L 10 R 4276/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 3 R 4191/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 4276/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 7. September 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Umstritten ist die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung.

Die am 1975 geborene Klägerin, eine italienische Staatsangehörige, arbeitete zuletzt ab 1997 als ungelernte Montagearbeiterin. Nach Konflikten am Arbeitsplatz sowie familiären Problemen war sie wegen psychischer Erkrankungen ab Mai 2003 arbeitsunfähig und in der Folge in stationärer Behandlung. Von Juli bis Dezember 2005 arbeitete sie in einem Pflegeheim. Im Übrigen versorgt sie ihren am 6. Juli 1995 geborenen Sohn.

Die Klägerin leidet im Wesentlichen unter einer psychischen Erkrankung, einem Schilddrüsenleiden, einer Gesichtsakne und einem Tinnitus.

Ihren Antrag vom Juni 2004 auf Gewährung von Rente, mit dem sie geltend machte, sie halte sich seit Mai 2003 wegen psychischer und neurologischer Beschwerden sowie Schilddrüsenproblemen für erwerbsgemindert, lehnte die Beklagte Bescheid vom 15. September 2004 und Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 2004 ab.

Dem lagen im Wesentlichen Berichte des Kreiskrankenhauses Freudenstadt (stationäre Behandlung 13. bis 14. September 2003 nach Tablettenintoxikation), des behandelnden Nervenarztes Dr. R. (stationäre Behandlung vom 16. September bis 4. November 2003 und 9. Dezember 2003 bis 27. Februar 2004; neurotisch-depressive, zum Teil dissoziative konversionsneurotische Entwicklung und schwere Angststörung bei im Vordergrund stehendem psychosozialem Konflikt am Arbeitsplatz; vorerst Arbeitsunfähigkeit), eine Einschätzung des Dr. Sch. , Medizinischer Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (Angststörung mit dissoziativen Zuständen, Anpassungsstörung bei Arbeitsplatzkonflikt; Arbeitsunfähigkeit im bisherigen Betrieb), und eine gutachterliche Stellungnahme des Dipl.-Med. G. (Zustand nach akuter Belastungsstörung bei Arbeitsplatzkonflikt, Hashimoto-Thyreoiditis, Akne vulgaris; mittelschwere Arbeiten im Stehen, Gehen oder Sitzen, in wechselnder Schicht sowie Tätigkeiten als Montagearbeiterin, allerdings nicht am bisherigen Arbeitsplatz, sechs Stunden und mehr möglich) zu Grunde.

Deswegen hat die Klägerin am 15. Dezember 2004 Klage beim Sozialgericht Karlsruhe erhoben und geltend gemacht, sie könne keine sechs Stunden arbeiten und sei seit längerem in Behandlung. Ein Wiedereingliederungsversuch beim bisherigen Arbeitgeber sei gescheitert. Ihre Schilddrüsenerkrankung habe sich verschlimmert und es seien eine Mittelohrentzündung und ein Tinnitus hinzugekommen.

Das Sozialgericht Reutlingen (SG) hat (nach Verweisung) die behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Der Allgemeinmediziner Dr. B. hat die Angststörung und eine Anpassungsstörung an den Arbeitsplatz als im Vordergrund stehend erachtet. Der Arzt für Psychotherapeutische Medizin Dr. W. hat eine reaktive Depression bei Arbeitskonflikt und nach dem Tod des Vaters, eine Angstreaktion und Schlafstörungen, eine Neurose mit frühen Störungsanteilen sowie - für die Zeit ab Januar 2005 - Angst- und Panikzustände, psychogene Kollapszustände und Ohnmachten diagnostiziert. Die Klägerin sei auf Grund der Situation am Arbeitsplatz nicht in der Lage gewesen, an die alte Arbeitsstelle zurückzukehren, könne aber leichte Tätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich verrichten, wenn sie nicht mit besonderen psychischen bzw. Stressbelastungen verbunden seien. Dr. R. hat über eine Angstneurose mit dissoziativen Zuständen im Rahmen einer neurotischen Depression bzw. einer emotionalen instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, eine Akne und eine Adipositas berichtet und die Auffassung vertreten, die Klägerin könne an einem ruhigen Arbeitsplatz ohne Stress und in einer sicheren wohlwollenden Atmosphäre täglich mindestens vier Stunden arbeiten.

Die Beklagte hat hierzu eine Stellungnahme der Nervenärztin und Dipl.-Psych. B. vorgelegt, die in Auswertung der Befunde zum Ergebnis gelangt ist, die Klägerin könne zwar nicht mehr am bisherigen Arbeitsplatz tätig sein, jedoch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mit qualitativen Einschränkungen sechs Stunden und mehr verrichten.

Mit Urteil vom 7. September 2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, da die Klägerin weder voll noch teilweise erwerbsgemindert sei.

Gegen das am 19. September 2005 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 18. Oktober 2005 Berufung eingelegt. Sie trägt im Wesentlichen vor, sie könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine sechs Stunden arbeiten. Die Leistungseinschätzung des Dr. W. beruhe nicht auf einer hinreichenden fachärztlichen Untersuchung. Nach den Ausführungen von Dr. R. bestehe eine erhebliche Leistungsminderung.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 7. September 2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 15. September 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 8. Dezember 2004 zu verurteilen, ihr Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält eine rentenberechtigende Leistungsminderung für nicht nachgewiesen.

Der Senat hat Dr. R. schriftlich als sachverständigen Zeugen gehört. Er hat über die erhobenen Befunde berichtet und eine emotional instabile und depressiv ängstlich abhängige Persönlichkeit diagnostiziert. Eine Erwerbsminderung sei aus jetziger Sicht für einen Zeitraum von einem Jahr anzunehmen.

Der Nervenarzt Dr. W. ist in seinem Sachverständigengutachten im Wesentlichen zum Ergebnis gelangt, auf neurologischem und psychiatrischem Fachgebiet bestünden eine Angststörung und eine depressive Störung gemischt, eine emotional instabile Persönlichkeitsakzentuierung, eine asthenische Persönlichkeitsstörung und eine histrionische Persönlichkeitsakzentuierung. Die ambulanten Behandlungsmaßnahmen seien nicht ausgeschöpft. Bei konsequenter ambulanter verhaltenstherapeutischer Behandlung und Optimierung der antidepressiven Medikation sei mit einer Besserung innerhalb eines halben Jahres durchaus zu rechnen, sofern zuvor das Rentenverfahren endgültig abgeschlossen sei. Dessen endgültiger Abschluss sei Voraussetzung für einen Erfolg der psychotherapeutischen Behandlung. Eine Gewährung von Rente würde die Störung voraussichtlich aufrecht erhalten. Eine Tätigkeit am alten Arbeitsplatz sei wegen der besonderen Umstände nicht mehr zumutbar. Auch eine verantwortliche Tätigkeit im Hauswirtschaftsbereich mit Leitungsfunktion könne sie nicht verrichten. Bei Vermeidung von Leitungsfunktionen sowie von Schicht-, Akkord- und Nachtarbeitsbedingungen seien leichte körperliche Tätigkeiten sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche durchaus zumutbar, was sich auch aus der Betrachtung des Tagesablaufs ergebe. Der Zustand bestehe seit 1. Februar 2004 und habe sich seitdem nicht wesentlich geändert.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz sowie die Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.

II.

Der Senat entscheidet über die nach den §§ 143, 144 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

Rechtsgrundlage für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie - unter anderem - teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind

Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Die vorstehenden Voraussetzungen sind nicht erfüllt, denn die Klägerin kann zur Überzeugung des Senats zumindest noch leichte Tätigkeiten - wie von Dr. W. beschrieben - sechs Stunden täglich verrichten. Die Klägerin leidet im Wesentlichen unter einer Angststörung und einer depressiven Störung gemischt, einer emotional instabilen Persönlichkeitsakzentuierung, einer asthenischen Persönlichkeitsstörung und einer histrionischen Persönlichkeitsakzentuierung. Dies ergibt sich schlüssig und überzeugend aus dem Sachverständigengutachten des Dr. W. der die Klägerin eingehend untersucht und die Befundangaben der behandelnden Ärzte ausgewertet und angemessen berücksichtigt hat. Darüber hinaus bestehen eine medikamentös eingestellte Hashimoto-Thyreoiditis, ein Tinnitus und eine Gesichtsakne, allerdings ohne wesentliche Relevanz für die Beurteilung des Leistungsvermögens im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung. Weitergehende Gesundheitsstörungen dauerhafter Art, die Einfluss auf das Leistungsvermögen im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung hätten, sind dagegen unter Berücksichtigung aller ärztlicher Äußerungen nicht bewiesen.

Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörungen und auch der Angaben der Klägerin zur Tagesstruktur kann diese nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. W. bei Vermeidung von Leitungsfunktionen sowie von Schicht-, Akkord- und Nachtarbeitsbedingungen leichte körperliche Tätigkeiten sechs Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche verrichten. Der von der Klägerin angegebene Tagesablauf ist durchaus strukturiert. Sie versorgt ihren Haushalt (Aufstehen 5:45 Uhr, Zubereitung des Frühstücks für den Sohn, Morgentoilette, Einnahme des Frühstücks, Erledigung von Besorgungen, Zubereitung oder Aufwärmen des Mittagessens, Hilfe für den Sohn bei den Hausaufgaben, lesen, stricken, spazieren gehen) und sie hat im Übrigen auch zu erkennen gegeben, dass sie an der Wiederaufnahme einer Tätigkeit interessiert ist. Eine unüberwindbare Rückzugstendenz oder Einschränkung ist dem nicht zu entnehmen. Dies steht im Wesentlichen auch in Übereinstimmung mit der Einschätzung des Dr. W. wonach die Klägerin wenigstens sechs Stunden täglich arbeiten kann, wenn keine besonderen psychischen bzw. Stressbelastungen vorliegen. Soweit die Klägerin einwendet, dieser habe sie nicht hinreichend untersucht, vermag der Senat dies nicht nachzuvollziehen, da sie dort von Juni bis September 2003 und ab Juni 2004 in Behandlung war. Desgleichen ist auch Dipl.-Med. G. in der zuletzt von der Beklagten vorgelegten Stellungnahme vom 26. April 2006 zu einem Antrag auf Gewährung von Leistungen zu medizinischen Rehabilitation zum Ergebnis gelangt, die Klägerin könne wenigstens sechs Stunden arbeiten.

Soweit Dr. R. jedenfalls für einen vorübergehenden Zeitraum von einem Leistungsvermögen von unter sechs Stunden ausgeht, kann der Senat seinen Ausführungen hierfür keine überzeugende Begründung entnehmen und ist diese Leistungseinschätzung durch das schlüssige Gutachten von Dr. W. widerlegt.

Im Übrigen sind - wie von Dr. W. überzeugend dargelegt - die Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft und lässt eine angemessene Therapie eine wesentliche Besserung des Leistungsmögens erwarten.

Da die Klägerin somit wenigstens sechs Stunden täglich arbeiten kann und der Gesundheitszustand im Wesentlichen seit Februar 2004 unverändert ist (Dr. W.) , liegen die vorgenannten Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente nicht vor. Das SG hat somit zu Recht die Klage abgewiesen. Damit ist die Berufung zurückzuweisen. Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Die Voraussetzungen für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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