L 2 R 2873/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 7 R 3176/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 2873/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 24. April 2006 abgeändert. Die Beklagte wird unter Änderung der Bescheide vom 21. Juni 2006, 16. August 2006, 1. November 2006 und 5. Februar 2007 verurteilt, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1. Januar 2003 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten der ersten Instanz und 3/4 der außergerichtlichen Kosten der zweiten Instanz zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt einen späteren Beginn seiner Rente wegen voller Erwerbsminderung.

Der am 30. Oktober 1950 geborene Kläger beantragte am 3. August 2001 Rente wegen Erwerbsminderung. Nach Einholung eines Gutachtens des Internisten Dr. G. vom 6. Dezember 2001 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25. Januar 2002 den Rentenantrag ab. Am 25. Februar 2002 erhob der Kläger Widerspruch. Am 14. Mai 2002 erklärte der Kläger sodann, dass das Datum des Rentenantrages auf den 1. Juli 2002 korrigiert werde. Die Beklagte holte ärztliche Befundberichte bei Dr. K vom 22. Mai 2002 und Dr. K vom 14. Juni 2002 sowie ein Gutachten des Dr. M vom 14. Oktober 2002 ein. Der Neurologe und Psychiater Dr. M gelangte aufgrund einer Untersuchung am 3. September 2002 zu einem unter 3-stündigen Leistungsvermögen des Klägers seit 1987. Mit Rentenbescheid vom 27. November 2002 gewährte die Beklagte ab 1. September 2001 Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Aufschiebung des Rentenbeginns auf einen späteren Zeitpunkt sei nicht möglich. Der Rentenbeginn richte sich gem. § 99 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) nach dem sogenannten Leistungsfall. Mithin beginne die Rente ab 1. September 2001, da er seit August 2001 voll erwerbsgemindert sei. Auch ein Verzicht sei gem. § 46 Abs. 2 SGB 1 unzulässig, da hierdurch ein anderer Leistungsträger (Sozialamt) belastet wäre. Auch hiergegen erhob der Kläger Widerspruch, nämlich am 10. Dezember 2002. Die Abrechnung der Rentennachzahlung erfolgte durch die Beklagte mit Schreiben vom 17. April 2003. Mit Rentenbescheid vom 17. Juni 2003 berechnete die Beklagte die gewährte Rente ab 1. September 2003 neu. Mit Bescheid vom 8. März 2004 hat die Beklagte die Rente ab 1. April 2004 neu berechnet.

Am 4. August 2004 bat der Kläger nochmals um Neuberechnung seiner Rente, was die Beklagte als Antrag gem. § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ansah, den sie mit Bescheid vom 25. August 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Dezember 2004 ablehnte.

Am 29. Dezember 2004 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben und u.a. begehrt, die Rente erst zum 1. September 2002 gewährt zu bekommen. Im Termin zur Erörterung des Sachverhalts am 22. Juni 2005 hat er sein Begehren schließlich darauf reduziert, dass der Rentenbeginn erst am 1. September 2002 sein solle. Die Klage auf Gewährung einer "höheren Rente" wegen Anerkennung weiterer Ausbildungszeiten nahm er ausdrücklich zurück. Der durch Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. November 2005, L 2 R 3409/05 PKH-B, im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnete Rechtsanwalt hat dann beantragt, die Erwerbsminderungsrente ab dem 1. Januar 2003, hilfsweise ab dem 1. September 2002, höchsthilfsweise ab dem 1. Juli 2002 zu gewähren. Der Verwaltungsakt sei für den Versicherten erst dann bindend, wenn er unanfechtbar geworden sei. Der Kläger sei in seiner Dispossitionsbefugnis nicht eingeschränkt. Mit Rentenbescheid vom 2. März 2005 und 12. April 2005 hat die Beklagte die gewährte Rente ab 1. April 2005 neu berechnet. Mit Urteil vom 24. April 2006 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25. August 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 2004 verurteilt, den Bescheid vom 27. November 2002 abzuändern und dem Kläger die Rente wegen voller Erwerbsminderung erst ab 1. Juli 2002 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Gegen das dem Kläger am 1. Juni 2006 zugestellte Urteil hat er am 6. Juni 2006 Berufung eingelegt. Der Rentenbeginn könne nur auf den 1. Januar 2003 lauten. Mit Schriftsatz vom 15. Mai 2007 hat er zusätzlich eine höhere Rente unter Anerkennung weiterer Zeiten sowie "Verzinsung" begehrt.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 24. April 2006 abzuändern und die Beklagte unter Änderung der Bescheide vom 21. Juni 2006, 16. August 2006, 1. November 2006 und 5. Februar 2007 zu verurteilen, ihm die gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung erst ab 1. Januar 2003, hilfsweise ab 1. September 2002 zu gewähren sowie eine höhere Rente ab Beginn unter zusätzlicher Anerkennung von 36 Monaten Beitragszeiten für die Erziehung des Sohnes Wieland, weiterer Beitragszeiten ab 1. November 2006 wegen nicht erwerbsmäßiger Pflege seines Vaters zu bewilligen und die Beklagte zur Zahlung von Verzugszinsen ab Beginn der Rente zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen und die Klageerweiterung als unzulässig abzuweisen.

Die angefochtene Entscheidung sei nicht zu beanstanden. Eine weitere Verlegung des Rentenbeginns auf den 1. Januar 2003 sei aufgrund der Regelung des § 46 Abs. 3 Satz 1 SGB I nicht zulässig. Mit Rentenbescheid vom 21. Juni 2006 hat die Beklagte die Rente wegen voller Erwerbsminderung in Ausführung des Urteils ab 1. Juli 2002 gewährt und neu berechnet. Mit Rentenbescheid vom 16. August 2006, 1. November 2006 und 5. Februar 2007 hat die Beklagte die gewährte Rente ab 1. Oktober 2006 bzw. 1. Januar 2007 bzw. 1. April 2007 neu berechnet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten der Beklagten und die Prozessakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist zulässig und begründet. Der Kläger kann beanspruchen, dass er von der Beklagten Rente wegen voller Erwerbsminderung erst ab 1. Januar 2003 gewährt bekommt. Die mit Schreiben vom 15. Mai 2007 erhobene Klage ist hingegen teilweise nicht zulässig, im Übrigen unbegründet. Streitgegenstand ist lediglich noch der das Urteil ausführende und die zuvor erlassenen Bescheide ersetzende (§ 96 SGG i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG) Rentenbescheid vom 21. Juni 2006 sowie die nachfolgenden Bescheide. Nicht zulässigerweise Streitgegenstand ist die Gewährung einer höheren Rente. Wegen der Rechtsgrundlagen wird auf das angefochtene Urteil des SG verwiesen, das sie zutreffend dargelegt hat. Zutreffend hat das SG auch festgestellt, dass der Rentenbescheid vom 27. November 2002 rechtswidrig ist, da der Kläger bereits zuvor den Rentenantrag vom 3. August 2001 zurückgenommen hat, weshalb die Gewährung der Rente ab dem 1. des Folgemonats (s. § 99 SGB VI) nicht erfolgen durfte. Anders als bei Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts ist der Beteiligte in einem Sozialverwaltungsverfahren an seinen Antrag nicht bereits mit dessen Zugang bei der Behörde gebunden, vielmehr kann er ihn jedenfalls bis zum Erlass des Verwaltungsaktes jederzeit zurücknehmen. Ein Rentenantrag ist darüber hinaus aber auch noch nach der Bekanntgabe der Verwaltungsentscheidung rücknehmbar, und zwar solange, bis er unanfechtbar geworden ist (vgl. BSG, Urteil vom 9. August 1995, 13 RJ 43/94, SozR 3 - 2500 § 50 Nr. 3; Peters/Sautter/Wolff/Hommel, § 77 SGG Anm. 4). Entgegen der Auffassung des SG erfolgte die "Änderung des Antragsdatums" auf den 1. September 2002 bzw. 1. Januar 2003 nicht nach Bestandskraft des Bescheides vom 27. November 2002. Denn dieser Bescheid ist nicht bestandskräftig geworden, da dem Widerspruch gegen den Bescheid vom 25. Januar 2002 gerade nicht voll umfänglich abgeholfen und ein diesbezüglicher Widerspruchsbescheid nie erlassen wurde. Zudem hat der Kläger auch gegen den Bescheid vom 27. November 2002 Widerspruch erhoben, der ebenfalls unbeschieden blieb. Da der Rentenbewilligungsbescheid demgemäß niemals bestandskräftig geworden ist, hat der Kläger den Rentenantrag mit Schriftsatz vom 3. Februar 2006 auch auf den 01. Januar 2003 zurückdatieren können, da es sich lediglich um eine teilweise Klagerücknahme handelt. Der Kläger begehrt eine Rente aufgrund des Umstandes, wegen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung nicht mehr voll arbeiten zu können (s. hierzu BSG SozR 4 - 2600 § 43 Nr. 3), nicht mehr ab 1. September 2002, sondern erst ab 1. Januar 2003. Diese Reduzierung des Klageantrags ist gem. §§ 99 Abs. 3 Nr. 2, 102 SGG jederzeit möglich. Entsprechend durfte der Kläger auch mit Schreiben vom 14. Mai 2002 den geltend gemachten Anspruch auf die Zeit ab 1. Juli 2002 und mit der Klage zunächst auf die Zeit ab 1. September 2002 und im weiteren Verlauf ab 01. Januar 2003 reduzieren.

Auch § 46 Abs. 2 SGB I erfordert keine andere Beurteilung. Diese Regelung ist hier schon deshalb nicht einschlägig, weil sie die Freiheit des Berechtigten einen Antrag zu stellen und auch wieder zurückzunehmen, unberührt lässt. Da die Antragsrücknahme zum Wegfall einer notwendigen Tatbestandsvoraussetzung des Rentenanspruchs führt, besteht damit ein verzichtbarer Anspruch nicht (mehr; BSG a.a.O.). Andere Gründe, die die Antragsrücknahme unwirksam erscheinen lassen können, sind nicht ersichtlich. Erstattungsforderungen gem. §§ 102 ff. SGB X führen nicht zu einer Einschränkung der Dispositionsfreiheit des Versicherten (BSG a.a.O.); zudem hat hier die Krankenkasse den Kläger nicht zur Stellung eines Antrages aufgefordert, was nach der Rechtssprechung zu § 51 SGB V dazu führt, dass der Versicherte den gestellten Antrag nur noch mit Zustimmung der Krankenkasse wirksam zurücknehmen oder beschränken kann (vgl. BSGE 52, 26, 29 ff.).

Soweit der Kläger nunmehr mit Schreiben vom 15. Mai 2007 erstmals eine höhere Rente wegen Erwerbsminderung unter Anerkennung von Kindererziehungszeiten und Pflichtbeiträgen (für die Pflege seines Vaters) begehrt, handelt es sich um eine Klageänderung i. S. v. § 99 Abs. 1 SGG. Eine (zulässige) Erweiterung der Klage (§ 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG) ist nicht gegeben, weil Streitgegenstand des bisherigen Verfahrens nich die Rentenhöhe sondern nach dem Termin zur Erörterung des Sachverhalts vom 22. Juni 2005 allein deren Beginn ist. Die Klageänderung ist nicht sachdienlich weil hierzu weitere Ermittlungen notwendig gewesen wären, der bisherige Streitgegenstand jedoch entscheidungsreif ist und die Sache terminiert gewesen ist. Die Beklagte hat sich auch nicht in der Sache eingelassen sondern die Zurückweisung als unzulässig beantragt (§ 99 Abs. 2 SGG). Im Übrigen wäre die Klage unbegründet, weil der Rentenbescheid bezüglich der Rentenhöhe bestandskräftig geworden ist. Die erneute Geltendmachung einer höheren Rente bedarf eines erneuten Verwaltungsverfahrens. Die Klage auf Bewilligung von Zinsen (§ 44 SGB I) ist insofern unzulässig als sich dieser Antrag auf die unzulässige Klageänderung bezieht. Bezüglich der Klage auf späteren Rentenbeginn ist sie unbegründet, weil insoweit Sozialleistungen nicht vorenthalten bzw. fällig geworden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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