L 2 U 5615/04

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 10 U 787/95
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 U 5615/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. September 1998 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin ist die Tochter des am 24.09.2001 verstorbenen Versicherten I. B. (B), mit dem sie zuletzt in häuslicher Gemeinschaft gelebt hat; sie begehrt als Sonderrechtsnachfolgerin des B die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) nach den Nrn. 1303 (Erkrankungen durch Benzol, seine Homologe oder Styrol) und/oder 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) der Anlage 1 bzw. der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV).

Der im September 1934 geborene B arbeitete von 1950 bis 1968 im Heimatland J. bei verschiedenen Arbeitgebern im Bereich Autoreparatur und Metallverarbeitung. Von 1969 bis Oktober 1992 war er bei der P. L. GmbH & Co. KG, einer Spezialfabrik für Nähmaschinentische, in der Spritzlackiererei beschäftigt, wo er Kontakt zu Nitrolacken, Verdünnung und Reinigungsmitteln hatte. Ab 23.04.1991 war er arbeitsunfähig krank und bezog ab April 1992 Erwerbsunfähigkeitsrente. Seit 22.05.1991 waren beim Kläger ein Grad der Behinderung von 80 und das Merkzeichen G festgestellt.

Am 22.05.1992 erstattete der Arbeitgeber Anzeige über eine BK wegen Gefühlsstörungen in den Füßen. Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen bei und befragte die behandelnden Ärzte. Im Bericht des Krankenhauses R., Fachklinik für Psychiatrie und Neurologie, vom 13.06.1991 und im Entlassungsbericht der W.klinik Bad D. vom 05.05.1992 wurde bei B eine seit über 10 Jahren bestehende Polyneuropathie (PNP) unklarer - eventuell beruflich toxischer - Ätiologie diagnostiziert. Dr. Schuler berichtete am 05.06.1992 von einer äthyltoxischen PNP, während Dr. S. (Bericht vom 11.6.1992) die Arbeit mit Nitrolacken als mögliche Ursache der Beschwerden sah. Das von der AOK A. vorgelegte Vorerkrankungsverzeichnis ist für die Zeit vor 1981 unleserlich. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) ermittelte zu den Belastungen am Arbeitsplatz durch Befragung des Unternehmers und des B (der Arbeitsplatz des B existierte nicht mehr, der Betriebsmeister war verstorben, Luftmessungen und Vorsorgeuntersuchungen waren nicht durchgeführt worden). Dipl.- Ing. S. ging in seiner Stellungnahme vom 04.12.1992 basierend auf den Angaben des B bei einem Lackier-Arbeitszeitanteil von 70 vH von einer langfristigen Exposition hauptsächlich gegenüber verschiedenen Lacken sowie geringer gegenüber Nitroverdünnung und Reinigungsmitteln aus. Als organische Lösungsmittel mit nachgewiesenen oder vermuteten chronisch-toxischen Wirkungen waren in dem überwiegend verwendeten Cellulose-Kunstharzkombilack, der Nitroverdünnung und dem Reinigungsmittel für Resopal Xylol, Toluol, Spezialbenzin 80/110 und Lösungsmittelgemische enthalten gewesen. Auf Anraten des Beratungsarztes Prof. Dr. Dr. M./Neurologe veranlasste die Beklagte eine Begutachtung bei Prof. Dr. W., Bürgerhospital Stuttgart, der in seinem Gutachten vom 08.06.1993 nach elektromyografischer und -neurografischer Untersuchung eine ausgeprägte beinbetonte demyelinisierende und axonale sensomotorische PNP feststellte. Prof. Dr. T. bestätigte diese Diagnose in seinem arbeitsmedizinischen Gutachten vom 26.10.1993 und schloss eine toxische Enzephalopathie als Ausdruck der Schädigung des Zentralnervensystems (ZNS) aus. Wegen fehlender Untersuchungen am Arbeitsplatz ging Prof. Dr. T. anhand von arbeitsmedizinischen Erfahrungs- und Messwerten bei Spritzlackierern und den anamnestischen Angaben des B mit zeitweisen Symptomen einer leichten Lösungsmittel-Intoxikation davon aus, dass zumindest zeitweise eine erhöhte, nicht tolerierbare Exposition gegenüber verschiedenen Lösungsmittelgemischen vorgelegen habe. Als verursachender Arbeitsstoff für eine PNP komme n-Hexan, das im Spezialbenzin enthalten sei, bei entsprechend hoher Konzentration in Betracht, die bei Spritzlackierern in der Regel aber nicht vorläge. Bei abwägender Betrachtungsweise liege bei B keine durch den Umgang mit n-Hexan oder anderen organischen Lösungsmitteln verursachte oder verschlimmerte alkoholtoxische PNP und damit keine BK nach Nr. 1303 bzw. wie eine BK zu entschädigende Erkrankung gem. § 551 Abs. 2 RVO vor. Staatlicher Gewerbearzt Dr. J. schloss sich dieser Beurteilung an (Stellungnahme vom 08.12.1993). Mit den Bescheiden vom 27.01.1994 lehnte die Beklagte die Gewährung von Entschädigungsleistungen ab. Hinsichtlich der PNP liege weder eine der in der Anlage 1 der BKV genannten Erkrankungen noch eine nach § 551 Abs. 2 RVO wie eine Berufskrankheit zu entschädigende Erkrankung vor; in Bezug auf ein pränarkotisches Syndrom liege trotz möglichen Kontakts zu n-Hexan keine Erkrankung vor, nachdem Schwindel und Trunkenheitsgefühl nach Expositionsende vollständig abgeklungen seien. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 24.10.1994 im Widerspruchsverfahren wertete Prof. Dr. T. die PNP als alkoholbedingt. Die neurotoxische Wirkung von Lacken und Lösungsmitteln für das periphere Nervensystem (PNS) sei vergleichsweise gering und manifeste Krankheitsbilder im Sinne einer PNP in der Regel unüblich. Eine Ausnahme bilde die Exposition gegenüber n-Hexan in hoher Konzentration, die aber beim Kläger nicht nachgewiesen sei. Nach einer Studie Ende der 80-er Jahre sei n-Hexan bei Spritzlackierern nur in Spuren nachgewiesen worden. Eine Mitverursachung sei nur "möglich", nach dem Wissenstand aber nicht hinreichend wahrscheinlich.

Weitere Ermittlungen beim Hersteller des Spezialbenzins 80/110 ergaben einen n-Hexangehalt von garantiert unter 5% und durchschnittlich 2% (Auskunft Fa. K. Schmierstoffe vom 03.01.1995). Die Widersprüche wurden mit den Widerspruchsbescheiden vom 28.03.1995 zurückgewiesen.

Gegen beide Bescheide hat der Kläger am 28.04. bzw. 02.05.1995 Klagen zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben, die durch Beschluss vom 12.06.1995 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden worden sind. Das SG hat Dr. S. als sachverständigen Zeugen befragt und ein Gutachten gem. § 109 SGG bei Prof. Dr. A., Universität Ulm, eingeholt. Dr. S. berichtete am 04.03.1997 von einem erkennbaren Rückgang der Beschwerden seit der Arbeitsaufgabe. Prof. Dr. Aschoff hat die festgestellte überwiegend sensible, nur noch marginal auch motorische, distal-symmetrische Neuropathie, die gegenüber den Vorjahren deutlich gebessert sei, auf die mehr als zehnjährige Tätigkeit mit n-hexanhaltigen Lösungsmitteln zurückgeführt und des Vorliegen einer BK bejaht. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) hat er von 1990 bis 1995 mit 30 vH und ab 1996 mit 20 vH eingeschätzt. Die Beklagte ist dem mit der Stellungnahme von Prof. Dr. T. vom 24. 09.1997 entgegen getreten, in der dieser darauf verwiesen hat, dass n-Hexan kein Listenstoff, eine toxisch relevante Exposition nicht nachgewiesen sei, der Kläger nicht zu einer nachgewiesenermaßen gefährdeten Berufsgruppe gehört habe und die zu erwartende Rückbildung nach Expositionsende nicht nachgewiesen sei. Prof. Dr. A. "gab sich geschlagen", hat aber an seiner Beurteilung festgehalten (Stellungnahme vom 05. 11.1997). Daraufhin hat das SG ein arbeitsmedizinisches Gutachten bei Prof. Dr. K., Universität M., eingeholt. Dieser hat in seinem Gutachten vom 30.03.1998 festgestellt, dass zwar eine regelmäßige und langfristige Exposition gegenüber organischen Lösungsmitteln feststehe, aber eine krankmachende Expositionshöhe der neurotoxischen Wirkstoffe n-Hexan oder Toluol nicht nachgewiesen sei. Selbst bei fahrlässiger Arbeitsweise sei diese bei solchen Arbeitsplätzen nicht gegebenen. Es handele sich zwar um eine typische toxische PNP, die auch durch organische Lösungsmittel hervorgerufen werden könne, der Krankheitsverlauf spreche jedoch gegen eine berufliche Verursachung, da nach dem Expositionsende nicht die vollständige Rückbildung nach spätestens drei Jahren, sondern eine objektive Verschlechterung eingetreten sei. Die Anerkennung einer BK oder "Quasi-BK" komme nicht in Betracht. Gestützt auf die ablehnenden Gutachten hat das SG mit Urteil vom 30.09.1998 die Klage (richtig: Klagen) abgewiesen.

Gegen das am 27.10.1998 zugestellte Urteil hat B am 26.11.1998 Berufung eingelegt (L 2 U 4269/98). Im Gegensatz zu Prof. Dr. T. habe Prof. Dr. K. zu Unrecht die haftungsbegründende Kausalität verneint, da die toxische Konzentration in den 80er Jahren höher gewesen sei. Entgegen der Ansicht des SG könne auch die Ursache der PNP nicht offen bleiben, ein Alkoholabusus habe nicht vorgelegen. Prof. Dr. A. habe belegt, dass sich die PNP nach Ende der beruflichen Exposition gebessert habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. September 1998 sowie die Bescheide vom 27. Januar 1994 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 28. März 1995 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin als Rechtsnachfolgerin des verstorbenen Versicherten Ivan Babic unter Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 1303 und/oder 1317 der Anlage 1 bzw. Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung, hilfsweise nach § 551 Abs. 2 Reichsversicherungsordnung eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 vom Hundert zu gewähren.

Der Bevollmächtigte der Beklagten beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise eine nochmalige arbeitsmedizinische Beurteilung nach Aktenlage zu dem Beweisthema, ob hinsichtlich der grenzwertüberschreitenden Toluol-Exposition die Verursachung einer Polyneuropathie hinreichend wahrscheinlich war.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Der Senat hat das Vorerkrankungsverzeichnis der AOK A.-E. beigezogen, ebenso die Schwerbehindertenakte und die Rentenakte (Gutachtenheft vernichtet). Prof. Dr. K. ist mit seiner weiteren Stellungnahme vom 14.04.1999 den Einwendungen des B entgegengetreten. Die erneut befragte Firma K. hat einen n-Hexangehalt für Spezialbenzin 80/110 vor 1994 nicht mehr mitzuteilen vermocht. Von den nochmals zur Veränderung der PNP als sachverständige Zeugen befragten behandelnden Ärzte hat nur Dr. S. Angaben machen können und von einer - vor allem subjektiven - Besserung berichtet (Auskunft vom 27.06.2000). Der Senat hat ein weiteres nervenärztliches Gutachten bei Prof. Dr. von B., R., eingeholt. In seinem Gutachten vom 06.02.2001 ist dieser auf Grund seiner klinischen und elektrophysiologischen Untersuchungen von einer Befundbesserung der noch bestehenden PNP ausgegangen (Wegfall der Paresen und Ataxie, keine Tiefensensibilitätsstörung, Verbesserung der Nervenleitgeschwindigkeit, somato-sensible Tibialispotentiale ansatzweise jetzt erkennbar), die aber erst nach der Untersuchung durch Prof. Dr. K. (1998) eingetreten sei.

Nach dem Tod des B wurde der Rechtsstreit durch Beschluss vom 14.02.2002 ausgesetzt und am 13.12.2004 von der Klägerin fortgeführt (L 2 U 5615/04). Die Beklagte hat im Hinblick auf die Neufassung des Merkblatts zur BK Nr. 1317 die berufliche Arbeitsstoffexposition erneut überprüft und hierzu die Bewertung von Dr. rer. nat. H. vom 23.08.2005 vorgelegt, in der er nach Aktenlage zu dem Ergebnis gekommen ist, dass im Zeitraum von 1969 bis 1991 eine Exposition im Sinne der BK 1317 durch Grenzwertüberschreitung für Toluol, nicht aber für Xylol, n-Hexan und n-Heptan vorgelegen habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die statthafte (§ 143, § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) sowie frist- und formgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat - als Sonderrechtsnachfolgerin im Sinne des § 56 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I ) - gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Feststellung (und Entschädigung) einer BK.

Streitgegenstand sind die Bescheide der Beklagten vom 27.01.1994 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 28 03.1995, mit denen die Beklagte im Hinblick auf die geltend gemachten Gesundheitsstörungen "pränarkotisches Syndrom" und "PNP" die Feststellung (und Entschädigung) sowohl einer BK nach § 551 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO; BK Nr. 1303 der Anlage 1 zur BKV) als auch nach § 551 Abs. 2 RVO (Quasi-BK) abgelehnt hat. Soweit im Hinblick auf die geltend gemachte PNP erstmals im Berufungsverfahren die Feststellung einer BK nach Nr. 1317 (eingeführt durch die BKV vom 31.10.1997, in Kraft ab 1. Dezember 1997) begehrt wird, lässt der Senat offen, ob es sich insoweit um eine zulässige Klageänderung (§ 99 SGG) handelt und ob hierfür die Prozessvoraussetzungen, insbesondere das Vorverfahren (§ 78 SGG), gegeben sind, weil dieses Begehren aus materiell-rechtlichen Gründen - siehe dazu unten - keinen Erfolg haben kann.

Auf den zutreffend im Wege der Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4 SGG) i.V.m. der Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) geltend gemachten Anspruch finden die bis 31.12.1996 geltenden Vorschriften der RVO Anwendung, da der Versicherungsfall vor dem 01.01.1997 eingetreten und über die Gewährung von Verletztenrente auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des SGB VII zu entscheiden ist; ferner ist die bis 30. November 1997 geltende BKVO vom 20.06.1968 (BGBl I S. 721) i. d. F. der Verordnung zur Änderung der BKVO vom 22.03.1988 (BGBl I S. 400) sowie die ab 01.12.1997 geltende BKV vom 31.10.1997 zu beachten.

Nach der Vorschrift des § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalls nach Maßgabe der ihr folgenden Bestimmungen Leistungen, insbesondere bei Vorliegen einer MdE um wenigstens ein Fünftel (20 vH) Verletztenrente in der dem Grad der Erwerbsminderung entsprechenden Höhe (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Als Arbeitsunfall gilt nach § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO auch eine BK. BKen sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Dazu zählen nach Nr. 1303 der Anlage 1 zur BKVO (in der oben genannten Fassung vom 22.03.1988) "Erkrankungen durch Benzol und seine Homologe" ("Styrol" ist als Listenstoff erst durch die 2. Verordnung zur Änderung der BKV vom 18.12.1992 (in Kraft seit 01.01.1993) in Nr. 1303 aufgenommen worden) sowie nach Nr. 1317 der Anlage zur BKV "Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische".

Voraussetzung für die Anerkennung einer BK ist, dass die anspruchsbegründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigenden Einwirkungen sowie die Erkrankung, derentwegen Entschädigung begehrt wird, nachgewiesen sind. Es muss ein so hoher Grad an Wahrscheinlichkeit vorliegen, dass alle Umstände des Einzelfalls nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung hiervon zu begründen (BSGE 61, 127, 128). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (BSGE 61, 127, 129). Dies bedeutet, dass nach sachgerechter Abwägung aller medizinischen Gesichtspunkte des Einzelfalls auf Grund der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist (BSGE 60, 58, 59).

Zwischen den Beteiligten ist unumstritten, dass B von 1969 bis 1991 als Spritzlackierer eine versicherte Tätigkeit ausgeübt hat und dabei Umgang mit organischen Lösungsmitteln hatte. Im Einzelnen war er - wie sich aus der Aufstellung des Dr. Hammel vom 23./24.08.2005 ergibt - exponiert gegenüber n-Hexan, n-Heptan, Toluol und Xylol; bei den beiden letztgenannten Stoffen handelt es sich um Listenstoffe der BK 1303, während n-Hexan und n-Heptan Listenstoffe der BK 1317 darstellen. Damit ist eine schädigende Exposition im Hinblick auf die geltend gemachten BKen - unabhängig von deren Ausmaß - dem Grunde nach zu bejahen. Auch die vom Kläger als Gesundheitsstörung geltend gemachte PNP ist - wie die aktenkundigen ärztlichen Äußerungen zeigen - nachgewiesen. Anders verhält es sich jedoch mit dem "pränarkotischen Syndrom"; insoweit liegt bereits keine Gesundheitsstörung vor, weil die mit diesem Syndrom einhergehenden Schwindel- und Trunkenheitsgefühle nach Beendigung der Exposition vollständig abklingen. Die Anerkennung der PNP als BK nach 1303 scheitert jedoch daran, dass ein rechtlich wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen ihr und der schädigenden Exposition nicht wahrscheinlich zu machen ist. Der Senat stützt seine Entscheidung im Wesentlichen auf das Gutachten und die Stellungnahmen von Prof. Dr. T ... Dieser hat in seiner Stellungnahme vom 24.09.1997 zunächst zutreffend darauf hingewiesen, dass es sich bei n-Hexan entgegen der Auffassung der Beklagten im Bescheid vom 27.01.1994 nicht um einen Listenstoff (vgl. Schönberger-Mehrtens-Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl., S.331) handelt (jedenfalls bis zur Einführung der BK Nr. 1317 ab 01.12.1997). Dagegen sind Toluol und Xylol als Homologe von Benzol von der Listen-Nr. 1303 erfasst (vgl. auch Mehrtens-Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, M 1303 I., S.1). Prof. Dr. T. hat in seinem Gutachten ausgeführt, dass bei B eine Erkrankung des peripheren Nervensystems (PNS; beinbetonte demyelinisierende und axonale PNP) vorgelegen hat. Auf Grund seiner Untersuchungen hat er eine Erkrankung des ZNS (im Sinne einer Enzephalopathie mit den von B geklagten Kopfschmerzen und Schwindelgefühlen) ausgeschlossen. Toluol wirkt als Zielorgan - so auch Dr. H. und die Angaben in Schönberger/Mehrtens/Valentin (aaO S. 330) - auf das ZNS, dass bei B nach den Ausführungen von Prof. Dr. T. gerade nicht geschädigt war. Die Toxizität von Toluol ist dementsprechend auch von keinem Gutachter als Ursache der PNP diskutiert worden. Im Merkblatt zu BK Nr. 4 der Anlage 1 zur BKVO vom 24.02.1964 ist PNP als Krankheitsbild der BK nach Nr. 1303 nicht erwähnt. Lediglich für Styrol, dem B aber zu keiner Zeit ausgesetzt war, wurde als Zielorgan das PNS und eine PNP an den unteren Extremitäten in der "Ergänzung zum Merkblatt Nr. 1303 Anlage 1 BeKV zu Erkrankungen zu Styrol" benannt (vgl. Mehrtens/Brandenburg, aaO, M 1303 S. 3). Neben diesem Gesichtspunkt sprechen aber auch weitere - von Prof. Dr. T. und Prof. Dr. K. genannte - Gesichtspunkte gegen einen wahrscheinlichen ursächlichen Zusammenhang. Da ist zunächst der vom Kläger betriebene Alkoholmissbrauch zu diskutieren; diesbezüglich variieren die Angaben des Klägers stark: so hat er gegenüber Dr. B. im Oktober 1986 angegeben, seit 2 Jahren keinen Alkohol mehr zu trinken, dagegen hat er im Reha-Verfahren 1992 geäußert, bis vor zwei Jahren - das wäre 1990 gewesen - 4 bis 5 Flaschen Bier pro Tag getrunken zu haben; inhaltlich vergleichbare Angaben hat er bei der Begutachtung im Bürgerhospital 1993 gemacht. Ein Alkoholmissbrauch bis 1990 und damit zumindest eine Mit-Verursachung der PNP durch Alkohol kann jedenfalls - wie es Prof. Dr. von B. getan hat - bei diesen Angaben nicht ausgeschlossen werden. Darüber hinaus ist bei der Abwägung zu berücksichtigen, dass generell die Pathogenese von PNP-Erkrankungen in 10 bis 20% aller Fälle unklar ist und ferner auch der Verlauf der Erkrankung beim Kläger gegen eine berufsbedingte Verursachung spricht. Eine Besserung der objektiven Befunde ist erst im Gutachten von Prof. Dr. von B. auf Grund der Untersuchung im Februar 2001, also etwa 10 Jahre nach Berufsaufgabe, dokumentiert. Zwar hat auch Dr. S. eine deutliche Besserung der Beschwerden in den Jahren 1993/94 angegeben, dies jedoch nicht mit objektiven Befunden belegt. Vergleicht man dagegen die von den Sachverständigen Prof. Dres. W. und A. mitgeteilten Untersuchungsergebnisse kann eine wesentliche Besserung der objektiven Befunde nicht festgestellt werden, worauf Prof. Dr. K. in seiner Stellungnahme vom April 1999 zutreffend hingewiesen hat. Schlussendlich ist vorliegend zu berücksichtigen, dass das Ausmaß der Exposition des Klägers nicht mit Sicherheit festzustellen war und nach Darlegung des Dr. H. lediglich für Toluol von einer Überschreitung des Grenzwertes auszugehen ist, was hier aber nicht für eine berufliche Verursachung spricht, weil - wie oben dargelegt - nach bisheriger Kenntnis Toluol keine Schädigung des PNS hervorruft. Das Gutachten von Prof. Dr. A. überzeugt hinsichtlich der Kausalitätsbeurteilung ebenso wenig wie das von Prof. Dr. von B ... Ersteres hat der von Prof. Dr. T. zutreffend geäußerten Kritik nicht standhalten können, was Prof. Dr. A. dadurch zum Ausdruck gebracht hat, er gebe "sich geschlagen". Prof. Dr. von B. hat mit dem Hinweis, er sei kein Arbeitsmediziner, keine dezidierte Stellungnahme zu der Frage, ob die Voraussetzungen für die Feststellung einer BK nach Nr. 1303 vorlägen, abgeben können, sodass für den Senat nicht nachvollziehbar ist, wie er dennoch "mit großer Wahrscheinlichkeit" einen ursächlichen Zusammenhang bejahen konnte. Eine Anerkennung der PNP als BK nach Nr. 1303 ist somit nicht zu begründen.

Soweit B gegenüber einem Lösungsmittelgemisch (Toluol und n-Hexan) exponiert war, ist dies allein im Rahmen der BK 1317 zu prüfen. Das folgt für den Senat aus der wissenschaftlichen Begründung (Bek. des BMA v. 24.06.1994, BArbBl. 9/1996, 44; abgedruckt in Mehrtens/Brandeburg, aaO, M 1317, S. 7), weil nur dort n-Hexan (= organisches Lösungsmittel) als Listenstoff aufgeführt ist und diese BK ausdrücklich auch deren Gemische erfasst.

Auch eine Anerkennung der PNP als BK nach Nr. 1317 kommt nicht in Betracht. Zwar können nach dieser Listen-Nr. PNP oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische als BK festgestellt werden; n-Hexan ist als aliphatischer Kohlenwasserstoff auch als Listenstoff erfasst (vgl. Mehrtens/Perlebach aaO M 1317, I., S. 1). Die BK ist jedoch erst durch die Bekanntmachung des BMA (vom 01.12.1997, BArbBl 1997, Heft 12, S. 31) mit Wirkung ab 01.12.1997 in die Liste der BKen aufgenommen worden. Die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs. 1 BKV steht aber einer Anwendbarkeit im vorliegenden Fall entgegen. Danach ist u. a. eine Krankheit nach Nr. 1317, an der ein Versicherter am 01.12.1997 leidet, auf Antrag als BK anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31.12.1992 eingetreten ist. Diese Voraussetzung liegt hier nicht vor, da die Diagnose PNP seit 1982 (s. Vorerkrankungsregister der AOK A.) gesichert ist und damit der Versicherungsfall vor dem Stichtag eingetreten war (vgl. zur Verfassungsmäßigkeit der Stichtagsregelung BVerfG, 9. Oktober 2000, VB 1/2001 = HV-Info 2, 2001, 123).

Schließlich kommt auch eine Anerkennung als "Quasi-BK" gem. § 551 Abs. 2 RVO nicht in Betracht. Danach sollen die Unfallversicherungsträger im Einzelfall eine Krankheit, die nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder bei der die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine BK entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sind. Mit dieser Regelung wird dem Umstand Rechnung getragen, dass fortschreitende medizinische Erkenntnisse laufend neue Aufschlüssen über ursächliche Zusammenhänge zwischen Arbeit und Erkrankungen, gefährdete Gruppen usw. bringen können, der Erlass einer Rechtsverordnung mit neuen BK hiermit jedoch nicht immer Schritt halten kann. Es handelt sich damit um einen auf Krankheiten einzelner Versicherter beschränkten Vorgriff auf die Listenaufnahme. Die Vorschrift dient mithin nicht dazu, bei fehlender Verordnungsreife eine nachweislich im Einzelfall durch die versicherte Tätigkeit verursachte Krankheit zu entschädigen, etwa zum Ausgleich einer individuellen Härte (BSGE 59, 59 ff). Im Einzelfall muss eine gruppentypische Risikoerhöhung vorliegen, die nur dann bejaht werden kann, wenn hinreichende Feststellungen in Form medizinischer Erkenntnisse dafür getroffen wären, dass die Personengruppe, zu der der Versicherte zählt, durch die Arbeit Einwirkungen ausgesetzt wäre, mit denen die übrige Bevölkerung nicht in diesem Maße in Kontakt käme und die geeignet wäre, die beklagte Krankheit hervorzurufen. Ob die Krankheit innerhalb der Personengruppe im Rahmen der versicherten Tätigkeit häufiger auftritt als bei der übrigen Bevölkerung, erfordert den Nachweis einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und eine langfristige zeitliche Überwachung derartiger Krankheitsbilder, um dann daraus schließen zu können, dass die Ursache für die Krankheit in einem schädigenden Arbeitsleben liegt (BSG vom 4.6.2002, Az.B 2U 20/01R). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Eine gruppentypische Risikoerhöhung ist angesichts der von Prof. Dr. T. zitierten Spritzlackierer-Studie nicht belegt.

Die Berufung der Klägerin ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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