L 10 U 2777/07 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 1801/07 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 U 2777/07 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. § 168 Abs. 2 SGB VII erfordert für die Rücknahme bestandskräftiger Beitragsbescheide zuungunsten des Beitragspflichtigen die Ausübung von Ermessen (Anschluss an Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 20.03.2007, L 2 U 46/03).
2. Ausgangs- und Widerspruchsbescheid bilden gemäß § 95 SGG eine prozessuale Einheit, sodass Fehler, auch Ermessensfehler, die im Ausgangsbescheid noch nicht enthalten waren und erst im Widerspruchsbescheid auftreten, zur Rechtswidrigkeit insgesamt und Aufhebung beider Bescheide führen.
3. Der Streitwert ist in Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung auf ein Viertel der geltend gemachten Forderung festzusetzen (Anschluss an den Streitwertkatalog für die Sozialgerichtsbarkeit).
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Karlsruhe vom 24.04.2007 aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung der beim Sozialgericht Karlsruhe anhängigen Klage gegen die Bescheide vom 30.11.2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.2007 wird angeordnet.

Die Beschwerdegegnerin trägt die Kosten des Antrags- und Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird - auch für das erstinstanzliche Verfahren – auf 1.618,65 EUR festgesetzt.

Gründe:

Die Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist zulässig und begründet.

Das Sozialgericht hat im angefochtenen Beschluss zutreffend die rechtlichen Grundlagen (§86b Abs. 1 und § 86a Sozialgerichtsgesetz - SGG -) für die hier begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung der beim Sozialgericht anhängigen (S 1 U 1194/07) Klage gegen die vier Bescheide vom 30.11.2006 dargelegt, mit denen die Beschwerdegegnerin Beitragsnachforderungen für die Jahre 2001, 2003 bis 2005 in Höhe von insgesamt 6.474,61 EUR erhebt. Auf diese Ausführungen des Sozialgerichts nimmt der Senat Bezug.

Anders als das Sozialgericht bejaht der Senat die Voraussetzungen für die begehrte Anordnung, nämlich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen vier Verwaltungsakte.

Im Rahmen seiner summarischen Prüfung geht der Senat auf Grund des Vortrags der Beteiligten ebenso wie das Sozialgericht trotz Fehlens der entsprechenden Vorgänge in der vorgelegten Verwaltungsakte davon aus, dass die Beschwerdegegnerin für die in Rede stehenden Beitragsjahre 2001, 2003 bis 2005 entsprechende, bestandskräftig gewordene Beitragsbescheide erließ.

Dementsprechend benötigt die Beschwerdegegnerin eine Rechtsgrundlage für die Durchbrechung der Bestandskraft dieser Beitragsbescheide. In diesem Zusammenhang stellt der Senat Bedenken zurück, die sich daraus ergeben, dass die vier angefochtenen Bescheide vom 30.11.2006 über Beitragsänderungen für die genannten Abrechnungsjahre weder eine Äußerung hinsichtlich des jeweiligen bestandskräftig gewordenen Beitragsbescheides enthalten - schon gar nicht in Form eines Verfügungssatzes über dessen Rücknahme - noch die Rechtsgrundlage für eine Durchbrechung der Bestandskraft des jeweiligen Beitragsbescheides darlegen, woraus sich möglicherweise der Wille der Beschwerdegegnerin ableiten ließe, diese Vorschrift auch anzuwenden. Der bloßen Nachforderung von Beiträgen stünde die Rechtskraft der früheren Beitragsbescheide entgegen.

Als Rechtsgrundlage für eine Rücknahme des jeweiligen früheren Beitragsbescheides käme nur § 168 Abs. 2 des Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) in Betracht. Danach darf der Beitragsbescheid mit Wirkung für die Vergangenheit zuungunsten der Beitragspflichtigen nur dann aufgehoben werden, wenn - hierauf beruft sich die Beschwerdegegnerin - der Lohnnachweis unrichtige Angaben enthält (Nr. 2 erste Alternative). Diese Vorschrift erfordert die Ausübung von Ermessen (Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 20.03.2007, L 2 U 46/03 mit weiteren Nachweisen). Auch die Beschwerdegegnerin bezweifelt dies nicht, sodass der Senat auf eine nähere Darstellung der Argumentation verzichtet und auf das den Beteiligten zur Verfügung gestellte Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg verweist.

Entgegen der Auffassung der Beschwerdegegnerin übte sie das geforderte Ermessen jedoch nicht aus. Dabei kann offen bleiben, ob die von der Beschwerdegegnerin herangezogene, aus zwei Sätzen bestehende Textpassage im jeweiligen Bescheid vom 30.11.2006 ("Nach § 76 SGB IV sind Beiträge vollständig zu erheben. Gründe, die es rechtfertigen, von der Nacherhebung abzusehen, sind in Ihrem Fall nicht ersichtlich") als Ermessensausübung angesehen werden könnte. Zweifel bestehen insoweit, als diese formelhafte Textpassage augenscheinlich im Formularvordruck bereits enthalten ist, damit routinemäßig und ohne inhaltliche Prüfung ausgedruckt wird, auf die konkreten Umstände des Einzelfalles also gerade nicht abstellt und darüber hinaus Zweifel bestehen, ob die jeweils entscheidende Stelle sich tatsächlich darüber im Klaren war, dass hier Ermessen ausgeübt werden musste. Außerdem bezieht sich diese Textpassage in erster Linie auf § 76 Viertes Buch Sozialgesetzbuch, der die Erhebung der Einnahmen regelt (einschließlich der Befugnis zu im Ermessen des Versicherungsträgers stehenden vergleichsweisen Regelungen), nicht aber auf die - hier im Vordergrund stehende und damit diesbezüglich Ermessen erfordernde - Frage einer Rücknahme bestandskräftiger Beitragsbescheide.

Maßgebend ist vielmehr, dass in dem den Widerspruch der Beschwerdeführerin gegen diese Bescheide vom 30.11.2006 zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 07.02.2007 an keiner Stelle die Ausübung von Ermessen in Rede steht oder solches gar ausgeübt wird. Da im Rahmen des Widerspruchsverfahrens aber nicht nur die Rechtmäßigkeit, sondern auch die Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns zu überprüfen ist (§ 78 Abs. 1 Satz 1 SGG ), hat die Widerspruchsbehörde eigenes Ermessen auszuüben (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 13.11.1981, 1 C 69/78 in NJW 1982, 1413).

Nach § 95 SGG ist Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Dies bedeutet, dass Ausgangs- und Widerspruchsbescheid eine prozessuale Einheit bilden, der Widerspruchsbescheid in Tenor und Begründung die maßgebliche Gestalt gibt, sodass auch die Ermessenserwägungen der Widerspruchsbehörde maßgebend sind (BVerwG, a.a.O. zur inhaltsgleichen Regelung des § 79 Abs. 1 Nr. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -; ebenso und ausführlich Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 18.04.2001, 1 B 543/00, u.a. in Juris mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung und Literatur). Ebenso wie der Widerspruchsbescheid Fehler des Ausgangsbescheides, auch Ermessensfehler, heilen kann, führen Fehler, die im Ausgangsbescheid noch nicht enthalten waren und erst im Widerspruchsbescheid auftreten zur Rechtswidrigkeit insgesamt und Aufhebung beider Bescheide (BVerwG, Urteil vom 21.10.1964, V C 14.63 in BVerwGE 19, 327; Sächsisches Oberverwaltungsgericht, a.a.O., mit weiteren Nachweisen), eben weil der Ausgangsbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheides maßgebend ist. Enthielt der Ausgangsbescheid - was hier allerdings, wie dargelegt, sehr fraglich ist - zutreffende Ermessenserwägungen, die jedoch von der Widerspruchsbehörde nicht übernommen wurden, etwa weil diese von einer gebundenen Entscheidung ausging, handelt es sich insgesamt um eine Entscheidung ohne Ermessensausübung.

Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass für die Frage der Ermessensausübung auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid abzustellen ist. Hierzu ist festzustellen, dass sich im Widerspruchsbescheid - ebenso wie in den Ausgangsbescheiden - das Wort Ermessen an keiner Stelle findet, dass ausschließlich die materielle Rechtslage erörtert wird und dass am Ende des Widerspruchsbescheides dargelegt wird, der Widerspruchsausschuss habe den Sachverhalt und die Rechtslage eingehend geprüft und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die angefochtenen Bescheide zu Recht erteilt worden seien. Mit diesen Ausführungen gab der Widerspruchsausschuss zu erkennen, dass er Sachverhalt und Rechtslage prüfte. Er hätte jedoch auch die Zweckmäßigkeit der getroffenen Regelung prüfen und damit insbesondere - eigenes - Ermessen ausüben müssen. Es kann dabei offen bleiben, ob es ausreichend gewesen wäre, wenn der Widerspruchsausschuss die von der Beschwerdegegnerin aus den Ausgangsbescheiden zitierte Textpassage in seine Begründung, z. B. durch Bezugnahme, übernommen hätte (s. hierzu oben). Denn eine derartige Übernahme der Argumentation aus den Ausgangsbescheiden lässt sich dem Widerspruchsbescheid gerade nicht entnehmen. Alles deutet vielmehr daraufhin, dass sich der Widerspruchsausschuss seiner Verpflichtung zur Ausübung eigenen Ermessens nicht bewusst war.

Damit leidet nicht nur der Widerspruchsbescheid an einem zur Rechtswidrigkeit führenden Fehler, sondern dieses Defizit der Ermessensausübung führt auch zur Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides, unabhängig davon, ob in den Ausgangsbescheiden Ermessen betätigt wurde.

Angesichts dieser erheblichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide ist deren Vollziehung auszusetzen und besteht keinerlei Grund, diese Entscheidung mit Auflagen zu versehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 63 Abs. 2 und § 54 Abs. 1 GKG und der Erwägung, dass für die hier in Rede stehende Aussetzung der Vollziehung ein Viertel des streitgegenständlichen Betrages anzusetzen ist (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.02.2007, L 5 KR 2854/06 W-A; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 20.02.2004, L 2 ER 59/03 U; Streitwertkatalog für die Sozialgerichtsbarkeit). Die Befugnis des Senats zur Änderung der Festsetzung in erster Instanz folgt aus § 63 Abs. 3 GKG.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG, § 68 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
Rechtskraft
Aus
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