L 10 U 1275/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 1915/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 1275/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 14. Februar 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Anerkennung ihrer Gesundheitsstörungen als Berufskrankheit (BK) nach Nr. 1302 oder Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) - nachfolgend BK 1302 bzw. 1317.

Die am 1950 geborene Klägerin arbeitete von 1965 bis 1969 als Schuhfertigerin, danach bis 1986 in der Wäscherei eines Krankenhauses in M. (1969 bis 1971 als Näherin, danach in der Bügelei) und im Anschluss hieran bis September 1994 in einer Textilreinigung. Während der Tätigkeit als Schuhfertigerin bestand eine geringe bis mittlere inhalative Lösungsmittelbelastung, wobei Art und Zusammensetzung der Lösungsmittel und die genaue Höhe unklar sind, für die Tätigkeit in der Krankenhauswäscherei ist eine Belastung durch Lösungsmittel nicht nachgewiesen und während der Tätigkeit in der Textilreinigung bestand eine geringe, zeitweise auch höhere inhalative Belastung durch Perchlorethylen (Bericht der Abteilung für Prävention der Beklagten vom 17. Juli 2005). Bei der Klägerin liegt eine BK 4302 (durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte obstruktive Atemwegserkrankung) vor, für die die Beklagte eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v. H. gewährt (Bescheid vom 24. September 1996).

Der Nervenarzt Dr. B. zeigte am 29. April 2005 das Vorliegen einer BK an (Diagnosen: Neuropathie, Hörminderung, Leistungsminderung in Teilbereichen, zunehmende Wesensänderung mit häufiger Depressivität und Antriebsminderung, schwere chemische Überempfindlichkeit, Asthma, Sensibilisierung im LTT [= Lymphozytentransformationstest], nach langjähriger toxischer Belastung vorwiegend bei der Arbeit).

Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen bei und holte ein nervenärztliches Gutachten bei Prof. Dr. St. , T. , ein. Dieser verneinte einen krankhaften Befund auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet. Dem stimmte die staatliche Gewerbeärztin Eisele in einer Stellungnahme zu.

Mit Bescheid vom 25. Januar 2006 und Widerspruchsbescheid vom 28. März 2006 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer BK 1302 und einer BK 1317 ab.

Die Klägerin hat hiergegen am 27. April 2006 Klage bei dem Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Dieses hat ein nervenärztliches Gutachten bei Dr. B. mit neuropsychologischer Untersuchung durch Dipl.-Psych. W. eingeholt. Die Klägerin leide unter Kopfschmerzen, Migräne und Spannungskopfschmerz. Neuropsychologisch bestehe allenfalls eine leichte Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Es bestünden leichte Ängste und teilweise depressive Verstimmungszustände am ehesten im Sinne einer leichtgradigen Anpassungsstörung. Damit lägen keine Gesundheitsstörungen vor, die mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die Berufstätigkeit der Klägerin zurückzuführen seien. Eine BK 1302 bzw. 1317 liege nicht vor. Die Klägerin hat hierzu eine kritische Stellungnahme von Dr. B. vorgelegt.

Mit Gerichtsbescheid vom 14. Februar 2007 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen, da eine BK 1302 oder eine BK 1317 nicht vorliege. Nach den festgestellten Gesundheitsbeeinträchtigungen, einer allenfalls vorübergehend über den Grenzwerten liegenden beruflichen Belastung mit Lösungsmitteln und dem - näher dargestellten - Krankheits¬verlauf lägen die Voraussetzung hierfür nicht vor. Dies folge aus den Gutachten von Prof. Dr. St. und Dr. B. , während die Einwendungen von Dr. B. nicht überzeugten.

Die Klägerin hat am 9. März 2007 Berufung eingelegt und vorgetragen, sie sei weiterhin der Meinung, dass ihre Nervenschäden Folgen beruflicher Einwirkungen seien. Dies folge aus Ausführungen von Dr. B ... Den Zeitpunkt ihrer "weitlaufenden Untersuchungen" sowie einer Biopsie könne sie noch nicht voraussagen.

Die Klägerin beantragt (sachdienlich gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 14. Februar 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. März 2006 aufzuheben und festzustellen, dass bei ihr eine Berufskrankheit nach Nr. 1302 bzw. Nr. 1307 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung vorliegt.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des Sozialgerichts und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß §§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten gem. § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, denn bei der Klägerin liegt keine BK 1302 oder BK 1317 vor.

Da die Beklagte jedwede Entschädigung ablehnt, weil kein Versicherungsfall eingetreten sei, kann die Klägerin eine Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG erheben. Dies hat die Klägerin bei sinnentsprechender Auslegung ihres Vorbringens (BSG, Urteil vom 7. September 2004, B 2 U 45/03 R in SozR 4-2700 § 2 Nr. 2) auch getan.

Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung oder mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte in Folge einer den Versicherungsschutz nach den § 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krank¬heiten als BKen zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs. 1 Satz 2 erster Halbsatz SGB VII). Zu den vom Verordnungsgeber bezeichneten BKen gehören nach Nr. 1302 der Anlage zur BKV Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe und nach Nr. 1317 Polyneuropathien oder Enzephalopathien durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische.

Nach ständiger Rechtsprechung müssen im Unfallversicherungsrecht die anspruchsbe-gründenden Tatsachen, nämlich die versicherte Tätigkeit, die schädigende Einwirkung (Berufskrankheit) und die als Unfallfolge geltend gemachte Gesundheitsstörung erwiesen sein, d. h. bei vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens muss der volle Beweis für das Vorliegen der genannten Tatsachen als erbracht angesehen werden können (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 30. April 1985, 2 RU 43/84 in SozR 2200 § 555a Nr. 1). Hingegen genügt hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung (haftungsbegründende Kausalität) sowie der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung (haftungsausfüllende Kausalität) eine hinreichende Wahrscheinlichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 30. April 1985, a.a.O.); das bedeutet, dass bei vernünftiger Abwägung aller wesentlichen Gesichtspunkte des Einzelfalls mehr für als gegen einen Ursachenzusammenhang sprechen muss, wobei dieser nicht schon dann wahrscheinlich ist, wenn er nicht auszuschließen oder nur möglich ist. (vgl. BSG, Urteil vom 2. November 1999, B 2 U 47/98 R in SozR 3-1300 § 48 Nr. 67; Urteil vom 2. Mai 2001, B 2 U 16/00 R in SozR 3-2200 § 551 Nr. 16). Kommen mehrere Ursachen in Betracht (konkurrierende Kausalität), so sind nur solche Ursachen als rechtserheblich anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich beigetragen haben (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 1988, 2/9b RU 28/87 in SozR 2200 § 548 Nr. 91). Kann ein behaupteter Sachverhalt nicht nachgewiesen oder der ursächliche Zusammenhang nicht wahrscheinlich gemacht werden, so geht dies nach dem im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Grundsatz der objektiven Beweislast zu Lasten des Beteiligten, der aus diesem Sachverhalt Rechte herleitet, bei den anspruchsbegründenden Tatsachen also zu Lasten des jeweiligen Klägers (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juni 1991, 2 RU 31/90 in SozR 3-2200 § 548 Nr. 11).

Der Senat kann offen lassen, ob die Klägerin während ihrer beruflichen Tätigkeit schädigenden Substanzen - das heißt solchen, die geeignet wären eine BK 1302 bzw. BK 1317 hervorzurufen (Perchlorethylen gehört zu den Halogenkohlenwasserstoffen, s. Mehrtens/Perlebach, Die Berufskrankheitenverordnung, M 1302 Rdnr. 6) - in einem erheblichen Ausmaß ausgesetzt war. Eine BK 1317 scheidet jedenfalls aus, da keine Enzephalopathie oder Polyneuropathie nachgewiesen ist. Eine BK 1302 ist zu verneinen, da ein Zusammenhang der Erkrankungen der Klägerin mit der Einwirkung von Halogenkohlenwasserstoffen nicht wahrscheinlich gemacht werden kann.

Nach dem Gutachten von Dr. B. , dem der Senat folgt, ist eine Polyneuropathie zu verneinen. Die hierfür typischen Befunde sind weder in den Berichten der behandelnden Ärzte noch bei der Untersuchung durch Dr. B. oder Prof. Dr. St. festgestellt worden. Auch eine Enzephalopathie lässt sich nicht mit der notwendigen Sicherheit feststellen. Die typischen Befunde (diffuse Störungen der Hirnfunktion, Konzentrations- und Merkschwächen, Auffassungsschwierigkeiten, Denkstörungen, Persönlichkeitsveränderungen, im späteren Stadium auch nachweisbare Leistungsminderungen mit neurologischen Befunden wie Tremor, Ataxie und anderen Koordinanationsstörungen) fanden sich bei den dokumentierten ärztlichen Behandlungen der letzten Jahre nicht und sind auch von Dr. B. nicht festgestellt worden. Die apparatemedizinischen Untersuchungen (insbesondere Elektroneurographie und Elektroenzephalographie) durch Dr. B. und Prof. Dr. St. haben keine klaren Hinweise auf fassbare Erkrankungen ergeben. Die nächtlichen Missempfindungen an den Händen können durch eine sensibel betontes Karpaltunnelsyndrom erklärt werden. Die von der Klägerin vorgebrachten leichten Kribbelmissempfindungen der Beine sind nach Dr. B. diagnostisch nicht zu klären gewesen. Damit kann auch nicht von einer Polyneuropathie ausgegangen werden. Aber selbst unter der Annahme, es handle sich um eine klinisch noch nicht fassbare Polyneuropathie könnte diese - so zutreffend Dr. B. - angesichts des Endes der Berufstätigkeit 1994 und dem Beginn der Beschwerden (2003) nicht auf eine berufliche Exposition zurückgeführt werden. Die von Dr. B. vermutete Myopathie (Muskelerkrankungen mit Muskelschwächen) hat Dr. B. nicht nachweisen können. Die weiteren - eher diffusen - Beschwerdeangaben der Klägerin (Glieder-, Gelenkschmerzen; Magen-Darmbeschwerden; Knirschen mit den Zähnen) hat Dr. B. keiner fassbare Erkrankung zuordnen können. Die neuropsychologisch festgestellte, allenfalls leichte Einschränkung der kognitiven Leistungsfähigkeit (Reduktion der Aufmerksamkeits- bzw. Konzentrationsleistung, leichte Defizite in der Merkfähigkeit, Einschränkungen beim Planen und Handeln) lässt den Schluss auf eine fassbare Erkrankung ebenfalls nicht zu. Dipl.-Psych. W. hat in seinem Zusatzgutachten ausgeführt, dass in einer Vergleichsgruppe körperlich und seelisch gesunder Personen auch bei 8 % der Probanden vergleichbare Testergebnisse aufträten. Lediglich bei Werten, die sehr deutlich und systematisch vom Mittelwertsbereich abweichen würden, sei die Möglichkeit einer von außen verursachten Einwirkung auf das Gehirn anzunehmen. Hierfür seien jedoch die Ergebnisse der Klägerin, die etwa im Bereich des spontanen Merkens verbalen Materials überdurchschnittliche Leistungen erbracht hat, zu inhomogen. Dies erscheint dem Senat überzeugend.

Damit leidet die Klägerin nach den Feststellungen von Dr. B. unter Kopfschmerzen. Weiterhin besteht eine Atemwegserkrankung. Hinzu kommen Beeinträchtigungen aus dem psychiatrischen Bereich. Deutlich waren in der neuropsychologischen Untersuchung negative Abweichungen im Bereich der Fragebögen zu Depressionen und Angst. Der Senat kann offen lassen, ob insoweit eine Erkrankung der Klägerin besteht. Dr. B. hat hieraus mit einiger Unsicherheit ("am ehesten") auf eine leichtgradige Anpassungsstörung geschlossen. Dies passt zu den Feststellungen der behandelnden Ärzte, wie sie Dr. B. im Einzelnen dargelegt hat.

Es besteht kein wahrscheinlicher Zusammenhang dieser Erkrankungen mit einer Beeinflussung durch Halogenkohlenwasserstoffe. Dies ergibt sich zwanglos für die seit 1980 wiederkehrenden Kopfschmerzen, die Dr. B. einerseits einer Migräne bzw. chronischen Spannungskopfschmerzen zugeordnet hat, andererseits einer bei der Klägerin diagnostizierten Nasennebenhöhlenentzündung. Etwas anderes folgt aber auch nicht für die - wie dargestellt: leichten - Einschränkungen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Die Feststellungen - so Dipl.-Psych. W. - fügen sich nicht in das Bild einer Schädigung des Gehirns durch Gifte; insoweit ist eher ein allgemeiner Abbau der Leistungsfähigkeit zu erwarten, der hier nicht besteht. Dass die leichtgradige Anpassungsstörung keine Folge des Einflusses von schädigen Berufstoffen sein kann, ist dieser Diagnose immanent. Die Atemwegserkrankung der Klägerin ist eine BK 4302 und wird bereits entschädigt.

Die kritischen Anmerkungen von Dr. B. sind nicht geeignet, die Aussagen im Gutachten von Dr. B. zu entkräften. Dr. B. beschränkt sich auf eine allgemeine Kritik, ohne auf die Einzelheiten im Fall der Klägerin näher einzugehen. Die von ihm für notwendig erachteten weiteren Untersuchungen, auch auf augenärztlichem oder HNO-ärztlichem Fachgebiet, hält der Senat nicht für notwendig, nachdem Dr. B. solches nicht angeregt hat.

Es bleibt dabei, dass bei der Klägerin keine Erkrankung nachgewiesen ist, die geeignet ist, eine Anerkennung als BK 1302 oder 1317 zu begründen. Der Umstand, dass bei der Klägerin noch die Ergebnisse von "weitlaufenden Untersuchungen" ausstehen, steht einer Entscheidung des Senats nicht entgegen, denn es ist nicht einmal im Ansatz erkennbar, welche zusätzlichen Erkenntnisse hieraus gewonnen werden könnten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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