L 7 AS 4265/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 6 AS 3524/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AS 4265/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. Juli 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Zwischen den Beteiligten im Streit ist (noch) die Verfassungsmäßigkeit der Höhe der gesetzlichen Regelleistung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II); sonstige Leistungen sind nicht mehr im Streit.

Die am 1961 geborene Klägerin bezog bis 31. Dezember 2004 Arbeitslosenhilfe (Alhi) in Höhe von 123,83 EUR wöchentlich und außerdem Wohngeld in Höhe von 76,- EUR monatlich.

Mit Bescheiden des Beklagten vom 3. Dezember 2004, 21. Februar 2005, 18. Mai 2005 und 9. August 2005 wurden der Klägerin im Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis 30. November 2005 Leistungen nach dem SGB II unter Zugrundelegung der gesetzlichen Regelleistungen von 345,- EUR und unter Berücksichtigung der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung bewilligt. Die dagegen erhobenen Widersprüche der Klägerin wurden durch Widerspruchsbescheid vom 10. August 2005 als unbegründet zurückgewiesen.

Mit der am 5. September 2005 beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und zur Begründung im Wesentlichen vorgetragen, die Höhe des pauschalen Regelsatzes sei mit Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 1 und 3 GG unvereinbar. Der Staat dürfe zwar pauschalieren, müsse aber stets den verfassungsrechtlich garantierten Mindestbedarf decken. Der Ermittlung des Mindestbedarfs müssten auch ausreichende Erfahrungswerte zugrunde liegen. Diesen Anforderungen genüge die Festsetzung des Regelbedarfs nicht; die Ausgangsdatenlage gehe auf Erhebungen aus dem Jahre 1998 zurück und liege damit sieben Jahre vor Inkrafttreten des SGB II.

Mit Urteil vom 27. Juli 2006 hat das SG die Klage abgewiesen mit der Begründung, die Festsetzung des Regelsatzes nach § 20 SGB II unterliege keinen rechtlichen Bedenken. Die Festsetzung beruhe auf einer ausreichenden Erfahrungsgrundlage und sei auch im Übrigen von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.

Gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 31. Juli 2006 gegen Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat die Klägerin am 23. August 2006 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt, mit welcher sie ihr bisheriges Vorbringen wiederholt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 27. Juli 2006 sowie die Bescheide des Beklagten vom 3. Dezember 2004, 21. Februar 2005, 18. Mai 2005 und 9. August 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. August 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. Januar 2005 bis 30. November 2005 höhere Leistungen nach dem SGB II zu gewähren, hilfsweise, das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorzulegen, ob die Bestimmungen des § 20 Abs. 2 und 3 SGB II über die Höhe der Regelleistungen wegen Verletzung der Art. 1 Abs. 1 und 20 Abs. 1 GG verfassungswidrig sind.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur weiteren Darstellung wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten, die Klageakte des SG und die Berufungsakte des Senats Bezug genommen.

II.

Der Senat konnte die Berufung gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückweisen, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich hält. Die Beteiligten sind vorher gehört worden (§ 153 Abs. 4 Satz 2 SGG).

Die Berufung, die sich, wie die Prozessbevollmächtigte der Klägerin gegenüber dem Gericht in Klarstellung zum Berufungsantrag vom 6. September 2006 erklärt hat, auf den erstinstanzlich geltend gemachten Leistungszeitraum (1. Januar 2005 bis 30. November 2005) beschränkt, hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage, mit welcher die Klägerin höhere SGB II-Leistungen in diesem Zeitraum begehrt, zu Recht abgewiesen.

Nach dem den Beteiligten bekannten Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. November 2006 (B 11b AS 1/06 R) ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Ansprüche auf Alhi nach den Vorschriften des SGB III in der bis 31. Dezember 2004 geltenden Fassung ohne Übergangsregelung abgeschafft und durch andersartige Ansprüche nach dem SGB II ersetzt hat (ebenso zuletzt Urteil des erkennenden Senats vom 15. März 2007 - L 7 AL 810/06 -). Nach dieser Entscheidung bestehen auch keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die gesetzlich festgeschriebene Höhe der Regelleistungen (§ 20 Abs. 2 und 3 SGB II) und die aus den Gesetzesmaterialien nachzuvollziehende Art der Bedarfsermittlung und deren Ergebnis.

Das BSG (a.a.O.) hat hierzu (unter Anderem) Folgendes ausgeführt: "Die Revision vermag auch nicht mit ihren Einwendungen gegen die Höhe der in § 20 Abs 2 SGB II festgelegten Regelleistung von 345 EUR pro Monat für u. a. allein stehende und allein erziehende Personen durchzudringen. Die vom Gesetzgeber gewählte Art der Bedarfsermittlung und deren Ergebnis sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn es ist grundsätzlich zulässig, Bedarfe gruppenbezogen zu erfassen und eine Typisierung bei Massenverfahren vorzunehmen.

Durchgreifende Bedenken lassen sich entgegen verschiedenen Äußerungen im Schrifttum (etwa Rothkegel in Gagel, a.a.O., § 20 RdNr. 31 f; Ockenga ZfSH/SGB 2006, 143 , 144 ff) nicht aus dem Gesetzgebungsverfahren und nicht aus dem nachfolgenden Verfahren zur Vorbereitung der Verordnung zur Durchführung des § 28 SGB XII - Regelsatzverordnung (RSV) - herleiten. Der Senat hat insoweit berücksichtigt, dass nach der Begründung des Gesetzentwurfs (vgl. BT-Drucks 15/1516 S 56) für die Leistungshöhe eine vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt erhobene Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) 1998 mit Hochrechnung auf den Stand 1. Juli 2003 maßgebend sein und dass sich die Regelleistung hinsichtlich Höhe und Neubemessung auch an der RSV orientieren sollte (vgl. auch § 20 Abs 4 Satz 2 SGB II i.V.m. § 28 Abs 3 Satz 5 SGB XII ). Der Senat hat auch berücksichtigt, dass die RSV bis zur Verabschiedung des SGB II durch den Bundestag im Dezember 2003 noch nicht erlassen war und dass erst mit Schreiben der Bundesregierung vom 10. März 2004 der RSV-Entwurf und dessen Begründung dem Bundesrat übermittelt wurde (BR-Drucks 206/04; vgl. Ockenga, aaO, S 144), ferner, dass vor dem Gesetzesbeschluss zum SGB II der Vorentwurf einer RSV (Stand 21. Juli 2003, vgl. im Internet unter www.sozialpolitik.de, Themenfelder "Sozialstaat, Soziale Sicherung") vorlag, der im Detail von der späteren RSV vom 3. Juni 2004 (BGBl I 1067) abweicht. Grundsätzliche Einwände gegen die Festsetzung der Regelleistungen lassen sich aus diesem zeitlichen Ablauf jedoch nicht ableiten, da der Gesetzgeber bei der Ermittlung der - typisierten - Bedarfe wie schon bei der Sozialhilfe auf das Statistikmodell zurückgegriffen hat (vgl. Martens SozSich 2006, 182 , 184) und erkennbarer Bezugspunkt für die Bemessung der Regelleistung mit 345 EUR die Höhe der bis dahin geltenden Regelsätze (ca. 297 EUR) zuzüglich eines an der damaligen Bewilligungspraxis bezüglich einmaliger Leistungen gemessenen Anteils in Höhe von ca. 16 v.H. war (vgl. hierzu u. a. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 24. August 2006 - L 8 AS 467/05 -, Revision anhängig unter B 11b AS 39/06 R ; Brünner in LPK-SGB II § 20 Nr 4; Berlit info also 2003, 195 , 202; Bieback NZS 2005, 337 , 338).

Auch im Übrigen kann der Senat nicht feststellen, dass die Höhe der Regelleistung nach § 20 Abs 2 SGB II höherrangigem Recht widerspricht. Bereits die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zur Sozialhilfe hat die Kontrolle für die Regelsatzfestsetzung durch Rechtsverordnung unter der Geltung des § 22 Abs 2 Satz 1 BSHG auf die Prüfung beschränkt, ob die den Bedarf bestimmenden Faktoren auf ausreichenden Erfahrungswerten beruhen und ob die der Festsetzung zu Grunde liegenden Wertungen vertretbar sind (vgl. BVerwGE 94, 326 = NVwZ 1994, 1214 ; BVerwGE 102, 366 = NVwZ 1998, 285). Diese Prüfungsmaßstäbe zur Vereinbarkeit einer Rechtsverordnung mit dem ermächtigenden Gesetz können denknotwendigerweise nicht gleichermaßen für die Überprüfung des § 20 Abs 2 SGB II gelten. Denn hierin hat der parlamentarische Gesetzgeber, der allein an das GG gebunden ist, die Höhe der Regelleistung unmittelbar bestimmt. Der Senat kann jedoch offen lassen, inwieweit sich die oben genannten Maßstäbe nicht nur aus dem BSHG, sondern auch aus dem GG herleiten lassen (vgl. BVerfGE 82, 60 , 80; Rothkegel, SGb 2006, 74 , 76; gegen die Übertragbarkeit der Rechtsprechung des BVerwG: LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 29. November 2005 - L 3 AS 3/05 -, Revision anhängig unter B 11b AS 5/06 R ). Denn selbst auf der Grundlage dieser Maßstäbe bestehen keine Bedenken. Die Prüfung des Senats ergibt unter Berücksichtigung der im Gesetzgebungsverfahren und im Zusammenhang mit dem Erlass der RSV dokumentierten Erwägungen, dass der Bestimmung der Regelleistung ausreichende Erfahrungswerte zu Grunde liegen und dass der dem Gesetzgeber zuzubilligende Einschätzungsspielraum nicht in unvertretbarer Weise überschritten ist.

Eine Unvertretbarkeit der Festsetzung der Regelleistung durch den Gesetzgeber ergibt sich nicht etwa daraus, dass im Schrifttum mangelnde Transparenz gerügt oder auf die angebliche Ausgrenzung einzelner Bevölkerungsgruppen hingewiesen wird (vgl. u. a.: Berlit info also 2003, 195, 202; derselbe info also 2005, 181 -182; Frommann NDV 2004, 248, 252; Rothkegel ZfSH/SGB 2004, 396, 403 ff; Däubler, NZS 2005, 225, 228; Ockenga, ZfSH/SGB 2006, 143, 144 ff). Denn angesichts der offenkundigen Schwierigkeiten, die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein auch unter Einbeziehung eines "soziokulturellen Existenzminimums" sachgerecht zu bestimmen, können Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Angemessenheit und der Gewichtung einzelner Größen keine entscheidende Rolle spielen (vgl. auch BSG SozR 3-4100 § 138 Nr. 14 S 83 f; vgl. zusammenfassend Mrozynski, Praxishandbuch zu SGB II und SGB XII, unter II.8 RdNr. 21 ff, 25, Stand 1. März 2006).

Bei der Vertretbarkeitsprüfung ist auch zu bedenken, dass die gegenwärtige Situation durch die Zunahme niedrig entlohnter Tätigkeiten und durch Einkommenseinbußen in breiten Bevölkerungskreisen geprägt ist, weshalb dem Gesichtspunkt des Lohnabstandsgebotes maßgebliche Bedeutung zukommen muss (so zutreffend LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. Mai 2006 - L 10 AS 1093/05 - juris, RdNr. 31). Diesem Gebot entspricht, dass in der Konsequenz der Festlegung der Regelleistung in § 20 Abs 2 SGB II der Hilfeempfänger weniger konsumieren kann als die untersten 20 % der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Haushalte der EVS ohne Einbeziehung der Hilfeempfänger (vgl. § 2 Abs 3 RSV; Däubler NZS 2005, 225 , 228). Vor allem ist aber im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu beachten, dass der Gesetzgeber des SGB II den Hilfebedürftigen nicht nur die Regelleistung, sondern in nicht unwesentlichem Umfang weitere Leistungen zur Verfügung stellt (vgl. u. a. §§ 16 , 21 , 22 , 23 SGB II ; zur Möglichkeit, in Ausnahmefällen auch Leistungen nach Maßgabe des SGB XII zu beanspruchen, vgl. Urteil des 7b. Senats des BSG vom 7. November 2006 - B 7b AS 14/06 R ). Unter Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte vermag der Senat deshalb eine Unvertretbarkeit der Höhe der Regelleistung nicht zu erkennen. Ob und inwieweit den Gesetzgeber über die Anpassungsregelungen in § 20 Abs. 4 SGB II hinaus eine besondere Beobachtungspflicht (vgl. BSG SozR 3-2200 § 551 Nr. 13; BVerfGE 87, 348 , 358; 88, 203, 309 ff) bei der praktischen Umsetzung des Gesetzes trifft, kann der Senat schon im Hinblick auf den hier streitigen Zeitraum dahingestellt sein lassen."

Nach dieser vom erkennenden Senat geteilten Auffassung unterliegt die gesetzliche Regelung keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken mit der Folge, dass die Klägerin höhere als die im SGB II normierten, vorliegend zutreffend festgesetzten Leistungen nicht verlangen kann. Unter diesen Umständen besteht auch weder Veranlassung zu der hilfsweise beantragten Verfahrensaussetzung und Vorlage der Sache an das Bundesverfassungsgericht noch zu einer Anordnung des Ruhens des Verfahrens bis zu einer etwaigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dieser Frage.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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