsätze hat die Klägerin - das ist zwischen den Beteiligten unumstritten - als Krankenschwester eine versicherte Tätigkeit ausgeübt. Zweifelsfrei erfüllt sie auch die so genannten arbeitstechnischen Voraussetzungen; dies ergibt sich aus der Beurteilung von Dipl.-Ing. K. vom 14. Dezember 2001. Der Senat lässt die Frage offen, ob bei der Klägerin eine bandscheibenbedingte Erkrankung im Sinne der BK 2108 gegeben ist - Professor Dr. C. hat dies auf Grund des nachgewiesenen Bandscheibenvorfalls im Segment L5/S1 und der beginnenden multisegmentalen Bandscheibendegenerationen in den übrigen Lendenbandscheiben bejaht, während der Sachverständige Dr. S. eine derartige Erkrankung im Hinblick auf von ihm nicht feststellbare klinische Befunde (lokal provozierbarer Schmerz auf Druck oder Bewegung, lokales Wirbelsäulenweichteilirritationssyndrom, lokalisierbare Bewegungssteife mit zuordenbarer Nervenirritation) verneint hat (vgl. hierzu auch Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 31. Mai 2005 - 2 U 12/04 R -). Selbst bei Bejahung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS und des Zwangs zur Aufgabe aller gefährdenden Tätigkeiten scheitert der geltend gemachte Anspruch daran, dass eine berufliche Verursachung nicht wahrscheinlich zu machen ist. Der Senat stützt seine Entscheidung auf die Gutachten von Prof. Dr. C. und Dr. S., die im Ergebnis übereinstimmend die röntgenologisch und kernspintomographisch gesicherten Veränderungen an der LWS als nicht beruflich verursacht beurteilt haben. Gegen eine berufliche Verursachung sprechen vor allem - worauf die Sachverständigen zutreffend hingewiesen haben - die von ihnen festgestellten massiven degenerativen Veränderungen der (durch den Beruf nicht belasteten) Hals- und Brustwirbelsäule, ferner die angeborene Blockwirbelbildung zwischen dem 4. und 5. Brustwirbelkörper, die BWS-/LWS-Skoliose 1. Grades sowie die mittelgradig ausgeprägte jugendliche Wirbelkörperaufbaustörung (Morbus Scheuermann), die als Konkurrenzursachen neben der beruflichen Belastung prädisponierend im Hinblick auf eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule sind. Auch der Umstand der fehlenden alters vorauseilenden degenerativen Veränderungen, auf den Prof. Dr. C. hingewiesen hat, sowie die weiteren von Dr. S. angesprochenen Punkte (erstmals 1969 aufgetretene Wirbelsäulenbeschwerden, fehlendes belastungstypisches Schadensbild) sind bei der Gesamtabwägung zu beachten. Wenn die Sachverständigen unter Berücksichtigung aller dieser Gesichtspunkte zu dem Ergebnis gekommen sind, die bandscheibenbedingte Lendenwirbelsäulenerkrankung sei weder im Sinne der Entstehung noch der Verschlimmerung auf die berufliche Belastung der Klägerin zurückzuführen, so überzeugt diese Beurteilung den Senat.

Zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen sah sich der Senat angesichts des geklärten medizinischen Sachverhalts und der übereinstimmenden Beurteilung der Sachverständigen nicht veranlasst; eine Begutachtung gem. § 109 SGG, von der die Klägerin in 1. Instanz ausdrücklich Abstand genommen hat, ist in 2. Instanz nicht beantragt worden.

Nach alledem ist die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruft auf § 193 SGG.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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