Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 6 KR 66/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 138/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Ein offenes Lesesystem bietet gegenüber einem geschlossenen System erhebliche Gebrauchsvorteile im Bereich der Kommunikation und im Hinblick auf den Zugang zu Informationen.
2. Das offene Lesesystem ermöglicht einen Zugang zum Internet und so die Erschließung eines nahezu unbegrenzten Informationspools. Insoweit dient es dazu, das Grundbedürfnis der Schaffung und Erschließung eines eigenen geistigen Freiraums zu gewährleisten.
3. Das offene Lesesystem ermöglicht die Teilnahme an schriftlicher Kommunikation, was durch das geschlossene Lesesystem nicht gewährleistet wird.
4. Der Zugang zu Informationen und die Teilnahme am schriftlichen Geschäftsverkehr sind heutzutage selbstverständliche Bestandteile eines selbstbestimmten Lebens.
2. Das offene Lesesystem ermöglicht einen Zugang zum Internet und so die Erschließung eines nahezu unbegrenzten Informationspools. Insoweit dient es dazu, das Grundbedürfnis der Schaffung und Erschließung eines eigenen geistigen Freiraums zu gewährleisten.
3. Das offene Lesesystem ermöglicht die Teilnahme an schriftlicher Kommunikation, was durch das geschlossene Lesesystem nicht gewährleistet wird.
4. Der Zugang zu Informationen und die Teilnahme am schriftlichen Geschäftsverkehr sind heutzutage selbstverständliche Bestandteile eines selbstbestimmten Lebens.
Der Bescheid vom 04.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2008 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Kläger mit einem offenen Vorlesesystem gemäß dem Kostenvoranschlag vom 21.07.2008 in Höhe von 5.864,-EUR zzgl. MwSt. zu versorgen.
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für ein offenes Vorlesesystem nebst Braillezeile.
Der 1987 geborene Kläger ist blind und beantragte bei der Beklagten die Versorgung mit einem offenen Computervorlesesystem, bestehend aus einer Braillezeile und dem Bildschirmausleseprogramm Jaws, weil die vormals bewilligten Systeme nicht mehr funktionsfähig waren. Mit Bescheid vom 4.2.2008 beschied die Beklagte den Kläger dahingehend, dass lediglich eine Versorgungspauschale in Höhe von ca. 4700,-EUR für eine Braillezeile als Komponente eines sog. geschlossenen Vorlesesystems gewährt werde, nicht jedoch die zu einem offenen Lesesystem gehörende Texterkennungssoftware Jaws. Die Mehrkosten für die Versorgung mit einem offenen Lesesystem belaufen sich auf ca. 2300,-EUR. Der Kläger legte hinsichtlich der entstehenden Kosten einen Kostenvoranschlag mit Datum vom 21.07.2008 vor, aus dem sich abzüglich des mitausgewiesenen Scanners ein Nettobetrag für die Versorgung in Höhe von 5.864,-EUR ergibt. Auch mit Widerspruchsbescheid vom 25.4.2008 lehnte die Beklagte die Versorgung mit einem offenen Vorlesesystem ab. Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage.
Der Kläger trägt vor, dass er mit dem geschlossenen System gehindert sei, Internetrecherchen durchzuführen. Eine Internetnutzung stelle in der heutigen Zeit jedoch ein Grundbedürfnis des Menschen dar. Darüber hinaus könne mit dem System auf Daisy-Formate zugegriffen werden, die im Internet zur Verfügung stünden. Die weitere Anschaffung eines Daisy-Players könne so vermieden werden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 04.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die zusätzlichen Kosten für die Ausstattung eines offenen Lesesystems gemäß dem vorgelegten Kostenvoranschlag vom 21.07.2008 in Höhe von 5.684,- Euro zzgl. der gesetzlichen MwSt. zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, dass es dem Kläger mit dem angebotenen geschlossenen System möglich sei, gedruckte und maschinell geschriebene Schriftstücke in eine tastbare Brailleschrift umzuwandeln. So sei eine umfassende Informationsbeschaffung gewährleistet, die unzweifelhaft ein elementares Grundbedürfnis darstelle.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat das Gericht den Sachverständigen D. zu den Einsatzmöglichkeiten der verschiedenen Blindenlesesysteme vernommen. Der Sachverständige hat die verschiedenen Systeme auch vorgeführt.
Bezüglich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist auch begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit einem offenen Vorlesesystem. Der Bescheid vom 04.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2008 ist rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist deshalb aufzuheben.
Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung mit einem offenen Vorlesesystem auf Grundlage des § 33 Abs. 1 Satz 1 und Satz 5, 1. Halbsatz des Sozialgesetzbuchs (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung -. Danach haben Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und auf Grund ihrer Sehschwäche oder Blindheit, entsprechend der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung, auf beiden Augen eine schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 aufweisen, unter anderem Anspruch auf Versorgung mit den Sehhilfen, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen sind. Gemäß § 12 Abs. 1 SGB V müssen die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
Bei dem beantragten offenen Vorlesesystem handelt es sich um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V. Streitig ist zwischen den Beteiligten die Erforderlichkeit im Hinblick darauf, dass dem Kläger ein geschlossenes Lesesystem angeboten wurde.
Entscheidend ist, ob mit dem beantragten offenen Vorlesesystem (a) ein Gebrauchsvorteil zum Ausgleich der Behinderung (b) im Bereich eines Grundbedürfnisses erzielt werden kann, der (c) durch die bereits vorhandenen Hilfsmittel nicht in annähernd gleichem Umfang befriedigt werden kann und (d) dessen Umfang unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht nur unwesentlich ist (vgl. Bundessozialgericht, Urteile vom 20.05.1987, Az. 8 RK 45/85, vom 21.11.1991, Az. 3 RK 43/89, und vom 16.04.1998, Az. B 3 KR 6/97 R). Diese Voraussetzungen sind zur Überzeugung des Gerichts erfüllt. Dies ergibt sich insbesondere aus den Ausführungen des Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung, der die Einsatzmöglichkeiten der in Rede stehenden Systeme vorgeführt und ausführlich erklärt hat.
a) Das offene Vorlesesystem vermittelt einen Behinderungsausgleich im Bereich der Kommunikation, weil der Kläger damit, wie auch mit einem geschlossenen Lesesystem, gedruckte Texte einschließlich Tabellen und Spalten lesen kann. Das offene Lesesystem ermöglicht dem Kläger darüber hinaus aber auch den Zugang zu Informationen, die er sich selber über das Internet erschließen kann.
Das offene Vorlesesystem ist zum Ausgleich der Behinderung auch tatsächlich geeignet. Dies ergibt sich aus der Darstellung des Klägers, der das System als Demoversion aktuell auch nutzt. Die Eignung ist ansonsten zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
b) Die Nutzung des offenen Vorlesesystems dient auch der Verwirklichung von Grundbedürfnissen.
Ob die Krankenkasse einen Gegenstand als Hilfsmittel bereitzustellen hat, richtet sich nach dem konkreten Zweck der Versorgung. Wenn ein Gegenstand einen Ausgleich der eingeschränkten Körperfunktion des Behinderten - anders als etwa Prothesen oder Hörgeräte - nur mittelbar bzw. nur in einzelnen Lebensbereichen erzielen kann, ist zu prüfen, in welchem Lebensbereich er sich auswirkt. Es reicht nicht aus, wenn eine Verbesserung sich nur in Lebensbereichen auswirkt, die nicht zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen. Die Versorgung mit Hilfsmitteln ist nur dann Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie der Sicherstellung eines allgemeinen Grundbedürfnisses dient. Zu diesen Grundbedürfnissen gehören auch die Kommunikation und die umfassende Information des Versicherten, da nur so ein eigener geistiger Freiraum geschaffen und erschlossen werden kann (vgl. u. a. BSG Urteil vom 16.04.1998, B 3 KR 6/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 26). Sowohl ausreichend als auch erforderlich ist dabei, dass ein konkreter Informationsbedarf im Rahmen einer normalen Lebensführung auftritt. Als Maßstab hierfür ist der allgemein praktizierte Informationsbedarf heranzuziehen (Bundessozialgericht, Urteil vom 23.08.1995, Aktenzeichen 3 RK 7/95, zu einem Scanner mit Sprachausgabe für Blinde). Das Grundbedürfnis der Information im Alltag umfasst in der heutigen Zeit auch die Möglichkeit, sich Zugang zu Informationen durch Recherchen zu verschaffen. Es beschränkt sich nicht auf das Lesen von Druckschriften. Das Internet ist ein weltweites Netzwerk bestehend aus vielen Rechnernetzwerken, durch das Daten ausgetauscht werden. Es ermöglicht die Nutzung von Internetdiensten aber auch des World Wide Web. Im Prinzip kann dabei jeder Rechner weltweit mit jedem anderen Rechner verbunden werden. So eröffnet sich ein Zugang zu einem weltweiten Informationspool. Diese Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten gewinnen ständig an gesellschaftlicher Bedeutung. Zur Überzeugung des Gerichts ist mittlerweile als Standard, zumindest bei jungen Menschen, anzusehen, dass ein Rechner mit Internetanschluss vorhanden ist. Für Recherchen, also zur Informationsbeschaffung, ist das Internet als Medium sicherlich heute nicht mehr hinwegzudenken. Die Nutzung des Internets ist deshalb in den Schutzbereich des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben einschließlich der Schaffung eines eigenen geistigen Freiraums und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu sehen. Die umfassende Information ist auch für die Persönlichkeitsentfaltung und Allgemeinbildung von elementarer Bedeutung. Bereits in diesem Sinne ist eine Zugangsmöglichkeit zum Internet als Grundbedürfnis im Zuge der Modernisierung, Technisierung und Digitalisierung der Gesellschaft anzusehen.
Darüber hinaus gehört zu den allgemeinen praktizierten Grundbedürfnissen im Bereich der aktiven Kommunikation auch die Fähigkeit, sich im Alltag hand- oder druckschriftlich mitzuteilen. Da dem Kläger eine handschriftliche Äußerung nicht möglich ist, ist er auf druckschriftliche Kommunikation angewiesen. Es ist absolut inakzeptabel, dem Kläger zu verwehren, an schriftlicher Kommunikation durch das Verfassen von Briefen teilnehmen zu dürfen. Ohne die Möglichkeit, sich schriftlich zu artikulieren, werden Menschen von elementaren Geschäftsprozessen ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere in behördlichem Rahmen, wo dem Schriftformerfordernis des BGB hohe Bedeutung zukommt. Folglich ist die schriftliche Kommunikation ebenfalls als ein elementares Grundbedürfnis des Menschen anzusehen. Am Maßstab des allgemein praktizierten Kommunikationsbedarfs orientiert, gehört im Rahmen der in der Gesellschaft, besonders bei jungen Leuten heute üblichen Kommunikationswege, auch die Nutzung des Mediums E-Mail zum Grundbedürfnis auf Kommunikation. Dem Gericht ist aus eigener Erfahrung bekannt, dass in gewissen Geschäftsbereichen, die Kommunikation mit E-Mail ausdrücklich gefordert wird. Dies gilt beispielsweise auch für Bewerbungen für Arbeitsplätze, was für den Kläger aktuell elementar wesentlich ist. Zusammenfassend muss zur Überzeugung des Gerichts daher festgehalten werden, dass sowohl der Zugang zu Informationen als auch die Teilnahme am schriftlichen Geschäftsverkehr heute selbstverständliche Bestandteile eines selbstbestimmten Lebens sind, die aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung jedem Menschen zugestanden werden müssen. Dem Informationsbedürfnis ist in einem umfassenden Sinne Rechnung zu tragen.
(c) Durch das angebotene geschlossene Lesesystem kann der Behinderungsausgleich im Bereich der genannten Grundbedürfnisse nicht in annähernd gleichem Umfang befriedigt werden. Nach der Vorführung und den Erläuterungen des Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Versorgung mit einem geschlossenen Lesesystem nicht annährend den heutigen gesellschaftlichen Informations- und Kommunikationsanforderungen entspricht. Mit diesem System kann gelesen werden, nicht mehr und nicht weniger. Es handelt sich um ein reines Wiedergabegerät. Erforderlich ist immer, dass ein Text in gedruckter Form zur Verfügung steht. Die Texte können nicht bearbeitet werden. Die Einsatzmöglichkeiten des Systems sind damit extrem beschränkt und ermöglichen keine Informationsbeschaffung und -bearbeitung. Mit dem Verweis auf dieses System wird dem Kläger jeglicher Zugang zu Informationen verwehrt. Es wird ihm darüber hinaus verwehrt, am schriftlichen Geschäftsverkehr teilzunehmen.
(d) Die Gebrauchsvorteile des offenen Lesesystems gegenüber dem geschlossenen System sind auch mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wesentlich.
Im Alltag liegt nur ein Teil der auszutauschenden schriftlichen und bildlichen Informationen in Form gedruckter Fließtexte vor, die sich zum Erfassen mit dem geschlossenen Lesesystem eignen. Eine Reduktion des Menschen auf das Lesen dieser Texte käme im Hinblick auf die sonst zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten in der heutigen Zeit einer Verdummung gleich. Demgegenüber steht ein unerschöpflicher Informationspool im Internet, den sich der Kläger nach seinen Bedürfnissen erschließen kann. Nicht zuletzt vermag er so am schriftlichen Geschäftsverkehr teilzunehmen. Schließlich ergibt auch eine Kosten-Nutzen-Abwägung, dass im Hinblick auf die erhebliche Gebrauchsüberlegenheit des offenen Systems unter Wirtschaftlichkeitsaspekten, die als gering einzuschätzenden Mehrkosten hier zurücktreten müssen.
Nach alldem musste die Klage Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für ein offenes Vorlesesystem nebst Braillezeile.
Der 1987 geborene Kläger ist blind und beantragte bei der Beklagten die Versorgung mit einem offenen Computervorlesesystem, bestehend aus einer Braillezeile und dem Bildschirmausleseprogramm Jaws, weil die vormals bewilligten Systeme nicht mehr funktionsfähig waren. Mit Bescheid vom 4.2.2008 beschied die Beklagte den Kläger dahingehend, dass lediglich eine Versorgungspauschale in Höhe von ca. 4700,-EUR für eine Braillezeile als Komponente eines sog. geschlossenen Vorlesesystems gewährt werde, nicht jedoch die zu einem offenen Lesesystem gehörende Texterkennungssoftware Jaws. Die Mehrkosten für die Versorgung mit einem offenen Lesesystem belaufen sich auf ca. 2300,-EUR. Der Kläger legte hinsichtlich der entstehenden Kosten einen Kostenvoranschlag mit Datum vom 21.07.2008 vor, aus dem sich abzüglich des mitausgewiesenen Scanners ein Nettobetrag für die Versorgung in Höhe von 5.864,-EUR ergibt. Auch mit Widerspruchsbescheid vom 25.4.2008 lehnte die Beklagte die Versorgung mit einem offenen Vorlesesystem ab. Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage.
Der Kläger trägt vor, dass er mit dem geschlossenen System gehindert sei, Internetrecherchen durchzuführen. Eine Internetnutzung stelle in der heutigen Zeit jedoch ein Grundbedürfnis des Menschen dar. Darüber hinaus könne mit dem System auf Daisy-Formate zugegriffen werden, die im Internet zur Verfügung stünden. Die weitere Anschaffung eines Daisy-Players könne so vermieden werden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 04.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die zusätzlichen Kosten für die Ausstattung eines offenen Lesesystems gemäß dem vorgelegten Kostenvoranschlag vom 21.07.2008 in Höhe von 5.684,- Euro zzgl. der gesetzlichen MwSt. zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt vor, dass es dem Kläger mit dem angebotenen geschlossenen System möglich sei, gedruckte und maschinell geschriebene Schriftstücke in eine tastbare Brailleschrift umzuwandeln. So sei eine umfassende Informationsbeschaffung gewährleistet, die unzweifelhaft ein elementares Grundbedürfnis darstelle.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat das Gericht den Sachverständigen D. zu den Einsatzmöglichkeiten der verschiedenen Blindenlesesysteme vernommen. Der Sachverständige hat die verschiedenen Systeme auch vorgeführt.
Bezüglich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird Bezug genommen auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist auch begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Versorgung mit einem offenen Vorlesesystem. Der Bescheid vom 04.02.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2008 ist rechtswidrig, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist deshalb aufzuheben.
Der Kläger hat Anspruch auf Versorgung mit einem offenen Vorlesesystem auf Grundlage des § 33 Abs. 1 Satz 1 und Satz 5, 1. Halbsatz des Sozialgesetzbuchs (SGB) Fünftes Buch (V) - Gesetzliche Krankenversicherung -. Danach haben Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben und auf Grund ihrer Sehschwäche oder Blindheit, entsprechend der von der Weltgesundheitsorganisation empfohlenen Klassifikation des Schweregrades der Sehbeeinträchtigung, auf beiden Augen eine schwere Sehbeeinträchtigung mindestens der Stufe 1 aufweisen, unter anderem Anspruch auf Versorgung mit den Sehhilfen, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V von der Versorgung ausgeschlossen sind. Gemäß § 12 Abs. 1 SGB V müssen die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen.
Bei dem beantragten offenen Vorlesesystem handelt es sich um ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V. Streitig ist zwischen den Beteiligten die Erforderlichkeit im Hinblick darauf, dass dem Kläger ein geschlossenes Lesesystem angeboten wurde.
Entscheidend ist, ob mit dem beantragten offenen Vorlesesystem (a) ein Gebrauchsvorteil zum Ausgleich der Behinderung (b) im Bereich eines Grundbedürfnisses erzielt werden kann, der (c) durch die bereits vorhandenen Hilfsmittel nicht in annähernd gleichem Umfang befriedigt werden kann und (d) dessen Umfang unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht nur unwesentlich ist (vgl. Bundessozialgericht, Urteile vom 20.05.1987, Az. 8 RK 45/85, vom 21.11.1991, Az. 3 RK 43/89, und vom 16.04.1998, Az. B 3 KR 6/97 R). Diese Voraussetzungen sind zur Überzeugung des Gerichts erfüllt. Dies ergibt sich insbesondere aus den Ausführungen des Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung, der die Einsatzmöglichkeiten der in Rede stehenden Systeme vorgeführt und ausführlich erklärt hat.
a) Das offene Vorlesesystem vermittelt einen Behinderungsausgleich im Bereich der Kommunikation, weil der Kläger damit, wie auch mit einem geschlossenen Lesesystem, gedruckte Texte einschließlich Tabellen und Spalten lesen kann. Das offene Lesesystem ermöglicht dem Kläger darüber hinaus aber auch den Zugang zu Informationen, die er sich selber über das Internet erschließen kann.
Das offene Vorlesesystem ist zum Ausgleich der Behinderung auch tatsächlich geeignet. Dies ergibt sich aus der Darstellung des Klägers, der das System als Demoversion aktuell auch nutzt. Die Eignung ist ansonsten zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
b) Die Nutzung des offenen Vorlesesystems dient auch der Verwirklichung von Grundbedürfnissen.
Ob die Krankenkasse einen Gegenstand als Hilfsmittel bereitzustellen hat, richtet sich nach dem konkreten Zweck der Versorgung. Wenn ein Gegenstand einen Ausgleich der eingeschränkten Körperfunktion des Behinderten - anders als etwa Prothesen oder Hörgeräte - nur mittelbar bzw. nur in einzelnen Lebensbereichen erzielen kann, ist zu prüfen, in welchem Lebensbereich er sich auswirkt. Es reicht nicht aus, wenn eine Verbesserung sich nur in Lebensbereichen auswirkt, die nicht zu den menschlichen Grundbedürfnissen zählen. Die Versorgung mit Hilfsmitteln ist nur dann Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn sie der Sicherstellung eines allgemeinen Grundbedürfnisses dient. Zu diesen Grundbedürfnissen gehören auch die Kommunikation und die umfassende Information des Versicherten, da nur so ein eigener geistiger Freiraum geschaffen und erschlossen werden kann (vgl. u. a. BSG Urteil vom 16.04.1998, B 3 KR 6/97 R, SozR 3-2500 § 33 Nr 26). Sowohl ausreichend als auch erforderlich ist dabei, dass ein konkreter Informationsbedarf im Rahmen einer normalen Lebensführung auftritt. Als Maßstab hierfür ist der allgemein praktizierte Informationsbedarf heranzuziehen (Bundessozialgericht, Urteil vom 23.08.1995, Aktenzeichen 3 RK 7/95, zu einem Scanner mit Sprachausgabe für Blinde). Das Grundbedürfnis der Information im Alltag umfasst in der heutigen Zeit auch die Möglichkeit, sich Zugang zu Informationen durch Recherchen zu verschaffen. Es beschränkt sich nicht auf das Lesen von Druckschriften. Das Internet ist ein weltweites Netzwerk bestehend aus vielen Rechnernetzwerken, durch das Daten ausgetauscht werden. Es ermöglicht die Nutzung von Internetdiensten aber auch des World Wide Web. Im Prinzip kann dabei jeder Rechner weltweit mit jedem anderen Rechner verbunden werden. So eröffnet sich ein Zugang zu einem weltweiten Informationspool. Diese Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten gewinnen ständig an gesellschaftlicher Bedeutung. Zur Überzeugung des Gerichts ist mittlerweile als Standard, zumindest bei jungen Menschen, anzusehen, dass ein Rechner mit Internetanschluss vorhanden ist. Für Recherchen, also zur Informationsbeschaffung, ist das Internet als Medium sicherlich heute nicht mehr hinwegzudenken. Die Nutzung des Internets ist deshalb in den Schutzbereich des Rechts auf ein selbstbestimmtes Leben einschließlich der Schaffung eines eigenen geistigen Freiraums und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu sehen. Die umfassende Information ist auch für die Persönlichkeitsentfaltung und Allgemeinbildung von elementarer Bedeutung. Bereits in diesem Sinne ist eine Zugangsmöglichkeit zum Internet als Grundbedürfnis im Zuge der Modernisierung, Technisierung und Digitalisierung der Gesellschaft anzusehen.
Darüber hinaus gehört zu den allgemeinen praktizierten Grundbedürfnissen im Bereich der aktiven Kommunikation auch die Fähigkeit, sich im Alltag hand- oder druckschriftlich mitzuteilen. Da dem Kläger eine handschriftliche Äußerung nicht möglich ist, ist er auf druckschriftliche Kommunikation angewiesen. Es ist absolut inakzeptabel, dem Kläger zu verwehren, an schriftlicher Kommunikation durch das Verfassen von Briefen teilnehmen zu dürfen. Ohne die Möglichkeit, sich schriftlich zu artikulieren, werden Menschen von elementaren Geschäftsprozessen ausgeschlossen. Dies gilt insbesondere in behördlichem Rahmen, wo dem Schriftformerfordernis des BGB hohe Bedeutung zukommt. Folglich ist die schriftliche Kommunikation ebenfalls als ein elementares Grundbedürfnis des Menschen anzusehen. Am Maßstab des allgemein praktizierten Kommunikationsbedarfs orientiert, gehört im Rahmen der in der Gesellschaft, besonders bei jungen Leuten heute üblichen Kommunikationswege, auch die Nutzung des Mediums E-Mail zum Grundbedürfnis auf Kommunikation. Dem Gericht ist aus eigener Erfahrung bekannt, dass in gewissen Geschäftsbereichen, die Kommunikation mit E-Mail ausdrücklich gefordert wird. Dies gilt beispielsweise auch für Bewerbungen für Arbeitsplätze, was für den Kläger aktuell elementar wesentlich ist. Zusammenfassend muss zur Überzeugung des Gerichts daher festgehalten werden, dass sowohl der Zugang zu Informationen als auch die Teilnahme am schriftlichen Geschäftsverkehr heute selbstverständliche Bestandteile eines selbstbestimmten Lebens sind, die aufgrund ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung jedem Menschen zugestanden werden müssen. Dem Informationsbedürfnis ist in einem umfassenden Sinne Rechnung zu tragen.
(c) Durch das angebotene geschlossene Lesesystem kann der Behinderungsausgleich im Bereich der genannten Grundbedürfnisse nicht in annähernd gleichem Umfang befriedigt werden. Nach der Vorführung und den Erläuterungen des Sachverständigen im Termin zur mündlichen Verhandlung steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Versorgung mit einem geschlossenen Lesesystem nicht annährend den heutigen gesellschaftlichen Informations- und Kommunikationsanforderungen entspricht. Mit diesem System kann gelesen werden, nicht mehr und nicht weniger. Es handelt sich um ein reines Wiedergabegerät. Erforderlich ist immer, dass ein Text in gedruckter Form zur Verfügung steht. Die Texte können nicht bearbeitet werden. Die Einsatzmöglichkeiten des Systems sind damit extrem beschränkt und ermöglichen keine Informationsbeschaffung und -bearbeitung. Mit dem Verweis auf dieses System wird dem Kläger jeglicher Zugang zu Informationen verwehrt. Es wird ihm darüber hinaus verwehrt, am schriftlichen Geschäftsverkehr teilzunehmen.
(d) Die Gebrauchsvorteile des offenen Lesesystems gegenüber dem geschlossenen System sind auch mit Rücksicht auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wesentlich.
Im Alltag liegt nur ein Teil der auszutauschenden schriftlichen und bildlichen Informationen in Form gedruckter Fließtexte vor, die sich zum Erfassen mit dem geschlossenen Lesesystem eignen. Eine Reduktion des Menschen auf das Lesen dieser Texte käme im Hinblick auf die sonst zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten in der heutigen Zeit einer Verdummung gleich. Demgegenüber steht ein unerschöpflicher Informationspool im Internet, den sich der Kläger nach seinen Bedürfnissen erschließen kann. Nicht zuletzt vermag er so am schriftlichen Geschäftsverkehr teilzunehmen. Schließlich ergibt auch eine Kosten-Nutzen-Abwägung, dass im Hinblick auf die erhebliche Gebrauchsüberlegenheit des offenen Systems unter Wirtschaftlichkeitsaspekten, die als gering einzuschätzenden Mehrkosten hier zurücktreten müssen.
Nach alldem musste die Klage Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
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