L 10 U 3960/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 9 U 3179/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 3960/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. August 2005 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Rente wegen der Folgen einer von der Beklagten als Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) anerkannten Lärmschwerhörigkeit.

Der am 1941 geborene Kläger absolvierte vom 28. Mai 1956 bis 11. August 1959 eine Schlosserlehre (Dauerschallpegel 92 dB (A)) und war vom 12. August 1959 bis zum 31. Juli 1960 als Stahlbauschlosser (Dauerschallpegel 100 dB (A)), vom 1. August 1960 bis 31. Juli 1971 bei verschiedenen Baufirmen als Maschinist und Vorarbeiter (Dauerschallpegel 88 dB (A)) sowie ab 4. Oktober 1971 als Wasserwerker bei der Firma D (Dauerschallpegel von 90 dB (A), ab 1. Januar 1992 87 dB (A)) beschäftigt. Erst seit 1976 wurde dort Gehörschutz verwendet. Seit 1. November 2002 ist der Kläger im Ruhestand. Wegen eines Menière-Syndroms und eines Hörsturzes links war der Kläger vom 31. August bis 25. September 1987 arbeitsunfähig krank und wurde im Marienhospital S. stationär behandelt.

Am 5. Juli 2002 zeigte Dr. B. , Werksarzt bei D , den Verdacht des Vorliegens einer Lärmschwerhörigkeit an. Oberarzt Dr. S , HNO-Universitätsklinik Ulm, bejahte in seinem Gutachten (Untersuchung am 25. April 2003) eine Berufskrankheit und schätzte die wesentlich durch Berufslärm verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 10 v. H. Er ging dabei davon aus, dass die Lärmbelastung nach 1992 nur noch 83 dB (A) betragen habe und stellte deswegen auf das zeitnächst davor erhobene Tonaudiogramm von 1988 ab; außerdem berücksichtigte er die Beeinträchtigung auf Grund des Hörsturzes 1987 als Vorschaden. Prof. Dr. T. , Beratungsarzt der Beklagten verwies auf mögliche, bislang unklare Lärmspitzen nach 1991 und schätzte die MdE demgegenüber auf 15 v. H. bzw. bei fehlender Exposition (Lärmspitzen) nach 1991 auf unter 10 v. H. Nachdem der Präventionsdienst der Beklagten die Lärmbelastung ab 1992 noch einmal überprüft und die bisherige Einschätzung (83 db (A)) korrigiert hatte (auf 87 dB (A)), anerkannte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Februar 2004 und Widerspruchsbescheid vom 21. April 2004 das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV, lehnte jedoch die Gewährung einer Rente ab, da die MdE lediglich 15 v. H. betrage.

Der Kläger hat am 21. Mai 2004 Klage bei dem Sozialgericht Stuttgart erhoben. Der HNO-Arzt Dr. K hat angegeben, es seien keine Unterlagen zu der Behandlung des Klägers wegen des Hörsturzes 1987 mehr vorhanden. Auf Anregung des Sozialgerichts hat die Beklagte eine weitere Stellungnahme bei Dr. S eingeholt, der - unter Berücksichtigung der ergänzenden Ermittlungen des Präventionsdienstes und des letzten Tonaudiogramms vor dem Ausscheiden des Klägers aus dem Berufsleben vom 24. Juni 2002 - nunmehr zu einer MdE um 20 v. H. gelangt ist. Die Beklagte hat sich dem nicht angeschlossen; Dr. S habe nicht berücksichtigt, dass der auf dem linken Ohr über das Ausmaß der Geringgradigkeit hinausgehende Hörverlust nicht ursächlich auf den beruflichen Lärm zurückzuführen sei.

Dr. B., niedergelassener HNO-Arzt in S., hat in seinem für das Gericht erstatteten Gutachten (Untersuchung am 30. November 2004) eine berufsbedingte MdE um 20 v. H. bejaht. Der Kläger hat anlässlich der gutachtlichen Untersuchung angegeben, der Hörsturz 1987 sei Folge eines Knalltraumas im Betrieb gewesen. Seitdem bestehe ein Ohrgeräusch, an das er sich aber gewöhnt habe.

Die Beklagte hat hierzu eine kritische Stellungnahme von Prof. Dr. T. (MdE um 10 v. H., höchstens 15 v. H) vorgelegt.

Mit Urteil vom 18. August 2005 hat das Sozialgericht die angefochtenen Bescheide unter Klageabweisung im Übrigen insoweit aufgehoben, als darin die Gewährung einer Verletztenrente abgelehnt worden ist und die Beklagte zur Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 20 v. H. ab 24. Juni 2002 verurteilt. Es hat sich dabei im Wesentlichen auf das Gutachten von Dr. B. gestützt.

Gegen das ihr am 12. September 2005 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 26. September 2005 Berufung eingelegt. Bei Zugrundelegung der von Dr. S erhobenen Befunde und Anwendung der Symmetrieregel ergebe sich keine rentenberechtigende MdE.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. August 2005 aufzuheben und die Klage insgesamt abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Dr. B. hat sich ergänzend zu den Einwendungen von Prof. Dr. T. und zu vom Senat beigezogenen Unterlagen des Marienhospitals S. zum Aufenthalt des Klägers dort im Jahr 1987 geäußert.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verletztenrente.

Das Sozialgericht hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils zutreffend die rechtlichen Grundlagen für die hier von dem Kläger beanspruchte Rente dargelegt (§§ 56, 9 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch, Nr. 2301 der Anlage zur BKV). Der Senat verweist hierauf.

Bei richtiger Bewertung folgt aus der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit jedoch keine rentenberechtigende MdE um 20 v.H.

Eine Lärmschwerhörigkeit schreitet nach Ende der Lärmeinwirkung nicht fort (Schönberger/Mertens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, S. 449; Hessisches LSG, Urteil vom 16. Juli 1997, L 3 U 933/95). Gegenüber der Untersuchung von Dr. B. mehr als zwei Jahre nach dem Ende der beruflichen Lärmexposition ist deshalb diejenige von Dr. S knapp sechs Monate nach Berufsaufgabe vorzugswürdig.

Für eine Gehörschädigung durch Lärm ist eine Lärmexposition von 90 dB (A), bei langjähriger Exposition oder außergewöhnlich großer individueller Gehörsensibilität von 85 dB (A) (Schönberger/Mertens/Valentin, a. a. O., S. 417 f) nötig. Eine solche langjährige Exposition bestand bis zum Ausscheiden des Klägers aus dem Berufsleben, also bis Oktober 2002. Schon von daher kann den (ersten) Schlussfolgerungen von Dr. S in seinem für die Beklagte erstatteten Gutachten nicht gefolgt werden, der - auf der Basis des damals noch unvollständigen Standes der Ermittlungen der Lärmbelastung - auf das von Dr. B. übermittelte Tonaudiogramm zur arbeitsmedizinischen Untersuchung vom 28. September 1988 abstellte.

Dem Zeitpunkt des Endes der Lärmexposition am nächsten kommt vielmehr die von Dr. B. übermittelten Messung anlässlich der arbeitsmedizinischen Untersuchung vom 24. Juni 2002. Da kein - für die Berechnung des Hörverlusts an sich vorzugswürdiges (Königsteiner Merkblatt, Empfehlungen des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften für die Begutachtung der beruflichen Lärmschwerhörigkeit, 4. Aufl. 1996, S. 21) - Sprachaudiogramm vorliegt, muss auf das Tonaudiogramm zurückgegriffen werden. Dieses ergab in der Knochenleitungskurve einen Tonhörverlust nach der Drei-Frequenz-Methode von rechts 30 dB bei 1 kHz, 50 dB bei 2 kHz und 50 dB bei 3 kHz sowie links von 45 dB bei 1 kHz, 50 dB bei 2 kHz und 50 dB bei 3 kHz. Nach der für die Berechnung des prozentualen Hörverlusts aus dem Tonaudiogramm angewandten Tabelle nach Röser 1980 (Königsteiner Merkblatt, S. 24; Feldmann, Das Gutachten des Hals-Nasen-Ohrenarztes, 5. Aufl. 2001, S. 100) errechnet sich daraus ein prozentualer Hörverlust von rechts 30 % und links 50 % (Stellungnahme Dr. S vom 30. August 2004). Damit ergibt sich nach der Tabelle von MdE-Feldmann (Königsteiner Merkblatt, S. 26; Feldmann, a.a.O., S. 101) eine MdE um 20 v. H. (Stellungnahme Dr. S vom 30. August 2004).

Anlässlich der Begutachtung durch Dr. S , knapp ein halbes Jahr nach Beendigung der berufslärmbelastenden Tätigkeit, ergab sich eine eher geringgradige Verschlechterung, die hier - zugunsten des Klägers - als noch berufsbedingt angesehen werden soll. Das Tonaudiogramm wies bei Dr. S in der Knochenleitungskurve Werte von rechts 35 dB bei 1 kHz, 55 dB bei 2 kHz und 50 dB bei 3 kHz sowie links von 50 dB bei 1 kHz, 60 dB bei 2 kHz und 55 dB bei 3 kHz. Dr. S erstellte jedoch auch ein - wie ausgeführt, vorrangig anzuwendendes - Sprachaudiogramm auf Grund dessen er eine MdE von 20 v.H. errechnete. Die Ergebnisse der MdE-Bewertung auf Grund des Tonaudiogramms vor Aufgabe der beruflichen Tätigkeit und des ersten Sprachaudiogramms nach Aufgabe der beruflichen Tätigkeit stimmen somit überein.

Berücksichtigung muss aber finden, dass der Hörverlust links deutlich höher ausfällt als rechts. Da sich eine Lärmschwerhörigkeit grundsätzlich symmetrisch entwickelt (zum Diskussionsstand s. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a. a. O., S. 425 f.; Feldmann, a.a.O., S. 173) und hier kein Ausnahmefall (z. B. einseitig wirkende Lärmquelle) erkennbar ist, spricht vieles dafür die überschießende Hörminderung links unberücksichtigt zu lassen, den auf dem rechten Ohr gemessenen Hörschaden also als berufsbedingt auch für das linke Ohr zu Grunde zu legen. Ein Hörverlust von 30 % beidseits, wie er sich dann aus den Messungen von Dr. S übereinstimmend mit denjenigen von Dr. B. ergibt, führt aber nur zu einer MdE um 15 v. H. (so zutreffend Dr. T. ).

Inwieweit das Ergebnis dieser Symmetrieregel abzuwandeln ist, wenn ein Vorschaden vorliegt, kann offen bleiben. Jeder Versicherte wird in seinem konkreten Gesundheitszustand geschützt, nicht nur, soweit er einem vollständig oder auch nur durchschnittlich Gesunden entspricht. Liegt vor Eintritt der Lärmschwerhörigkeit bereits eine Hörminderung als Vorschaden vor, müssen die Schädigungen durch die Lärmschwerhörigkeit höher bewertet werden, als wenn sie ein Gehör betroffen hätten, das noch unbeeinflusst war (BSG, Urteil vom 16. Mai 1984, 9b RU 18/82).

Die Lärmschwerhörigkeit hat sich, das zeigen die von Dr. B. übermittelten Tonaudiogramme, aber auch die im Marienhospital am 1. und am 9. September 1987 erstellten Audiogramme, von Anfang an stärker links als rechts entwickelt. Hierauf wies auch Prof. Dr. T. in seiner Stellungnahme zum Gutachten von Dr. S hin. Eine berufslärmunabhängige Mitursache muss also schon früh wirksam geworden sein. Ob diese Ursache in dem vom Kläger gegenüber Dr. B. angegebenen Knalltrauma im August 1987 zu sehen ist, welches der Berufskrankheit nicht zuzurechnen wäre (BSG, Urteil vom 12.4.2005, B 2 U 6/04 R, für SozR vorgesehen), ist zweifelhaft. Denn dies würde die stärkere Ausprägung des Hörverlusts links bereits in der Zeit davor - zuletzt auch im kurz vor dem angeblichen Hörsturz erstellten Tonaudiogramm vom 25. Juni 1987 dokumentiert - nicht erklären. Prof. Dr. T. hat in seiner kritischen Stellungnahme gegenüber dem Sozialgericht Zweifel geäußert, dass es nach dem vom Kläger geschilderten Hergang zu einem Knalltrauma kommen konnte. Unklar ist auch die Angabe "2 x Hörsturz (li.)" auf dem Tonaudiogramm vom 22. Februar 1999. Für die Annahme eines lärmbelastungsunabhängigen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 407) Morbus Menière, für die sich Prof. Dr. T. in seiner Stellungnahme gegenüber dem Sozialgericht im Gegensatz zu Dr. B. gegenüber dem Senat ausgesprochen hat, kann angeführt werden, dass der Kläger u. a. mit dieser Diagnose 1987 stationär behandelt wurde und arbeitsunfähig krank war.

Letztlich kann die Frage der genauen außerberuflichen Mitursache offen gelassen werden. Denn sie war jedenfalls vor dem Zeitpunkt des Versicherungsfalls manifest, ist damit als Vorschaden anzusehen. Allerdings ist der Vorschaden nicht vollumfänglich einzurechnen (BSG a. a. O.), wie dies Dr. S in seiner Stellungnahme gegenüber dem Sozialgericht getan hat. Er hebt die zu entschädigende MdE damit nicht auf ein Maß von 20 v. H., sondern muss darunter bleiben. Sowohl nach der Symmetrieregel (MdE 15 v. H.) wie unter Berücksichtigung des Vorschadens (weniger als 20 v. H.) ergibt sich somit keine rentenberechtigende MdE. Es braucht deshalb nicht geklärt zu werden, insoweit die Tabelle von Brusis/Mahrtens (Königsteiner Merkblatt, a. a. O., S. 30) Anwendung finden kann. Danach läge die MdE bei 10 v. H., also noch geringer als ohne Berücksichtigung des Vorschadens. Bedenken bestehen insoweit, als diese Tabelle möglicherweise nur einseitige Lärmschäden, nicht - wie hier vorliegend - beidseitige Lärmschäden mit einseitigem Vorschaden erfasst.

Nicht argumentiert werden kann, dass die auf berufslärmunabhängiger Ursache beruhende Hörstörung nicht sicher von der durch Berufslärm verursachten Lärmschwerhörigkeit abgrenzbar sei und sich parallel zu dieser entwickelt habe. In einem solchen Fall gelangt die Lehre von der wesentlichen Bedingung zur Anwendung (Königsteiner Merkblatt, S. 30; Felmann, a.a.O., S. 176). Hier war jedoch der Schaden links schon zu Beginn des berufslärmbedingten Schadens (bezogen auf das rechte Ohr) manifest und kann deswegen auch klar abgegrenzt werden.

Die Ohrgeräusche (vgl. Königsteiner Merkblatt, S. 31) sind nicht MdE-erhöhend zu berücksichtigen, denn der Kläger hat sich an die Ohrgeräusche nach den Angaben gegenüber Dr. B. gewöhnt.

Damit ist der Berufung der Beklagten stattzugeben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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