L 3 SB 2475/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SB 1760/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 2475/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Beklagten und die Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. Januar 2006 abgeändert. Der Bescheid des Beklagten vom 9. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2004 wird insoweit aufgehoben, als darin eine Herabsetzung des GdB von 80 auf 60 und die Aberkennung des Merkzeichens "H" bereits für die Zeit vor dem 10. November 2003 vorgenommen wurde. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die weitergehende Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.

Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Zuerkennung der Merkzeichen "G, B" sowie über die Herabstufung des Grades der Behinderung (GdB) von 80 auf 60 und die Aberkennung des Merkzeichens "H" wegen wesentlicher Änderung (Besserung) im Wege der Neufeststellung nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X).

Bei dem am 10.3.1995 geborenen Kläger stellte der Beklagte auf Antrag vom 13.2.2002 mit Bescheid vom 24.5.2002 einen GdB von 80 und das Merkzeichen "H" seit dem Datum der Antragstellung fest. Abgelehnt wurden die Merkzeichen "G, B, aG, Bl, Gl und RF". Zu Grunde lag die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 7.5.2002 mit der Feststellung "Anfallsleiden" als Funktionsbeeinträchtigung.

Hiergegen wurde am 29.5.2002 Widerspruch erhoben und die Zuerkennung des Merkzeichens "B" begehrt. Mit am 20.6.2002 beim Beklagten eingegangenem Schreiben vom selben Tag wurde ferner die Feststellung des GdB bereits ab dem Geburtsjahr 1995 geltend gemacht.

Ein auf die Zuerkennung des Merkzeichens "B" gerichteter Neufeststellungsantrag wurde am 3.2.2003 gestellt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 8.7.2003 wurde der auf die Zuerkennung des Merkzeichens "B" gerichtete Widerspruch zurückgewiesen. Ein Rechtsmittel gegen diesen Widerspruchsbescheid wurde nicht eingelegt.

Mit Ergänzungsbescheid vom 9.7.2003 stellte der Beklagte fest, dass der GdB für die Zeit vom 10.3.1995 bis zum 12.2.2002 80 betrage. Für die Zeit ab dem 13.2.2002 seien die mit Bescheid vom 24.5.2002 getroffenen Feststellungen maßgebend (zur näheren Feststellung der Einzelheiten wird auf Blatt 63/64 der Schwerbehindertenakte Bezug genommen).

Auf der Grundlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 6.5.2003 mit der Feststellung einer Besserung des EEG-Befundes und dem entsprechenden Ausschleichen der antiepileptischen Therapie ab August 2002 bei den Funktionsbeeinträchtigungen "Anfallsleiden, Sprachentwicklungsstörung" und einem GdB von nur noch 60 ohne Merkzeichen "H" ab dem 1.8.2002 hörte der Beklagte den Kläger mit Anhörungsschreiben vom 9.7.2003 hinsichtlich der beabsichtigten Aberkennung des Merkzeichens "H" und der Herabstufung des GdB von 80 auf 60 an.

Sodann hob der Beklagte mit Bescheid vom 9.9.2003 den Bescheid vom 24.5.2002 gem. § 48 SGB X auf und stellte mit Wirkung ab dem 13.9.2003 lediglich noch einen GdB von 60 ohne Merkzeichen "H" fest. Ein Zugang dieses Bescheides beim Kläger ist nach dessen Angaben frühestens für den 27.10.2003 belegt. Tatsächlich ist der Bescheid mit Schreiben vom 6.11.2003, abgesandt am 7.11.2003, erneut bekannt gegeben worden (Blatt 71, 74/75 und 83 der Schwerbehindertenakte). Der hiergegen am 18.11.2003 erhobene, aber nicht näher begründete Widerspruch wurde mit am 11.3.2004 zur Post aufgegebenem Widerspruchsbescheid vom 10.3.2004 zurückgewiesen.

Dagegen hat der Kläger am 13.4.2004 beim Verwaltungsgericht Sigmaringen Klage erhoben, welche mit Beschluss vom 10.5.2004 an das Sozialgericht Reutlingen (SG) verwiesen worden ist. Zusätzlich ist die Zuerkennung des Merkzeichens "B" begehrt worden.

Das SG hat den Beklagten aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24.1.2006 durch Urteil vom selben Tag unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 9.9.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.3.2004 verurteilt, das Vorliegen des Merkzeichens "B" ab dem 13.9.2003 festzustellen und dem Kläger ein Viertel der außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Auf die Entscheidungsgründe wird Bezug genommen.

Gegen das dem Beklagten am 26.4.2006 zugestellte Urteil hat dieser am 12.5.2006 Berufung eingelegt, der Kläger gegen das ihm am selben Tag zugestellte Urteil am 17.7.2006.

Der Beklagte ist der Auffassung, dass die Zuerkennung des Merkzeichens "B" mit Bescheid vom 24.5.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.7.2003 - mangels eines dagegen eingelegten Rechtsmittels - bestandskräftig abgelehnt worden sei. Insoweit sei die zum SG erhobene Klage unzulässig gewesen. Im Übrigen lägen auch die materiell-rechtlichen Voraussetzungen dieses Merkzeichens nicht vor.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des neurologischen Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. L. vom 8.11.2006. Erhoben worden sind eine symptomatische Epilepsie mit komplex-fokalen und sekundär generalisierten tonisch-klonischen Anfällen bei Zustand nach Plexusblutung und Sinusvenenthrombose im Neugeborenenalter. Der GdB betrage 60. Bei nunmehr letztem Anfall vor sechs Jahren und zumindest vierjährigem Verlauf ohne epileptische Ereignisse und epileptische Medikation bestünden keine Funktionsbeeinträchtigungen im Rahmen der täglichen Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz. Es sei keine dauernde fremde Hilfe im Sinne einer Überwachung oder Anleitung im Vergleich zu Gleichaltrigen erforderlich. Es bestehe Übereinstimmung mit der versorgungsärztlichen Einschätzung. Maßgeblich sei allerdings nicht die Besserung des EEG-Befundes sondern einerseits trotz ausschleichender antiepileptischer Therapie das fehlende Auftreten von erneuten epileptischen Anfällen und andererseits die Eingruppierung des Probanden in die Regelschule. Insoweit könne von einer Verbesserung der epileptischen Anfallshäufigkeit ausgegangen werden. Der jetzige Zustand bestehe seit 2003.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. Januar 2006 abzuändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen, ferner im Wege der Anschlussberufung, das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 24. Januar 2006 abzuändern, den Bescheid des Beklagten vom 9. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. März 2004 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, auch das Merkzeichen "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Anschlussberufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Rentenakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist begründet. Die Anschlussberufung des Klägers ist das Merkzeichen "G" betreffend unzulässig und im Übrigen überwiegend unbegründet. Hierüber entscheidet der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).

Das SG hat die Beklagte schon deshalb zu Unrecht unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 9.9.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.3.2004 zur Feststellung des Merkzeichens "B" verurteilt, weil hinsichtlich der Ablehnung der Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "B" ausschließlich durch Bescheid vom 24.5.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.7.2003 entschieden wurde. Gegen letzteren Widerspruchsbescheid wurde kein Rechtsmittel eingelegt, so dass insoweit Bestandskraft eingetreten ist und die auf Zuerkennung des Merkzeichens "B" gerichtete Klage unzulässig war. Die Klage war insoweit aber auch unbegründet, als mit der Bestandskraft der Bescheide vom 24.5.2002 und 8.7.2003 zwischen den Beteiligten materiell-rechtlich feststand, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "B" nicht gegeben sind. Daraus folgt im Ergebnis, dass das SG die Beklagte nicht zur Zuerkennung des Merkzeichens "B" hätte verurteilen dürfen. Bereits aus diesen Gründen ist auf die Berufung des Beklagten das angegriffene Urteil insoweit abzuändern und die auf die Verurteilung zur Feststellung des Merkzeichens "B" gerichtete Klage abzuweisen.

Soweit der Kläger mit seiner Berufung die Zuerkennung des Merkzeichens "G" begehrt, ist seine Berufung unzulässig, weil diesbezüglich keine Entscheidung des SG vorliegt, er also nicht beschwert ist. Soweit der Kläger mit seiner Berufung die Zuerkennung des Merkzeichens "B" begehrt, ist dies als Berufungserwiderung zu sehen, da das SG das Merkzeichen - allerdings zu Unrecht - zuerkannt hat.

Alleiniger Streitgegenstand der Anschlussberufung ist somit die Herabstufung des GdB von 80 auf 60 und die Aberkennung des Merkzeichens "H" wegen einer wesentlichen Änderung (Besserung). Der dies regelnde Bescheid vom 9.9.2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.3.2004 ist lediglich insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger nur insoweit in seinen Rechten, als die Aufhebung bereits für die Zeit ab dem 13.9.2003 erfolgt ist, obwohl nach Lage des Sachverhalts der Aufhebungsbescheid erst am 10.11.2003, d.h. am dritten Tag nach seiner - aktenmäßig belegten - Aufgabe zur Post, als bekannt gegeben gelten kann (vgl. § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X).

Maßgeblicher Vorbescheid ist allein der Bescheid vom 24.5.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8.7.2003. Maßgebliches Vorgutachten ist die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 7.5.2002.

Der Bescheid vom 9.7.2003 trifft hinsichtlich des hier streitigen Zeitraums bzw. für die Zeit ab dem 13.2.2002 ausdrücklich keine neue Feststellung hinsichtlich GdB und Merkzeichen "H".

Wegen der für die Feststellung des GdB sowie des Merkzeichens "H" erforderlichen Voraussetzungen und der hierfür maßgebenden Rechtsvorschriften sowie bezüglich der Aufhebungsvoraussetzungen des § 48 SGB X nimmt der Senat auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung und die Begründung der streitgegenständlichen Bescheide Bezug und sieht deshalb insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 136 Abs. 3 und § 153 Abs. 2 SGG).

Beim Kläger ist seit August 2002 (mindestens aber seit September 2003) von einer wesentlichen Besserung des Gesundheitszustandes auszugehen, der seit diesem Zeitpunkt lediglich noch einen GdB von 60 ohne das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens "H" rechtfertigt. Der Beklagte war daher grundsätzlich zur teilweisen Aufhebung des maßgeblichen Vorbescheides berechtigt.

Der Senat stützt seine diesbezügliche Überzeugung in erster Linie auf das Sachverständigengutachten von Prof. Dr. L ... Die von diesem vorgenommene Beurteilung ist nach den erhobenen Befunden, bei kritischer Würdigung und der gebotenen Anlegung eines strengen Maßstabes für den Senat schlüssig und nachvollziehbar, weshalb er ihr folgt.

Danach erlitt der Kläger während des Geburtsvorgangs eine Sinusvenenthrombose sowie eine Plexusblutung, in deren Folge zunächst perinatal sowie des weiteren 1999 zweimalig und zuletzt im Jahr 2000 komplex-fokale Anfälle mit sekundär generalisierten tonisch-klonischer Phase abgelaufen sind. Von 1999 bis 2002 wurde in diesem Rahmen eine antiepileptische Therapie durchgeführt und bis August 2002 bestand auch eine leichte Sprachentwicklungsstörung. Zum Zeitpunkt der Begutachtung befand sich der Kläger allerdings in der 5. Klasse der Hauptschule und war in der Lage, dem Unterricht regelhaft zu folgen. Während der Untersuchung war auch eine wesentliche Sprachentwicklungsstörung nicht mehr festzustellen. Die motorischen Fähigkeiten waren regelrecht und die Freizeitaktivitäten des Klägers (u. a. Fahrradfahren, Fußball spielen, Schwimmen) wurden vom Sachverständigen als durchaus im Rahmen einer normalen Entwicklung liegend und damit als ungestört beschrieben. Damit wird eine wesentliche Besserung der gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers hinreichend dokumentiert, wobei nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens davon auszugehen ist, dass diese Besserung vermutlich schon ab dem Monat August 2002 anzunehmen ist, weil ab diesem Zeitpunkt die antiepileptische Medikation ausgeschlichen werden konnte, ohne dass es in der Folge wieder zu epileptischen Anfällen gekommen ist. Jedenfalls ist eine wesentliche Änderung - dies hat auch der Sachverständige ausdrücklich so gesehen - mit dem 13.9.2003 anzunehmen.

Zu Recht hat der Beklagte vorliegend lediglich die Voraussetzungen für eine Aufhebung für die Zukunft nach § 48 SGB X bejaht. Allerdings beginnt die Zukunft im Sinne dieser Regelung mit dem Tag der Zustellung des Aufhebungsbescheides (von Wulffen, Kommentar zum SGB X, Rdnr. 19 zu § 48 m. w. N.). Rechtmäßig ist die Aufhebungsentscheidung des Beklagten daher erst für die Zeit ab dem 10.11.2003, weil frühestens für diesen Zeitpunkt eine Zustellung des Aufhebungsbescheides vom 9.9.2003 fingiert werden kann (s. oben S. 6/7).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Der Senat ist der Auffassung, dass das geringfügige Obsiegen des Klägers bezüglich des Aufhebungszeitpunkts keine Kostenerstattungspflicht des Beklagten auslöst.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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