L 4 P 1765/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 11 P 2956/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 1765/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. April 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger erhebt Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegestufe II.

Der am 1927 geborene Kläger, der wegen des Bezugs einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei der Beklagten pflegeversichert ist, wurde durch einen im Juni 2001 erlittenen Herzinfarkt mit Nebenerscheinungen pflegebedürftig. Er leidet inzwischen u.a. an einem allgemeinen Altersabbau, einer inkompletten Blaseninkontinenz sowie einer Herzinsuffizienz. Seit 16. Mai 2003 ist ein Grad der Behinderung (GdB) und das Merkzeichen G festgestellt, seit 22. September 2005 ein GdB von 100 und die Merkzeichen G, B, H und aG. Die Pflege wurde zunächst von Ehefrau und Tochter gemeinsam, jetzt ganz überwiegend von der Tochter übernommen ... Des Weiteren erfolgt die Pflege durch einen ambulanten Pflegedienst, für den die Beklagte seit 01. Februar 2003 monatlich EUR 384,00 zahlt (Bescheid vom 23. Januar 2003).

Ein erster Antrag vom August 2001 führte nach dem Gutachten der Pflegefachkraft T. (Gutachten vom 15. Januar 2002), in dem ein Zeitaufwand für Grundpflege von täglich 53 Minuten und für Hauswirtschaft von täglich 60 Minuten ermittelt wurde, durch Bescheid vom 22. Januar 2002 zur Bewilligung von Pflegegeld nach Pflegestufe I. Im hiergegen eingeleiteten Widerspruchsverfahren nannte die Pflegefachkraft G. im Gutachten vom 11. Juni 2002 einen Zeitaufwand für Grundpflege von täglich 63 Minuten und für Hauswirtschaft von täglich 64 Minuten. Den daraufhin ergangenen zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 05. September 2002 griff der Kläger mit Klage zum Sozialgericht (SG) Karlsruhe (S 11 P 3396/02) an, die er Ende November 2002 wieder zurücknahm. Vom Kläger im Januar und März 2003 gestellte Anträge auf Höherstufung lehnte die Beklagte nach Erhebung der Gutachten der Pflegefachkräfte T. vom 07. Februar 2003 (Zeitaufwand Grundpflege 103 Minuten täglich; Zeitaufwand Hauswirtschaft 80 Minuten täglich) und Schnabel vom 06. Mai 2003 (Zeitaufwand Grundpflege 80 Minuten täglich; Zeitaufwand Hauswirtschaft 60 Minuten täglich) durch nicht angegriffene Bescheide vom 04. März 2003 und 15. Mai 2003 ab.

Ausgangspunkt dieses Verfahrens ist der am 03. Februar 2004 gestellte Antrag auf Höherstufung. Die Beklagte ließ den Kläger durch den Arzt Dr. B. besuchen, der im Gutachten vom 30. März 2004 einen täglichen Zeitaufwand für Grundpflege von 97 Minuten und für Hauswirtschaft von 60 Minuten nannte. Es erging daraufhin der ablehnende Bescheid vom 02. April 2004. Im Widerspruchsverfahren vermochte die Ärztin Dr. K. im Gutachten nach Aktenlage vom 06. Mai 2004 aufgrund der klägerischen Einwendungen keine neuen Erkenntnisse zu gewinnen. Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2004).

Mit der am 21. Juli 2004 erhobenen Klage zum SG Karlsruhe wurde für den Kläger im Wesentlichen geltend gemacht, die gleichaltrige Ehefrau und die berufstätige Tochter könnten die Pflege kaum mehr schaffen. Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG hörte den behandelnden Allgemeinarzt Dr. E. als sachverständigen Zeugen. Er hielt aufgrund des sich verschlechternden Zustandes das Ausmaß für Notwendigkeit von Hilfe in den bisherigen Gutachten für zu gering angesetzt (schriftliche Angaben vom 12. Dezember 2004). Das SG beauftragte die praktische Ärztin Dr. K. mit deren Gutachten vom 16. Februar 2005 (Untersuchung am Vortag). Die Sachverständige ermittelte einen täglichen Grundpflegebedarf mit maximal 83 Minuten, wobei auch Hilfeleistungen angerechnet seien, die tatsächlich nicht erbracht würden. Die Hauswirtschaft müsse vollständig übernommen werden, sodass die maximal vorgesehene Pauschale von 45 Minuten in Anrechnung gebracht werden. Der Gesamtpflegeaufwand liege bei 128 Minuten.

Durch Gerichtsbescheid vom 25. April 2005 wies das SG die Klage ab. Die Sachverständige Dr. K. habe den Zeitaufwand an Grundpflege unter Berücksichtigung der gesetzlichen Bestimmungen zutreffend ermittelt, wobei der für die Angehörigen sehr belastende Aufwand an allgemeiner Betreuung und Beaufsichtigung nicht mitgezählt werden dürfe. Auf die Frage der Kostendeckung komme es nicht an. Auf die Entscheidungsgründe wird im Übrigen Bezug genommen.

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Kläger am 02. Mai 2005 beim Landessozialgericht (LSG) Berufung eingelegt. Das Ergebnis des Gutachtens der Dr. K. sei nicht anzuerkennen. Es sei ständige Betreuung und Pflege notwendig. Er lehne die Körperpflege durch seine Tochter ab. Die Körperpflege verlange einen Zeitaufwand von über zwei Stunden. Der Vorrang der häuslichen Pflege vor der Unterbringung in einem Heim sei zu berücksichtigen. Die Rechnungen des ambulanten Pflegediensts könnten nicht bezahlt werden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 25. April 2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 02. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Juni 2004 zu verurteilen, ihm ab 01. Februar 2004 Pflegegeld nach Pflegestufe II zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verweist auf die Ergebnisse der Gutachten und hält ihre Entscheidungen weiterhin für zutreffend.

Der Senat hat das Gutachten der Diplom-Gerontologin R. vom 26. Juni 2006 (Hausbesuch am 17. Juni 2006 von 8.50 Uhr bis 10.15 Uhr) eingeholt. Die Sachverständige nennt einen Zeitaufwand im Bereich der Körperpflege von täglich 50 Minuten, im Bereich der Ernährung von fünf Minuten und im Bereich der Mobilität von 27 Minuten. In der Nacht bestehe kein regelmäßiger Hilfebedarf. Medikamente müssten für den Kläger gerichtet und verabreicht werden. Pflegeerschwerend sei das zeitweilige Abwehrverhalten des Klägers gegenüber Pflegepersonen. Bei den Verrichtungen werde ein erhöhter Zeitaufwand für die kleinschrittige Anleitung aufgrund der demenziellen Erkrankung jeweils zeitlich berücksichtigt. Auf Einwände des Klägers hat die Sachverständige sich unter dem 20. Juli 2006 ergänzend geäußert, der von ihr aufgezeigte Pflegebedarf beziehe sich auf die beobachteten Verrichtungen im Rahmen der Morgentoilette und des Frühstücks, die Antworten der Pflegepersonen sowie auf Rückschlüsse bezüglich der ausdrücklich beobachteten Pflegemaßnahmen.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der Pflegeakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Es besteht kein Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegestufe II.

Anspruchsgrundlage für das begehrte Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen ist § 37 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XI). Hiernach können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen (Abs. 1 Satz 1). Der Anspruch setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die vorrangige Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellt (vgl. Satz 2). Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XI sind für die Gewährung von Leistungen bei häuslicher Pflege pflegebedürftige Personen einer der drei Pflegestufe zuzuordnen. Pflegebedürftig nach Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) sind nach § 15 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Gemäß § 15 Abs. 3 SGB XI muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt 1. in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen, 2. in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen, 3. in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen.

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht fest, dass der Zeitaufwand für die Pflege des Klägers den für die Pflegestufe II geforderten Zeitaufwand für die Grundpflege von zwei Stunden (120 Minuten) nicht erreicht. Keiner der im Verfahren gehörten Gutachter und Sachverständigen (Antragsverfahren Dr. B. 30. März 2004, Klageverfahren Dr. K. 16. Februar 2005 und Berufungsverfahren Diplom-Gerontologin R. 26. Juni 2006) ist auch nur annähernd zu diesem Zeitaufwand für die Grundpflege gelangt. In jedem Fall ist der Kläger zu Hause besucht worden. Dass sich geringfügige Abweichungen in den Zeitangaben herausstellen, liegt in der Natur des Rechts der Pflegeversicherung, in welcher einerseits gesetzlich zeitlich genau umschriebene Leistungsvoraussetzungen aufgestellt werden, andererseits die betreffenden Feststellungen aber tatsächlich in großem Umfang nur mit erheblichen Unschärfen getroffen werden können, weil sie nicht auf exakten Messungen beruhen, sondern auf Schätzungen, die wiederum maßgeblich auf die Angabe der Pflegebedürftigen und der Pflegepersonen angewiesen sind (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 07. Juli 2005 - B 3 P 8/04 R - BSGE 95, 97ff. = SozR 4 1300 § 48 Nr. 6). Der von den Sachverständigen Dr. K. und Diplom-Gerontologin R. ermittelte Zeitaufwand für die Grundpflege weicht nur unwesentlich voneinander ab (83 bzw. 82 Minuten) und stimmt im Übrigen mit den Zeitkorridoren der auf der Ermächtigung des § 17 SGB XI beruhenden Begutachtungs-Richtlinien überein, die als Konkretisierung des Gesetzes zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen zu beachten sind (BSG, Urteil vom 19. Februar 1998 - B 3 P 7/97 R -). Die gerichtliche Sachverständige R. ist in ihrem Gutachten auch auf die Aspekte eingegangen, die eine erhebliche Belastung für die Pflege und Betreuung von Menschen mit einer demenziellen Erkrankung darstellen. Den von Dr. B. im Antragsverfahren ermittelten Zeitaufwand für die Grundpflege von 97 Minuten hat die Sachverständige R. schließlich überzeugend darauf zurückgeführt, dass seinerzeit Verrichtungen einbezogen wurden, die nach ihrer eingehenden Beobachtung nicht ohne Weiteres hätten berücksichtigt werden dürfen.

Auf der Grundlage ihrer Beobachtungen ist die Sachverständige R. im Gutachten vom 26. Juni 2006 überzeugend zu dem Ergebnis gelangt, dass der Bedarf im Bereich der Körperpflege täglich 50 Minuten, im Bereich der Ernährung fünf Minuten und im Bereich der Mobilität 27 Minuten erreicht. Dies sind insgesamt 82 Minuten. Die seitens des Klägers zuletzt noch vorgebrachten Einwendungen können nicht ausreichen, eine zum Erreichen der Pflegestufe II erforderliche Differenz von immerhin 38 Minuten für die Grundpflege zu begründen. Geringfügiger zusätzlicher Zeitaufwand etwa für Waschen und Rasieren kann diesen Umfang nicht erreichen. Die hauswirtschaftliche Versorgung, insbesondere das Einkaufen, zählt nicht zur Grundpflege. Ebenso wenig kann die allgemeine menschliche Zuwendung und regelmäßige Beaufsichtigung berücksichtigt werden.

Das Vorbringen des Klägers, die für die Pflege anfallenden Kosten, insbesondere die Kosten des ambulanten Pflegediensts, könnten nicht bezahlt werden, kann zu keiner anderen Beurteilung führen. Bereits das SG hat in dem angefochtenen Gerichtsbescheid zutreffend darauf hingewiesen, dass die soziale Pflegeversicherung darauf angelegt ist, nur einen Teil der Kosten zu erstatten.

Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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