L 10 R 4363/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 RA 3801/03
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 4363/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24.6.2004 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Form der Förderung einer Umschulung zur Physiotherapeutin.

Die am 1962 geborene Klägerin ist von Beruf Sozialarbeiterin und war in diesem Beruf bis zuletzt tätig. Im Gefolge einer Trennung vom Lebensgefährten, Problemen am Arbeitsplatz und einer Erkrankung an einem Mamma-Karzinom (Operation im Dezember 1999) mit nachfolgender Arbeitsunfähigkeit kam es zu psychischen Problemen, auf Grund derer sich die Klägerin zu einer weiteren Tätigkeit im bisherigen Beruf nicht mehr in der Lage sieht.

Auf ihren bei der Beklagten am 16.10.2001 gestellten Antrag auf Gewährung von Leistungen zur Rehabilitation holte die Beklagte ein Gutachten beim Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W. ein, der von einer Angststörung und einem depressiven Syndrom ausging und die letzte berufliche Tätigkeit als Sozialarbeiterin, allerdings an einem anderen Arbeitsplatz, für noch zumutbar hielt. Nachdem die Beklagte darauf gestützt mit Bescheid vom 13.8.2002 die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben abgelehnt hatte, führte sie während des Widerspruchsverfahrens im November 2002 eine medizinische Rehabilitation der Klägerin durch. Im Entlassungsbericht der Klinik A. wird die letzte berufliche Tätigkeit als angstbesetzt und deshalb nicht mehr zumutbar erachtet. Die von der Klägerin schon damals angestrebte Umschulung zur Physiotherapeutin wurde als sinnvoll, aber auch andere Tätigkeiten als denkbar bezeichnet. Mit Bescheid vom 5.2.2003 gab die Beklagte dem Widerspruch statt, bejahte einen Anspruch auf Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und bot der Klägerin Gespräche zur Auswahl der angezeigten Leistung an.

Im Rahmen der nachfolgenden Beratungsgespräche zeigte sich eine Fixierung der Klägerin auf eine Umschulung zur Physiotherapeutin, die vom beratenden Arzt K. jedoch als nicht leidensgerecht angesehen wurde, unter anderem weil die psycho-physische Belastbarkeit der Klägerin reduziert sei und die Anforderungen des Umschulungsberufes an die soziale Kompetenz ähnlich hoch seien wie bei der Tätigkeit als Sozialarbeiterin. Mit Bescheid vom 9.4.2003 und Widerspruchsbescheid vom 17.11.2003 lehnte die Beklagte deshalb die begehrte Umschulung ab, erklärte sich aber bereit, andere geeignete Leistungen zu prüfen.

Das am 16.12.2003 angerufene Sozialgericht Reutlingen verurteilte die Beklagte mit Urteil vom 24.6.2004, die Kosten für eine Umschulung zur Physiotherapeutin zu übernehmen.

Gegen das ihr am 6.9.2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27.9.2004 Berufung eingelegt. Sie hält den angestrebten Umschulungsberuf nach wie vor nicht für leidensgerecht und rügt insbesondere, dass eine Ermessensreduzierung auf Null nicht vorliege.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24.6.2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte eine Maßnahme zur Abklärung der beruflichen Eignung der Klägerin mit Arbeitserprobung beim Berufsförderungswerk E. durchgeführt. Nach dem Ergebnisbericht des Diplompsychologen F: könne eine Befürwortung des Berufswunsches der Klägerin vertreten werden. Aber auch für eine Ausbildung auf kaufmännischem oder verwaltendem Gebiet sei die Klägerin geeignet, allerdings lehne sie dies strikt ab. Zur weiteren Feststellung der Beurteilung im Einzelnen wird auf den Ergebnisbericht Bezug genommen. Im Rahmen dieser Maßnahme hat Dr. W. vom medizinischen Dienst des Berufsförderungswerkes E. eine Beurteilung abgegeben, wonach die gewünschte Ausbildung zur Physiotherapeutin prinzipiell leidensgerecht sei, jedoch ärztlicherseits wegen der erhöhten Stressbelastung Bedenken bestünden, sodass nur eine bedingte Eignung ausgesprochen werden könne. Zur Feststellung im Einzelnen wird auf den Bericht von Dr. W. verwiesen.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten, über die der Senat auf Grund des Einverständnisses der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und begründet. Das Sozialgericht hätte die Klage abweisen müssen.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) erbringt die Rentenversicherung medizinische Leistungen zur Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben sowie ergänzende Leistungen, um den Auswirkungen einer Krankheit oder körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. Die Leistungen zur Teilhabe haben Vorrang vor Rentenleistungen, die bei erfolgreicher Rehabilitation nicht oder voraussichtlich zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Die Leistungen können erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind (§ 9 Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Für die Leistungen zur Teilhabe haben Versicherte die persönlichen Voraussetzungen erfüllt, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung erheblich gefährdet oder gemindert ist (Nr. 1) und (Nr. 2) bei denen voraussichtlich a) bei erheblicher Gefährdung der Erwerbsfähigkeit eine Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben abgewendet werden kann, b) bei geminderter Erwerbsfähigkeit diese durch Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben wesentlich gebessert oder wiederhergestellt oder hierdurch deren wesentliche Verschlechterung abgewendet werden kann, oder c) bei teilweiser Erwerbsminderung ohne Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Erwerbsfähigkeit der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben erhalten werden kann (§ 10 Abs. 1 SGB VI).

Nach § 13 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bestimmt der Träger der Rentenversicherung im Einzelfall unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung dieser Leistungen sowie die Rehabilitationseinrichtung nach pflichtgemäßem Ermessen. Nach § 16 SGB VI i.V.m. § 33 Abs. 4 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sind bei der Auswahl der Leistungen Eignung, Neigung, bisherige Tätigkeit sowie Lage und Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt angemessen zu berücksichtigen

Der Beklagten ist nicht nur bei der Auswahl einer Maßnahme, sondern auch bezüglich der Frage, ob Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gewährt werden, ein Ermessen eingeräumt. Dies ergibt sich aus der Formulierung von § 9 Abs. 2 SGB VI, wonach die Leistungen erbracht werden "können", wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Dabei ist die unter den persönlichen Voraussetzungen geforderte "Voraussicht" (§ 10 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI) Tatbestandsvoraussetzung und damit dem Ermessensbereich vorgeschaltet (ebenso die Rechtsprechung des BSG zu inhaltsgleichen früheren Regelungen der Reichsversicherungsordnung, BSG SozR 2200 § 1236 Nr. 31 und ausdrücklich Urteil vom 30.10.1985, 4a RJ 9/84). Denn aus § 9 Abs. 2 SGB VI ist eindeutig zu entnehmen, dass Ermessen erst auszuüben ist, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen vorliegen. Die Beklagte bejahte mit dem bestandskräftig gewordenen Bescheid vom 5.2.2003 dem Grunde nach die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Damit steht zwischen den Beteiligten bestandskräftig fest, dass die Klägerin die persönlichen Voraussetzungen nach § 10 SGB VI erfüllt.

Allerdings lehnte die Beklagte in nicht zu beanstandender Weise unter Ausübung von Ermessen die Förderung der in Rede stehenden Umschulung ab.

Nach § 39 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) besteht auf die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens ein Anspruch (Satz 2), wobei die Sozialleistungsträger ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung auszuüben und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einzuhalten haben (Satz 1). Nur hierauf bezieht sich die gerichtliche Kontrolle. Der Senat prüft deshalb nur, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten und ob von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (§ 54 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Im vorliegenden Fall begehrt die Klägerin ausschließlich eine Verpflichtung der Beklagten zur Förderung der Umschulung zur Physiotherapeutin. Damit macht die Klägerin geltend, dass die Beklagte ihr Ermessen nur in einer Weise rechtmäßig hätte ausüben können - in Form einer Förderung dieser Umschulung - und jede andere Entscheidung rechtswidrig gewesen wäre (so genannte Ermessensreduzierung auf Null). Dem folgt der Senat nicht.

Wie sich aus dem Bericht des Diplompsychologen F: vom Berufsförderungswerk E. ergibt, kann zwar eine Eignung der Klägerin - allerdings unter Zurückstellung von Bedenken - aus seiner Sicht für die Tätigkeit einer Physiotherapeutin bejaht werden. Zu einem ähnlichen Ergebnis - nur bedingte Eignung - ist Dr. W. vom medizinischen Dienst des Berufsförderungswerkes gelangt. Legt man diese, gegenüber dem Gutachten von Dr. W. und dem Beratungsarzt K. der Klägerin günstigere Beurteilung zu Grunde, kann zwar nicht von einer fehlenden Eignung der Klägerin ausgegangen werden. Allerdings folgt aus diesen Beurteilungen auch, dass es andere Berufsfelder gibt, für die die Klägerin ebenso oder besser geeignet ist. Die Auswahl unter den in Betracht kommenden Möglichkeiten von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben obliegt jedoch nach den oben dargestellten rechtlichen Regelungen der Beklagten, nicht der Klägerin. Ihre Wünsche fließen zwar insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Neigung in die Entscheidung ein, sind aber nicht allein ausschlaggebend. Dementsprechend kommen im vorliegenden Fall mehrere Möglichkeiten von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben in Betracht. Von einer Ermessensreduzierung auf Null kann - wie die Beklagte völlig zu Recht darlegt - keine Rede sein.

Es bedarf deshalb keiner weiteren Erörterung, ob für die Entscheidung des Senats die Beurteilungen des Berufsförderungswerkes E. im vorliegenden Fall überhaupt maßgebend sind oder ob nicht auf die früheren Beurteilungsgrundlagen, die im Zeitpunkt der (Ermessens) Entscheidung der Beklagten vorlagen, abzustellen ist. Immerhin weisen die Ergebnisberichte auf eine Verbesserung des seelischen Zustandes der Klägerin durch die in der Vergangenheit erfolgten therapeutischen Maßnahmen, also eine Veränderung des psychischen Zustandes der Klägerin seit dem Widerspruchsbescheid hin. Es bedarf auch keiner weiteren Prüfung, ob die Klägerin - bejaht man eine Eignung für eine Tätigkeit als Physiotherapeutin - nicht auch weiterhin als Sozialarbeiterin tätig sein kann, sofern bestimmte qualitative Einschränkungen beachtet werden (in diesem Sinne jedenfalls der beratende Arzt K. ).

Auf die Berufung der Beklagten ist deshalb das angefochtene Urteil aufzuheben und die - ausschließlich auf die Verurteilung der Beklagten zur Förderung der Umschulung zur Physiotherapeutin gerichtete - Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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