L 10 U 4639/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 2601/02
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 4639/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 16.07.2004 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung von Rente wegen der Folgen einer von der Beklagten als Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) anerkannten Lärmschwerhörigkeit.

Der am 1957 geborene Kläger arbeitete von September 1972 bis November 1989 als Maurer bei verschiedenen Firmen in der ehemaligen DDR (Beurteilungspegel um 86 dB(A) mit kurzzeitigen Schallpegelspitzen bis 100 dB(A)) und seither als Spezialfacharbeiter auf Baustellen der Firma W. (Beurteilungspegel zwischen 85 und 87 dB(A)). Seit Anfang der 1990er Jahre verwendet der Kläger Gehörschutz, nach seinen zwischenzeitlich konkretisierten Angaben aber nur zeitweise.

Mit Bescheid vom 19.02.1999 anerkannte die Beklagte das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Anlage zur BKV und als Folgen "knapp geringgradige Innenohr-Hochtonschwerhörigkeit beidseits sowie Tinnitus aurium", lehnte jedoch die Gewährung einer Rente ab, da die Erkrankung keine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zur Folge habe.

Mit Schreiben vom 19.02.2001 teilte der Kläger der Beklagten eine deutliche Hörverschlechterung mit.

Der HNO-Arzt Dr. J. führte im Gutachten vom 05.09.2001 zusammenfassend aus, unter lärmprophylaktischen Maßnahmen habe sich eine Progredienz der Hörverluste vollzogen. Es handle sich um eine jetzt als mittelgradig zu bezeichnende Innenohrschwerhörigkeit bei auffallend hohen Hörverlusten bereits im Bereich der tiefen Frequenzen von durchschnittlich 20 bis 30 dB, Verstärkung der Hörverluste im mittleren Frequenzbereich, aber auch Ausbildung einer lärmtypischen Senkenbildung im Bereich der hohen Frequenzen. Die Möglichkeit zur sicheren Abgrenzung einer lärmunabhängigen Komponente von der Lärmschädigung sei trotz der Tieftonschwerhörigkeit nicht möglich. Der Tinnitus aurium müsse ebenfalls als lärmbedingt eingestuft werden mit einer MdE von 5 v. H. Die MdE für den berufsbedingten Hörverlust betrage ab 31.08.2001 20 v. H.

Dr. N. wies in seiner Stellungnahme nach Aktenlage vom 26.01.2002 darauf hin, es sei zwar zwischen den Begutachtungen im Jahr 1998 und im Jahr 2001 eine starke Hörverschlechterung eingetreten, die jedoch einen Nachschaden darstelle, weil von 1998 bis 2001 wegen zuverlässig getragenen Gehörschutzes keine gehörschädigende Lärmbelastung mehr vorgelegen habe. Die MdE für die chronische Lärmschwerhörigkeit betrage nach wie vor 10 v. H. Die damals festgestellten gelegentlichen Ohrgeräusche erhöhten diese MdE nicht.

Mit Bescheid vom 17.05.2002 und Widerspruchsbescheid vom 10.09.2002 lehnte die Beklagte die Gewährung von Rente ab, weil eine MdE von wenigstens 20 v. H. nach wie vor nicht vorliege. Nicht als Folgen der Berufskrankheit würden anerkannt die über das Ausmaß einer knapp geringgradigen Innenohrhochtonschwerhörigkeit beidseits hinausgehenden Hörstörungen und insbesondere die nach 1998 eingetretene Hörverschlechterung.

Das hiergegen am 01.10.2002 angerufene Sozialgericht Heilbronn hat mit Urteil vom 16.07.2004 die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, an den Kläger eine Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von 20 v. H. der Vollrente zu gewähren. Es hat sich dabei im Wesentlichen auf das Gutachten von Dr. J. gestützt und ist im Übrigen davon ausgegangen, dass der Kläger Lärmschutzstöpsel in weit weniger großem Umfang trug als er ursprünglich angegeben hatte.

Gegen das am 28.09.2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 13.10.2004 Berufung eingelegt. Die von ihr eingeholte beratungsärztliche Stellungnahme von Prof. Dr. S., Oberärztin an der Klinik für HNO-Heilkunde am Klinikum der Universität M., habe ergeben, dass nicht die gesamte Schwerhörigkeit lärmbedingt sei, sondern ein nicht lärmbedingter Anteil abzugrenzen sei. Aus dem lärmbedingten Anteil der Schwerhörigkeit resultiere eine MdE von 10 v. H. Selbst bei Unterstellung, dass die gesamte Schwerhörigkeit durch Lärmeinwirkung verursacht worden sei, würde nur eine MdE von 15 v. H. vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 16.07.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat die Bescheinigung des HNO-Arztes Dr. S. vom 17.01.2005 vorgelegt, wonach der Hörverlust eine MdE von 15 v. H. bedinge. Unter Berücksichtigung des Tinnitus werde eine MdE von 20 v. H. erreicht.

Der Senat hat das Gutachten von Prof. Dr. H., Ärztlicher Direktor der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten am K., vom 06.09.2005 eingeholt. Er hat zusammenfassend ausgeführt, audiometrisch bestehe eine annähernd symmetrische Innenohrschwerhörigkeit, wobei die linke Seite etwas schlechter sei. Die überschwellige Audiometrie spreche mehrheitlich für eine cochleäre Störung. Der Hörverlust im Tieftonbereich sei untypisch für einen Lärmschaden. Entsprechend dem "Königsteiner Merkblatt" sei im Falle eines seitendifferenten Hörvermögens das besserhörende Ohr zur Bewertung heranzuziehen, hier also das rechte Ohr. Zur Ermittlung der MdE werde die Tabelle nach Lehnhardt herangezogen, da diese ausschließlich die Hochtonschwerhörigkeit berücksichtige. Nach dieser Tabelle ergebe sich eine MdE von 15 v. H. für den Lärmschaden. Hierbei sei berücksichtigt, dass der bereits 1998 vorliegende Tieftonverlust als nicht lärmbedingt anzusehen sei. Eine MdE für das nach Angaben des Klägers phasenweise bestehende Ohrgeräusch ergebe sich nicht.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß den §§ 143, 144, 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Verletztenrente.

Zwar ist beim Kläger eine Lärmschwerhörigkeit beidseits mit Tinnitus aurium als Berufskrankheit anerkannt. Eine rentenberechtigende MdE wird jedoch nicht erreicht.

Gemäß § 56 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, einen Anspruch auf Rente. Versicherungsfälle in diesem Sinne sind auch Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 SGB VII).

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Bei der Beurteilung einer Lärmschwerhörigkeit ist es gerichtliche Praxis und auch diejenige des Senats, bei der Beurteilung des Schweregrades der Lärmschwerhörigkeit und auch für die Berechnung der hierdurch bedingten MdE die im sogenannten "Königsteiner Merkblatt" - hier vom 01.01.1996 - entwickelten Grundsätze und Tabellen heranzuziehen, wie dies alle Gutachter und auch der behandelnde Facharzt für HNO-Heilkunde Dr. S. getan haben. Danach hat der Kläger keinen Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente, weil die MdE lediglich 15 v. H. beträgt.

Bei richtiger Bewertung folgt aus der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit somit keine rentenberechtigende MdE um 20 v. H. Hiervon ist der Senat aufgrund der Ausführungen von Prof. Dr. H. in dessen Gutachten vom 06.09.2005 und der Ausführungen von Prof. Dr. S. im Gutachten vom 03.12.2004 überzeugt. Danach besteht beim Kläger eine annähernd symmetrische Innenohrschwerhörigkeit, wobei die linke Seite etwas schlechter ist. Nach dem von Prof. Dr. H. erstellten Sprachaudiogramm ergab sich für die rechte Seite ein Sprachhörverlust von etwa 30 dB, für die linke Seite ebenfalls ein Sprachhörverlust von 30 dB. Nach Bönninghaus und Roeser ergab sich somit rechts ein Hörverlust von 30%, links von 40%. Unter Verwendung des gewichteten Gesamtwortverständnisses ergab sich ein Hörverlust von 30% rechts und 50% links. Im Falle eines seitendifferenten Hörvermögens ist - so Prof. Dr. H. - das besser hörende Ohr zur Bewertung heranzuziehen, hier also das rechte Ohr. Zur Ermittlung der MdE hat der Sachverständige die Tabelle nach Lehnhardt herangezogen, da diese ausschließlich die Hochtonschwerhörigkeit berücksichtigt und der beim Kläger im Tieftonbereich vorliegende Hörverlust untypisch für einen Lärmschaden ist. Der Hörverlust in den tiefen Frequenzen bis 1 kHz kann nicht in Zusammenhang mit der Lärmbelastung gebracht werden. Nach der Tabelle von Lehnhardt ergibt sich eine MdE von 15 v. H. für den Lärmschaden. Dasselbe Ergebnis ergibt sich unter Anwendung der im "Königsteiner Merkblatt" verwandten Tabelle von Feldmann (Merkblatt Tabelle 3 Seite 26), wie dies Dr. S. in dem vom Kläger vorgelegten Attest ausdrücklich bestätigt.

Eine Erhöhung der MdE aufgrund des lediglich phasenweise bestehenden Ohrgeräusches ist - so überzeugend Prof. Dr. H. - nicht gerechtfertigt. So war zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Prof. Dr. H. kein Ohrgeräusch vorhanden und es konnte vom Kläger auch kein Ohrgeräusch beschrieben werden. Auch bei der Begutachtung durch Dr. J. hat der Kläger angegeben, das Ohrgeräusch störe nur mäßig. Da das Ohrgeräusch den Tagesablauf nicht beeinflusst, kann es auf der Intensitätsskala nach Brusis dem Typ IV (von möglichen XII) zugeordnet werden, woraus sich keine MdE ableiten lässt. Dies übersieht Dr. S. in seinem Attest, wenn er dort eine MdE von 5 v. H. für den Tinnitus annimmt und zu der lärmbedingten MdE von 15 v. H. hinzuaddiert, was ohnehin Bedenken begegnet (s. hierzu Königsteiner Merkblatt S. 31).

Aus diesem Grund kann auch den Ausführungen von Dr. J. in seinem Gutachten vom 05.09.2001 kann nicht gefolgt werden. Trotz den von ihm gemessenen etwas höheren Hörverlusten im Sprachaudiogramm (beidseits 40 %) gelangte auch er nur unter Hinzunahme eines mit einer MdE von 5 v. H. bewerteten Tinnitus aurium zu der Gesamt-MdE von 20 v. H. Ohne eine MdE von 5 v. H. für den Tinnitus ergibt sich somit auch nach den Untersuchungsergebnissen und der Beurteilung von Dr. J. keine rentenberechtigende MdE.

Vor diesem Hintergrund kommt der Frage, inwieweit der Kläger tatsächlich Lärmschutz trug und - damit zusammenhängend - inwieweit er Lärm ausgesetzt war, keine entscheidungserhebliche Bedeutung zu.

Damit ist der Berufung der Beklagten stattzugeben und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
Saved