L 4 R 2676/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 5 RA 1326/01
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 2676/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 01. Juli 2004 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem der Kläger eine höhere Erwerbsunfähigkeitsrente zusteht.

Der 1956 geborene Kläger studierte von September 1981 bis Februar 1986 an einer Fachhochschule und legte die Diplomprüfung in der Fachrichtung Mathematik ab. Vom Januar 1991 bis April 1991 war er als Programmierer beschäftigt. Danach war er arbeitslos und bezog Arbeitslosengeld bzw. Arbeitslosenhilfe bis Juni 1999. Gegen eine Herabbemessung der Arbeitslosenhilfe ab 22. Juli 1992 gerichtete Rechtsmittel des Klägers blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 24. November 1994 - S 3 Ar 355/93 -; Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Dezember 1997 - L 3 Ar 1532/95 -). Ab 29. Juni 1999 erhielt er Krankengeld von der Techniker Krankenkasse bis zur Aussteuerung am 06. November 2000.

Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich Beklagte) lehnte einen Antrag des Klägers vom 26. Januar 2000 auf medizinische Leistungen zur Rehabilitation mit Bescheid vom 10. Juli 2000 ab. Der Kläger leide an einer an bipolaren Psychose und einer Polytoxicomanie. Angezeigt sei eine stationäre Krankenhausbehandlung. Am 23. März 2000 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen über stationäre Behandlungen des Klägers vom 05. August 1999 bis 19. September 1999 in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Krankenhaus W. und vom 20. Mai 1999 bis 15. Juli 1999 im Zentrum für Psychiatrie We. bei und veranlasste die Erstellung eines Gutachtens. Dr. H. kam in seinem Gutachten vom 11. Oktober 2000 zu dem Ergebnis, es sei derzeit von einem aufgehobenen Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszugehen. Diese Leistungseinschränkung bestehe seit etwa September 1999 mit dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Krankenversicherung. Mit Rentenbescheid vom 26. Oktober 2000 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 01. November 1999 in Höhe von 645,66 DM und einem monatlichen Zahlbetrag ab 01. Dezember 2000 von 597,56 DM. Die Beklagte ging von einem Antrag des Klägers auf Leistungen zur Rehabilitation vom 18. November 1999 aus und sah die Anspruchsvoraussetzungen ab dem 20. Mai 1999 als erfüllt an.

Mit Schreiben vom 23. November 2000 legte der Kläger Widerspruch ein. Er sei mit der Höhe der Erwerbsunfähigkeitsrente nicht einverstanden. Die Zurechnungszeit betrage nur 161 Monate. Die Zurechnungszeit ende nach den Berechnungen der Beklagten bei einem Alter von 56 Jahren. Sie müsse bis zum 65. Lebensalter reichen. Auch die Anrechnungszeiten seien nachzuprüfen.

Mit Schreiben vom 08. Januar 2001 wies die Beklagte den Kläger darauf hin, dass Zurechnungszeit die Zeit sei, die bei einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit hinzugerechnet werde, wenn der Versicherte das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Die Zurechnungszeit beginne mit dem Eintritt der für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit und ende mit dem Zeitpunkt, der sich ergebe, wenn die Zeit bis zum vollendeten 55. Lebensjahr in vollem Umfang und die darüber hinausgehende Zeit bis zum vollendeten 60. Lebensjahr zu einem Drittel hinzugerechnet werde. Der Eintritt der Erwerbsminderung und somit Beginn der Zurechnungszeit sei der 20. Mai 1999 gewesen. Die Vollendung des 55. Lebensjahres trete am 28. Februar 2011 ein. Zuzüglich sei ein Drittel der Zeit vom 01. März 2011 bis 28. Februar 2016 (60 Monate/3 = 20 Monate), also die Zeit vom 01. März 2011 bis 31. Oktober 2012 zu berücksichtigen. Diese Zurechnungszeit sei zutreffend berücksichtigt. Die Rentenberechnung entspreche den gesetzlichen Vorschriften.

Mit Widerspruchsbescheid vom 09. Mai 2001 wies die Widerspruchsstelle der Beklagten den Widerspruch zurück. Die rentenrechtlich erheblichen Zeiten seien zutreffend berücksichtigt und berechnet worden. Nach den Rücklauf des Einschreibens gab die Beklagte den Widerspruchsbescheid als Einschreiben erneut am 12. Juni 2001 zur Post.

Der Kläger erhob am 10. Juli 2001 Klage beim Sozialgericht Konstanz. Er sei mit den berücksichtigten Anrechnungszeiten und Zurechnungszeiten nicht einverstanden. Mit Schreiben vom 17. November 1992 habe das Arbeitsamt R. die Arbeitslosenhilfe ab 22. Juli 1992 um ca. 50 Prozent gekürzt. Dadurch sei die Höhe der Anrechnungszeiten und Zurechnungszeiten verändert worden. Es müsse gegen den damaligen Widerspruchsbescheid des Arbeitsamtes Ravensburg vom 18. März 1993 ein Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet werden. Die damalige Kürzungen es sei nicht aus Gründen, die in seiner Person oder seinen Verhältnissen lägen, sondern allein aus krankheitsbedingten Gründen erfolgt. Er beantrage die Einholung zweier ärztlicher Gutachten zu seinem damaligen Gesundheitszustand. Er habe gegen den Bescheid des Arbeitsamtes auch Klage beim Sozialgericht Konstanz erhoben.

Die Beklagte hat dem entgegengehalten, alle nachgewiesenen und glaubhaft gemachten Beitrags- und Anrechnungszeiten seien berücksichtigt worden. Eine Rehabilitationsakte existieren nur für eine durchgeführte Maßnahme vom 11. Juli 1994 bis 15. Juli 1994. Die Umdeutung des Rehabilitationsantrag sei auf Grund des § 116 Abs. 2 Nr. 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) erfolgt. Die Rehabilitationsakte sei vermutlich schon vernichtet worden, da keine Daten mehr in der Archivablage dokumentiert seien.

Die Terminsladung zur mündlichen Verhandlung am 01. Juli 2004 übersandte die Geschäftsstelle des Sozialgerichts am 03. Juni 2004 an die damals bekannte Anschrift F. per Einschreiben. Die Terminsladung kam mit dem Vermerk "Lagerfrist abgelaufen" am 21. Juni 2004 zurück. Die Vorsitzende veranlasste die erneute Ladung mit einfachem Brief.

An der mündlichen Verhandlung vom 01. Juli 2004 nahm der Kläger nicht teil. Der Beklagtenvertreter erklärte, der Kläger habe mit Schreiben vom 09. November 2003 als Anschrift die in F. mitgeteilt. Das Sozialgericht wies die Klage ab (Urteil vom 01. Juli 2004). Die Beklagte habe die Rentenhöhe richtig berechnet. Die Zurechnungszeit sei entsprechend den gesetzlichen Maßgaben zutreffend berechnet worden. Die Anrechnungszeiten seien auf der Grundlage des Versicherungsverlaufs ebenfalls zutreffend berechnet worden. Die vom Kläger genannten Verfahren über die Höhe der Arbeitslosenhilfe seien rechtskräftig entschieden.

Nachdem das Urteil dem Kläger nicht zugestellt werden konnte, ergab eine Anfrage des Sozialgerichts beim Einwohnermeldeamt der Stadt F. am M. am 28. April 2005, dass der Kläger in der S. gemeldet war und eine Nebenwohnung in I. im A. unterhielt. Unter der Anschrift in F. veranlasste das Sozialgericht ab 17. Mai 2005 die Zustellung.

Gegen das ihm unter der neuen Anschrift am 24. Mai 2005 zugestellte Urteil richtet sich die am 17. Juni 2005 eingelegte Berufung. Der Kläger macht geltend, er sei über den Termin zur Hauptverhandlung nicht informiert worden, da sich seine Anschrift geändert habe und dies dem Gericht nicht bekannt gewesen sei. Im Übrigen bezieht er sich auf seinen Vortrag im sozialgerichtlichen Verfahren.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 01. Juli 2004 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 09. Mai 2001 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab 01. November 1999 höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu bezahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des Sozialgerichts und die Akten des Senats sowie die beigezogenen Akten des Sozialgerichts Konstanz S 3 Ar 355/93 und S 3 AL 1025/98 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg L 3 Ar 1532/95, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige, form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2000 in der Gestalt des Widerspruchbescheids vom 09. Mai 2001 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf eine höhere Erwerbsunfähigkeitsrente.

1. Zwar hat das Sozialgericht den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör nach § 62 SGG verletzt, weil es die mündliche Verhandlung am 01. Juli 2004 durchgeführt und in der Sache entschieden hat, ohne dass dem Kläger die Ladung zum Termin bekannt gegeben war. Die Ladung mit eingeschriebenen Brief vom 03. Juni 2004 hat den Kläger ausweislich des Postrücklaufs nicht erreicht. Durch die erneute Übersendung der Ladung mit einfachem Brief vom 21. Juni 2004 wurde ebenfalls keine Bekanntgabe des Termin entsprechend § 63 Abs. 1 Satz 2 SGG bewerkstelligt, weil der Kläger - wie sich aus den eingeholten Auskünften der Einwohnermeldeämter ergibt - zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der der H. L., sondern in der S. wohnte. Dies hätte sich dem Sozialgericht auf Grund der Angaben des Beklagtenvertreters in der der mündlichen Verhandlung auch aufdrängen müssen.

Der Rechtsstreit ist gleichwohl nicht an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG steht die Entscheidung, ob die Sache bei wesentlichen Mängeln des sozialgerichtlichen Verfahrens an das Sozialgericht zurückverwiesen wird, im Ermessen des Landessozialgerichts. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das berufungsgerichtliche Ermessen auch bei Verfahrensfehlern des Sozialgerichts von erheblichem Gewicht nicht eingeschränkt ist. Bei der Ausübung des Ermessens kommt prozessökonomischen Gesichtspunkten eine erhebliche Bedeutung zu. Im Zweifel ist die Entscheidung des Berufungsgerichts, den Rechtsstreit selbst zu entscheiden, im Interesse einer zügigen Erledigung des Verfahrens vorzugswürdig (BSG SozR 3-2500 § 106 Nr. 57). Die Zurückverweisung würde lediglich zu einer Verzögerung des Verfahrens führen, was dem Interesse der Beteiligten an einem zügigen Abschluss des Verfahrens widerspricht.

2. Die Beklagte hat die Zurechnungszeit bei der Berechnung der Rentenhöhe im Bescheid vom 26. Oktober 2000 zutreffend berücksichtigt. Die Bestimmung der Zurechnungszeit richtet sich nach § 59 SGB VI in der bis 31. Dezember 2000 geltenden Fassung. Die durch Art. 1 des Gesetzes vom 20. Dezember 2000 (BGBl I, S. 1827) mit Wirkung zum 01. Januar 2001 erfolgte Neufassung, die das Ende der Zurechnungszeit auf das 60. Lebensjahr festlegt, ist gemäß § 300 Abs. 2 SGB VI nicht anwendbar, weil über die Rente des Klägers vor Inkrafttreten dieses Gesetzes entschieden wurde und der Rentenbeginn im Jahr 1999 liegt. Aus demselben Grund kommt auch die Übergangsvorschrift des § 253a SGB VI, wonach die Verlängerung der Zurechnungszeit in einer Übergangsphase schrittweise durchgeführt wird, nicht zur Anwendung.

Nach § 59 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI (a.F.) beginnt die Zurechnungszeit bei einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit mit dem Eintritt der hierfür maßgebenden Minderung der Erwerbsfähigkeit. Sie endet nach Abs. 3 der genannten Vorschrift mit dem Zeitpunkt, der sich ergibt, wenn die Zeit bis zum vollendeten 55. Lebensjahr in vollem Umfang, die darüber hinausgehende Zeit bis zum vollendeten 60. Lebensjahr zu einem Drittel dem nach Abs. 2 maßgeblichen Zeitpunkt hinzugerechnet wird. Die Beklagte hat zutreffend dargelegt, dass die Zurechnungszeit, ausgehend von einem Versicherungsfall am 20. Mai 1999 und der Vollendung des 55. Lebensjahres des Klägers am 28. Februar 2011 sowie der Berücksichtigung von einem Drittel der Zeit zwischen dem 55. Lebensjahr und dem vollendeten 60. Lebensjahr, am 31. Oktober 2012 endet. Die Berücksichtigung eines längeren Zeitraums als Zurechnungszeit ist nach der im Falle des Klägers anzuwendenden gesetzlichen Regelung ausgeschlossen.

3. Soweit der Kläger geltend macht, auf Grund einer zu Unrecht erfolgten Minderung seiner Arbeitslosenhilfe durch das Arbeitsamt Ravensburg im Jahr 1992 sei es zu einer verminderten Anrechnung von Beiträgen zur Rentenversicherung gekommen, greift dieses Argument nicht durch. Der Kläger war während des Bezugs von Leistungen des Arbeitsamts gemäß § 3 Satz1 Nr 3 SGB VI versicherungspflichtig. Für diese Zeiten wurden vom Bund gemäß § 170 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b SGB VI (in der in den Jahren 1992 bis 1999 geltenden Fassung) Beiträge zur Rentenversicherung bezahlt. Da gleichzeitig Anrechnungszeiten im Sinne des §§ 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI vorlagen, sind diese Zeiten insgesamt als geminderte Beitragszeiten im Sinne des § 54 Abs. 3 SGB VI zu behandeln. Für die sich daran anknüpfende nach § 71 Abs. 2 SGB VI durchzuführende Gesamtleistungsbewertung kann sich deshalb ergeben, dass ein höherer Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe auch zu höheren Entgeltpunkten führt. Die Beklagte hat für die Zeit vom 01. Januar 1992 bis 31. Mai 1999 Zeiten wegen des Bezugs von Leistungen bei Arbeitslosigkeit als Beitragszeiten berücksichtigt, diese als beitragsgeminderte Zeiten bewertet sowie eine Grund- und eine Vergleichsbewertung (Anlage 4 zum Bescheid vom 26. Oktober 2000) durchgeführt. Rechnerische Fehler sind insoweit nicht ersichtlich.

Höhere Beiträge für den Kläger sind im Rahmen dieser Bewertung nicht anzusetzen. Wie sich aus dem Vortrag des Klägers selbst ergibt, hat er gegen die damalige Entscheidung des Arbeitsamts Widerspruch eingelegt. Der Widerspruch blieb allerdings ebenso erfolglos wie die anschließenden Rechtsmittel der Klage und der Berufung (Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 24. November 1994 - S 3 Ar 355/93 -; Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 29. Dezember 1997 - L 3 Ar 1532/95 -). Damit liegt eine bestandskräftige Entscheidung hinsichtlich der Höhe der Leistungen der Arbeitslosenhilfe und damit auch der zu berücksichtigenden Beiträge vor. Diese ist für die Beklagte ebenso bindend wie für den erkennenden Senat.

Eine andere Berücksichtigung von Anrechnungszeiten als sie sich aus dem Versicherungsverlauf des Klägers und aus dem angefochtenen Bescheid ergeben, ist deshalb nicht möglich. Die Entscheidung der Beklagten ist nicht zu beanstanden.

4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

5. Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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