L 8 AS 6423/06 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
8
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 2 AS 5217/06 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 AS 6423/06 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 8. Dezember 2006 abgeändert. Der Antragsgegner zu 1 wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab 20. Dezember 2006 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und der Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 730,00 EUR zu gewähren. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die einstweilige Anordnung wird - unter dem Vorbehalt des Weiterbestehens der Hilfebedürftigkeit - zeitlich begrenzt bis längstens 30. Juni 2007.

Der Antragsgegner zu 1 trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im Antrags- und Beschwerdeverfahren.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Antragstellerin gegen den Antragsgegner zu 1 oder hilfsweise gegen die Antragsgegnerin zu 2 ein Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zusteht.

Die Antragstellerin ist am 21.06.1979 in K., S., geboren. Sie ist ledig und allein erziehende Mutter eines im Bundesgebiet geborenen Kindes. Sie reiste am 15.06.2004 in das Bundesgebiet ein und ist im Besitz einer Bescheinigung gem. § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU der St. K. vom 26.04.2005.

Auf Anträge der Antragstellerin bewilligte der Antragsgegner zu 1 ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), zuletzt mit Bescheid vom 29.08.2006 für die Zeit vom 01.08.2006 bis 31.08.2006 in Höhe von 617,49 EUR und vom 01.09.2006 bis 31.10.2006 in Höhe von monatlich 789,00 EUR.

Am 18.09.2006 beantragte die Antragstellerin die Fortzahlung der Leistungen nach dem SGB II. Diesen Antrag lehnte der Antragsgegner zu 1 mit Bescheid vom 26.09.2006 ab. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin am 20.12.2006 Widerspruch und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, da sie ohne ihr Verschulden gegen den Bescheid vom 26.09.2006 nicht fristgerecht Widerspruch eingelegt habe. Hilfsweise beantragte sie erneut Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Der Widerspruch der Klägerin wurde vom Antragsgegner zu 1 mit Widerspruchsbescheid vom 08.01.2007 als unzulässig verworfen. Über den hilfsweise gestellten Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes wurde, so- weit aus der Akte ersichtlich, vom Antragsgegner zu 1 noch nicht entschieden.

Ein Antrag der Antragstellerin bei der Antragsgegnerin zu 2 auf Leistungen nach dem SGB XII wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom 08.11.2006 abgelehnt.

Am 08.11.2006 beantragte die Antragstellerin beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) unter Vorlage des Bescheides vom 26.09.2006, im Wege der einstweiligen Anordnung den Antragsgegner zu 1, hilfsweise die Antragsgegnerin zu 2, zu verpflichten, ihr Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bzw. SGB XII zu gewähren. Sie trug zur Begründung vor, sie habe in Deutschland nach Arbeit suchen wollen. Sie habe aber auch wieder zu ihrer Familie gewollt. Ihre Mutter lebe schon lange in Deutschland und habe ein Aufenthaltsrecht. Auch ihre Schwester lebe hier. Sie sei derzeit im 8. Monat schwanger. Es handele sich um eine sehr schwierige Schwangerschaft. Der Vater des Kindes sei T. mit gesichertem Aufenthaltsrecht. Sie wisse noch nicht, ob sie zukünftig als Familie zusammen leben. Sie wolle, dass das Kind Kontakt zu seinem Vater habe und er sie auch bei der Erziehung unterstütze. Sie hoffe auch auf die Hilfe ihrer Mutter und Schwester. Dies seien neben der Arbeitsuche die weiteren Gründe, warum sie sich hier aufhalte. Sie habe kein Geld mehr, um Lebensmittel zu kaufen und die Miete zu bezahlen.

Der Antragsgegner zu 1 trat dem Eilantrag entgegen. Er führte zur Begründung aus, ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II sei gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Alternative 1 SGB II ausgeschlossen, da sich die Antragstellerin nicht aus einem anderen Grund als der Arbeitsuche im Bundesgebiet aufhalte.

Die Antragsgegnerin zu 2 trug vor, es sei zu prüfen, ob sich die Antragstellerin nur zum Zwecke der Arbeitsuche im Bundesgebiet aufhalte. Hierzu müsse sie vom Job-Center befragt werden. Diese Befragung sei nicht erfolgt. Die Antragstellerin habe zur Begründung ihres Antrags deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es neben dem Zweck der Arbeitsuche auch noch andere Gründe gebe, aus denen sie sich im Bundesgebiet aufhalte. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sei nicht erfüllt. Die Antragstellerin habe zwar in D. ein Gewerbe angemeldet gehabt, dieses jedoch wieder abgemeldet, nachdem keine Einkünfte erzielt worden seien. In D. sei die Antragstellerin nach ihren Äußerungen bislang nicht berufstätig gewesen. Die Antragstellerin habe Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit sei bei der Antragstellerin wohl unstreitig. Der gegen die Antragsgegnerin zu 2 gerichtete Antrag sei zurückzuweisen.

Mit Beschluss vom 08.12.2006 verpflichtete das SG die Antragsgegnerin zu 2 im Wege der einstweiligen Anordnung der Antragstellerin darlehensweise Leistungen zur Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft zu gewähren. Im Übrigen wurde der Antrag abgelehnt. Die Antragstellerin habe nach der gebotenen summarischen Prüfung gegen den Antragsgegner zu 1 keinen Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt. Der Glaubhaftmachung eines Anspruchs auf Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende stehe die Einschränkung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II entgegen, wonach EU-Bürger bzw. deren Familienangehörigen vom Leistungsbezug des SGB II ausgeschlossen seien, wenn sich ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. Dies sei bei der Antragstellerin der Fall. Auch gegenüber der Antragsgegnerin zu 2 bestehe nach summarischer Prüfung gemäß § 5 Absatz 2 Satz 1 SGB III und § 21 Satz 1 SGB XII kein Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt.

Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin am 27.12.2006 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat. Sie hat zur Begründung ausgeführt, sie befinde sich mit ihrem neugeborenen Kind in einer völlig verzweifelten Lage. Sie spreche zwischenzeitlich gut Deutsch, habe aber noch Probleme mit der Schriftsprache, besonders wenn es um juristische Begriffe gehe. Deswegen und wegen der sehr schwierigen Schwangerschaft sei sie gehindert gewesen, rechtzeitig Widerspruch einzulegen. Sie stehe ohne finanzielle Mittel da. Sie halte die Entscheidung des SG nicht für richtig. Sie halte sich rechtmäßig in D. auf. Sie sei vom Ausländeramt nicht ausgewiesen worden. Sie sei auch nicht nur zum Zwecke der Arbeitsuche nach D. eingereist, sondern hauptsächlich, weil sich ihre Familie hier befinde. Sie sei erwerbsfähig und habe auch die Absicht zu arbeiten. Sie hoffe auch noch immer, dass sich die Situation zum Vater ihres Kindes verbessere. Er habe in D. ein gesichertes Aufenthaltsrecht.

Die Antragstellerin beantragt,

den Antragsteller zu 1 zu verpflichten, ihr Leistungen nach dem SGB II zu gewähren, hilfsweise, die Antragsgegnerin zu 2 zu verpflichten, ihr Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 SGB XII zu erbringen.

Der Antragsgegner zu 1 beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Beschluss des SG für zutreffend. Angaben wegen der Ausübung eines selbstständigen Gewerbes seien von der Antragstellerin selbst nicht gemacht worden. Nach ihren eigenen Ausführungen sei diese zum einen eingereist, um Arbeit zu suchen und zum anderen, weil sie zu ihrer in der B. D. lebenden Mutter und Schwester gewollt habe. Es komme auch nicht darauf an, ob die Antragstellerin eingereist sei, um sich eine unselbstständige Arbeit zu suchen oder eine selbstständige Tätigkeit aufzubauen. Die Ausnahmeregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II reagiere auf die gemeinschaftsrechtliche Ausformung der Freizügigkeit und schöpfe die dort vorgesehene Beschränkung beim Zugang zu sozialen Leistungen für den Personenkreis aus, denen die Arbeitnehmerfreizügigkeit Einreise und Aufenthalt zur Arbeitsuche gestatte. Aufgabe und Zweck des SGB II gebiete eine weite Auslegung des Begriffes "Arbeitsuche". Auch diejenigen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich aus dem Zweck der selbstständigen Tätigkeit ergebe, würden von der Ausnahmeregelung miterfasst. Der Aufenthalt der Antragstellerin ergebe sich nicht aus einem anderen Zweck als der Arbeitsuche, da keine weiteren Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU erfüllt seien. Damit bestehe kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Somit sei ein Anordnungsanspruch zu verneinen.

Die Antragstellerin zu 2 beantragt,

den hilfsweise gestellten Antrag, Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII zu erbringen, zurückzuweisen.

Sie hat zur Begründung vorgetragen, die Antragstellerin sei erwerbsfähig und nicht vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II betroffen. Ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II sei daher gegeben. Die Antragstellerin sei eingereist, um Arbeit zu suchen oder einer selbstständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen und um wieder in der Nähe ihrer Mutter und Schwester zu sein, zu denen sie einen engen und guten Kontakt habe. Die Antragstellerin habe am 15.02.2006 ein Gewerbe (Reinigungsservice) beim Gewerbeamt der St. K. angemeldet und dieses Gewerbe bis zum 27.04.2006 geführt. Aus den Einkünften habe die Antragstellerin ihren Lebensunterhalt bestritten. Die Antragstellerin habe das Gewerbe abmelden müssen, da sie zwischenzeitlich schwanger geworden und die Schwangerschaft vom ersten Tag an ausgesprochen schwierig verlaufen sei. Die Mutter und die Schwester der Antragstellerin seien nicht in der Lage gewesen, die Antragstellerin über einen längeren Zeitraum hinweg finanziell zu unterstützen. Daher habe die Antragstellerin Leistungen nach dem SGB II beantragt. Ein Antrag auf Leistungen nach dem SGB XII sei abgelehnt worden, da ein Leistungsanspruch nach dem SGB II nicht ausgeschlossen sei. Der Begriff der Arbeitsuche könne nur für Personen angewandt werden, die erstmalig in die Bundesrepublik Deutschland eingereist seien, um Arbeit zu suchen. Die Arbeitsuche habe mit der Anmeldung eines selbstständigen Gewerbes geendet. Dieses habe die Antragstellerin bedingt durch ihre schwierig verlaufene Schwangerschaft wieder abmelden müssen. Hierdurch habe die Antragstellerin ihre Freizügigkeitsberechtigung aufgrund § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetz/EU jedoch nicht verloren. Das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin ergebe sich nicht mehr aus dem Zweck der Arbeitsuche, sondern aus der Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II sei nicht gegeben. Die Antragstellerin habe Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Weiter habe die Antragstellerin wieder Kontakt zum Kindesvater aufgenommen. Die Antragstellerin würde, selbst wenn sie keine Freizügigkeit mehr genießen würde, aufgrund der Familienkonstellation vom Ausländeramt nicht ausgewiesen werden und sich damit legal in der B. D. aufhalten. In dieser Situation wäre es grundrechtswidrig, sollte die Antragstellerin keinen Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II oder SGB XII haben. Es werde beantragt, dem Antrag der Antragstellerin auf Leistungen nach dem SGB II stattzugeben.

Wegen Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die erst- und zweitinstanzlichen Gerichtsakten sowie auf zwei Band Akten der Antragsgegner verwiesen.

II

Die gemäß den §§ 172ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Beschwerde, der das SG nicht abgeholfen hat, ist gegenüber dem Antragsgegner zu 1 teilweise im Übrigen jedoch nicht begründet.

Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Vorliegend kommt, da die Voraussetzungen des § 86b Abs. 1 SGG ersichtlich nicht gegeben sind und es auch nicht um die Sicherung eines bereits bestehenden Rechtszustands geht, nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht.

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens ergeben sich aus Art 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG), wenn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen können, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines gerichtlichen Hauptsacheverfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (BVerfG 12.05.2005, NVwZ 2005, 927, 928).

Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, NJW 2003, 1236; BVerfG, NVwZ 2004, 95,96). Dies gilt insbesondere, wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinen Begehren verfolgt (BVerfG, NVwZ 2004, 95, 96). Dies gilt insbesondere, wenn der Amtsermittlungsgrundsatz gilt. Außerdem müssen die Gerichte Fragen des Grundrechtsschutzes einbeziehen (BVerfG 12.05.2005, NVwZ 2005, 927, 928).

Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, NJW 2003, 1236, 1237). Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern. Diese besonderen Anforderungen an Eilverfahren schließen andererseits nicht aus, dass die Gerichte den Grundsatz der unzulässigen Vorwegnahme der Hauptsache vermeiden, indem sie zum Beispiel Leistungen nur mit einem Abschlag zusprechen (vgl. BVerfG 12.05.2005, NVwZ 2005, 927, 928; SG Düsseldorf, NJW 2005, 845, 847).

Die Antragstellerin wendet sich mit ihrer Beschwerde allein gegen die Ablehnung ihres Antrages auf vorläufigen Rechtsschutz wegen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und der Kosten für Unterkunft und Heizung. Ausgehend von den dargestellten Grundsätzen hat die Antragstellerin entgegen der Ansicht des SG einen Anordnungsanspruch gegen den Antragsgegner zu 1 für diese Leistungen glaubhaft gemacht.

Dem Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass die Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners zu 1 vom 26.09.2006 nicht fristgerecht Widerspruch eingelegt hat und dass ihr verspäteter Widerspruch mit Widerspruchsbescheid des Antragsgegners zu 1 vom 08.01.2007 deswegen als unzulässig verworfen wurde. Diese Entscheidung dürfte zwar aus den im Widerspruchsbescheid dargestellten Gründen nicht zu beanstanden sein. Allerdings hat die Antragstellerin gleichzeitig mit ihrem verspäteten Widerspruch am 20.12.2006 einen erneuten Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II gestellt, über den der Antragsgegner zu 1 - soweit ersichtlich - bislang noch nicht entschieden hat. Damit steht eine Bestandskraft des Bescheides vom 26.09.2006 dem Erlass einer einstweiligen Anordnung ab dem 20.12.2006 nicht entgegen. Im Übrigen (für die Zeit vor dem 20.12.2006) war die Beschwerde der Antragstellerin jedoch zurückzuweisen.

Zwischen der Antragstellerin und dem Antragsgegner zu 1 ist nur streitig, ob ein Anspruch gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen ist. Danach sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, ihre Familienangehörigen sowie Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes von einer Leistungsberechtigung nach dem SGB II ausgenommen. Allein auf diese Vorschrift hat der Antragsgegner zu 1 die Ablehnung der Weiterbewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II gestützt.

Der Senat erachtet es nach derzeitiger Sachlage nicht für ausgeschlossen, dass der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II bei der Antragstellerin nicht greift. Die Antragsgegnerin zu 2 hat (für die Antragstellerin) vorgetragen, dass diese nach ihrer Einreise zur Arbeitsuche eine selbstständige Gewerbetätigkeit angemeldet und aufgenommen hat, die die Antragstellerin wegen ihrer schwierigen Schwangerschaft wieder hat aufgeben müssen. Dass sich die anwaltschaftlich nicht vertretene Antragstellerin hierauf selbst nicht dezidiert berufen hat, hindert den Senat nicht, das Vorbringen der Antragsgegnerin zu 2 zu berücksichtigen.

Damit steht nach derzeitigem Sachstand nicht fest, dass sich das Aufenthaltsrecht der Antragstellerin allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Hiervon dürfte zwar zum Zeitpunkt der Einreise der Antragstellerin in das Bundesgebiet auszugehen gewesen sein. Mit der Aufnahme der selbstständigen Gewerbetätigkeit könnte das zunächst bestehende Aufenthaltsrecht der Antragstellerin allein aus dem Zweck der Arbeitsuche (§ 2 Absatz 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU) gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU geendet haben. Nach dieser Vorschrift sind Unionsbürger Freizügigkeitsberechtigte, wenn sie zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (niedergelassene selbstständige Erwerbstätige). Dass die Antragstellerin die selbstständige Gewerbetätigkeit aufgegeben hat, rechtfertigt nicht schon die Annahme, ihr Aufenthaltsrecht bestehe nunmehr wieder alleine aus dem Zweck der Arbeitsuche. Vielmehr kann der Antragstellerin § 2 Abs. 3 Freizügigkeitsgesetz/EU zugute kommen. Nach dieser Vorschrift lassen vorübergehende Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder Unfalls das Recht nach § 2 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU unberührt. Dies gilt auch für die von der zuständigen Agentur für Arbeit bestätigten Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit eines Arbeitnehmers sowie für Zeiten der Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbstständige keinen Einfluss hatte. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist nach derzeitigem Sachstand bei der Antragstellerin nicht ausgeschlossen.

Allerdings liegen Belege bezüglich der selbstständigen Gewerbetätigkeit der Antragstellerin nicht vor. Auch die näheren Umstände dieser Gewerbetätigkeit und der Einstellung sind noch nicht geklärt. Diese können aber objektiv nachgeprüft werden (z. B. Gewerbeanmeldung, Steuerbescheide zum Gewinn, Umsatzsteuerbescheid). Ermittlungen hierzu im vorliegenden Verfahren würden den Rahmen des Eilverfahrens sprengen und müssen dem Verwaltungsverfahren und ggf. anschließend dem Klageverfahren vorbehalten bleiben.

Unabhängig von dem Ausgeführten erachtet es der Senat auch nicht für ausgeschlossen, dass die Antragstellerin, ungeachtet ihrer Rechte aus dem Freizügigkeitsgesetz/EU aufgrund ihrer persönlichen und familiären Verhältnisse ein Aufenthaltsrecht nach dem Aufenthaltsgesetz zustehen könnte, weshalb § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II auch aus diesem Grund nicht greifen könnte. Die näheren Feststellungen hierzu müssen ggf. ebenso dem Verwaltungsverfahren und anschließend dem Klageverfahren vorbehalten bleiben.

Bei der danach vorzunehmenden Folgenabwägung überwiegen die Interessen der Antragstellerin, sich vorläufig sozial gesichert im Bundesgebiet weiter aufhalten zu können, die Interessen des Antragsgegners zu 1, Leistungen an die Antragstellerin nicht erbringen zu müssen.

Der Senat geht im vorliegenden Eilverfahren davon aus, dass der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes und zu den Kosten der Unterkunft und Heizung auf der Grundlage der Berechnungen im letzten Bewilligungsbescheid des Antragsgegners zu 1 vom 29.08.2006 für den Zeitraum vom 01.09.2006 bis 31.10.2006 abzüglich des nach der Geburt des Kindes der Antragstellerin nicht mehr zustehenden Mehrbedarfs für werdende Mütter weiter zu zahlen sind; sie betragen monatlich 730,00 EUR (Regelbedarf 345,00 EUR, Kosten für Unterkunft und Heizung 385,00 EUR). Über diesen Betrag hinaus (Sozialgeld für das Kind, Mehrbedarf für alleinerziehende Mütter) ist der Senat gehindert, eine einstweilige Anordnung zu erlassen, da nähere Angaben dazu, ob und in welchem Umfang das Kind der Antragstellerin bedürftig ist, nicht gemacht und auch keine Belege hierzu vorgelegt wurden, weshalb völlig offen ist, ab welchem Zeitpunkt das Kind der Antragstellerin ggf. berücksichtigt werden kann. Offen ist insbesondere, ob das Kind vom Vater Unterhalt erhält. Zudem ist zweifelhaft, ob die Antragstellerin für ihr Kind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes beantragt hat, was aber gem. § 37 Abs. 1 SGB II Voraussetzung für die Erbringung von Leistungen sein dürfte. Der Antragstellerin bleibt außerhalb des vorliegenden Verfahrens unbenommen, diese Ansprüche gegenüber dem Antragsgegner zu 1 geltend zu machen und gegebenenfalls beim Sozialgericht einen weiteren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu stellen.

Der Senat betrachtet es im vorliegenden Fall als angemessen, die einstweilige Anordnung auf den Zeitraum 20.12.2006 bis 30.06.2007 zu begrenzen. Der Zeitpunkt des Beginns (20.12.2006) beruht darauf, dass die Bestandskraft des Bescheides vom 26.09.2006 dem Erlass einer einstweiligen Anordnung vor dem 20.12.2006 (Datum der erneuten Antragstellung) entgegensteht. Eine Verpflichtung des Antragsgegners zu 1 zur vorläufigen Leistungsgewährung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens besteht nicht. Nach § 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II sollen die Leistungen jeweils für sechs Monate bewilligt werden. Dieser zeitliche Rahmen kann auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren als Maßstab für eine zeitliche Begrenzung herangezogen werden, wobei eine längere Bewilligung als sechs Monate ab dem Datum der Beschlussfassung des Gerichts kaum in Betracht kommen dürfte, da Hilfebedürftigkeit für einen derart langen Zeitraum im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur in Ausnahmenfällen im Voraus wird festgestellt werden können. Durch die vom Senat vorgenommene zeitliche Begrenzung auf den 30.06.2007 wird sichergestellt, dass die Voraussetzungen für die Leistungsbewilligung in regelmäßigen Abständen neu überprüft werden können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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