L 7 AL 1335/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AL 2049/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 AL 1335/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 15. Februar 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rücknahme der Bewilligung von Arbeitslosengeld (Alg) ab 1. März 2004 sowie über die Rückforderung im Zeitraum vom 1. März bis 31. Dezember 2004 von der Beklagten gezahlten Leistungen in Höhe von 7304,22 EUR.

Der am 1948 geborene Kläger, ein kroatischer Staatsangehöriger, war zuletzt ab 1. Januar 1993 als Bauarbeiter bei der Firma A.H. Bauunternehmung GmbH in T. versicherungspflichtig beschäftigt. Mit Schreiben vom 28. Oktober 2003 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger betriebsbedingt zum 29. Februar 2004. Bereits am 16. Dezember 2003 meldete sich der Kläger beim Arbeitsamt Reutlingen - Geschäftsstelle T. - arbeitslos und beantragte die Zahlung von Alg. Der ausgefüllte Antragsvordruck ging am 4. März 2004 auf der Geschäftsstelle T. ein. Beigefügt war die Arbeitsbescheinigung des Arbeitgebers vom 1. März 2004, wonach das Beschäftigungsverhältnis bis 29. Februar 2004 gedauert habe. Auf dem Antragsvordruck vermerkte der Kläger, dass er gegen seinen Arbeitgeber beim Arbeitsgericht Reutlingen Ansprüche wegen der Zahlung einer Abfindung geltend gemacht habe.

Mit Bescheid vom 16. März 2004 bewilligte die Beklagte dem Kläger Alg ab 1. März 2004 in Höhe von 167,09 EUR wöchentlich (Anspruchsdauer 780 Tage).

Zwischenzeitlich hatte das Arbeitsgericht Reutlingen durch Urteil vom 10. März 2004 (Az. 5 Ca 644/03) entschieden, dass das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht aufgelöst worden ist. Laut Vermerktext des Arbeitsamts vom 16. März 2004 (Bl. 20 d. A.) teilte der Sohn des Klägers einer Arbeitsamtsbediensteten telefonisch mit, dass die Arbeitslosmeldung hinfällig sei; sein Vater sei vom 8. Dezember 2003 bis 21. März 2004 krankgeschrieben und fange am 22. März 2004 wieder bei seinem alten Arbeitgeber an. Gleichwohl wurde in der Folgezeit und bis zum 31. Dezember 2004 Alg in der bewilligten Höhe an den Kläger weitergezahlt.

Am 25. Januar 2005 rief der Sohn des Klägers erneut auf der Geschäftsstelle des Arbeitsamts in T. an und teilte mit, dass sein Vater den Nachweis über den Leistungsbezug bekommen habe, er sei jedoch seit Mai arbeitsunfähig und beziehe Krankengeld von der AOK. Sein Vater sei laut Gerichtsbeschluss ca. März/April 2004 wieder eingestellt worden. Er glaube nicht, dass sein Vater Alg bezogen habe bzw. noch beziehe.

Mit Bescheid vom 10. März 2005 nahm die Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Alg ab 1. März 2004 zurück und forderte den Kläger zur Erstattung der im Zeitraum, vom 1. März bis 31. Dezember 2004 bezogenen Leistungen auf. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde durch Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 3. Juni 2005 zurückgewiesen.

Am 23. Juni 2005 hat der Kläger dagegen Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben und zunächst zur Begründung vorgetragen, er habe überhaupt kein Alg bezogen. Nach Einsichtnahme in die Verwaltungsakte der Beklagten hat er angegeben, bis zur Akteneinsicht sei er der festen Auffassung gewesen, dass er aufgrund der Weiterbeschäftigung beim alten Arbeitgeber und der entsprechenden Anzeige beim Arbeitsamt ausschließlich Lohn und kein Alg erhalten habe. Dies habe er auch annehmen dürfen, da er zeitlich nach dem Urteil des Arbeitsgerichts Reutlingen vom 10. März 2004 mehrfach bei der Beklagten angerufen und dort mitgeteilt habe, dass er wieder bei dem alten Arbeitgeber arbeite. Dies werde u. a. durch den Vermerktext der Arbeitsamtsgeschäftsstelle T. vom 16. März 2004 bestätigt. Er sei deshalb mit Fug und Recht davon ausgegangen, seiner Obliegenheitspflicht nachgekommen zu sein. Er sei bis heute der deutschen Sprache und Schrift nicht vollständig mächtig und habe seine Kontoauszüge weder auf Richtigkeit noch auf Vollständigkeit kontrolliert und auch die Kontenbewegungen nicht nachvollzogen, sondern sich ausschließlich am Kontostand orientiert. Er berufe sich auf den Wegfall der Bereicherung, da er im Vertrauen auf den Bestand und die Richtigkeit des Überweisungsgrundes die Alg-Zahlungen für allgemeine Lebenshaltungskosten ausgegeben habe. Sein Vertrauen sei im Hinblick auf den mitgeteilten Sachverhalt schutzwürdig.

Die Beklagte ist der Klage entgegen getreten. Sie räumt ein, dass der Sohn des Klägers am 16. März 2004, also am Tag nach der Bewilligung von Alg, auf der Arbeitsamtsgeschäftsstelle angerufen und mitgeteilt habe, dass sein Vater zunächst krank sei und danach beim bisherigen Arbeitgeber weiterbeschäftigt werde. Diese Mitteilung sei nicht bis in die Leistungsabteilung des Arbeitsamts gelangt, sodass die Beendigung der Bewilligung nicht habe verfügt werden können. Gleichwohl habe der Kläger zumindest grob fahrlässig gehandelt, weil er schon einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt und daher nicht beachtet habe, dass er Leistungen erhalte, obwohl diese ihm gar nicht zugestanden hätten. So könne davon ausgegangen werden, dass es nicht der täglichen Übung entspreche, dass ein mit Bankgeschäften befasster Bürger nicht regelmäßig seine Kontoauszüge prüfe. Es sei nicht die Regel, dass bei der Vielzahl der zwischenzeitlich durch Bankeinzug funktionierenden Geldgeschäfte eine Prüfung auf deren Richtigkeit nicht erfolge. Ein solches Verhalten sei schon an sich als grob fahrlässig zu werten. Hinzu komme, dass der Kläger schon während des Antragsverfahrens seinen Sohn eingeschaltet habe, der sich offenbar nicht unwesentlich um die Belange seines Vater gekümmert habe. Es werde keineswegs verkannt, dass ein Bürger grundsätzlich auf die Richtigkeit amtlichen Handelns vertrauen könne. Auf die Richtigkeit einer getroffenen Verwaltungsentscheidung könne sich der Kläger aber jedenfalls dann nicht berufen, wenn diese offensichtlich falsch sei, z. B. weil der Behörde - wie hier - ein krasser Fehler unterlaufen sei.

Durch Urteil vom 15. Februar 2007 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, die Rücknahme der Bewilligung von Alg in der Zeit vom 1. März bis 31. Dezember 2004 in Höhe von 7.304,22 EUR sei zu Recht erfolgt und verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Bescheid finde seine Rechtsgrundlage in § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Die Bewilligung sei rechtswidrig gewesen, da dem Kläger zu Unrecht Alg im streitigen Zeitraum zuerkannt und ausgezahlt worden sei. Ein Leistungsfall sei beim Kläger nicht eingetreten, weil er vom 8. Dezember 2003 bis 21. März 2004 krank geschrieben gewesen sei und ab 22. März 2004 bei seinem alten Arbeitgeber die Beschäftigung fortgesetzt habe. Er sei daher nicht arbeitslos im Sinne der §§ 117, 118 und 119 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) in der Zeit bis zum 31. Dezember 2004 gewesen und habe daher keinen Anspruch auf Alg gehabt. Der Kläger genieße auch keinen Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 S. 2 SGB X. Die Voraussetzungen der Nrn. l und 2 seien nicht erfüllt, der Kläger habe zu keinem Zeitpunkt unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht, sondern ausweislich des Vermerktexts der Arbeitsamtsgeschäftsstelle T. vom 16. März 2004 durch seinen Sohn der Arbeitsamtsbediensteten Riester mitteilen lassen, dass die Arbeitslosmeldung zum 1. März 2004 hinfällig sei, er vom 8. Dezember 2003 bis 21. März 2004 krank geschrieben sei und ab 22. März 2004 bei seinem "alten" Arbeitgeber die Beschäftigung fortsetze. Eine frühere Mitteilung sei ihm nicht möglich gewesen, da das Arbeitsgericht Reutlingen erst mit dem rechtskräftigen Urteil vom 10. März 2004 entschieden habe, dass das Arbeitsverhältnis zwischen ihm und der Firma A.H. Bauuternehmung GmbH durch die Kündigung nicht aufgelöst worden ist. Allerdings lägen die Voraussetzungen § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X vor. Zwar könne dem Kläger keine positive Kenntnis unterstellt werden, dass ihm die Leistungen überhaupt nicht zugestanden hätten. Es sei jedoch von grob fahrlässiger Unkenntnis auszugehen. Der Kläger hätte leicht und ohne große Überlegungen erkennen können und müssen, dass ihm die Leistungen im streitigen Zeitraum nicht gebührten. Jedermann - auch der Kläger - wisse, dass man nicht für den gleichen Zeitraum vollen Lohn (im Rahmen eines fortgesetzten Beschäftigungsverhältnisses) und eine Lohnersatzleistung (wegen Arbeitslosigkeit) beziehen könne. Angesichts dieser äußerst einfachen und naheliegenden Sachlage hätte dem Kläger klar sein müssen, dass ihm das bewilligte Alg ohne bestehende Arbeitslosigkeit nicht zugestanden habe. Unbeachtlich sei insoweit, dass er seiner Obliegenheit gegenüber der Beklagten nachgekommen sei. Zwar habe der Kläger die Beklagte durch die Information des Sohnes davon in Kenntnis gesetzt, dass eine Arbeitslosigkeit bei ihm nicht eingetreten sei. Soweit dann die Beklagte - aufgrund ihres eingeräumten Amtsverschuldens - gleichwohl Alg bewilligt und ausgezahlt habe, beruhe dies auf einem solch krassen Fehler, dass der Kläger die Leistung nicht habe entgegennehmen und verbrauchen dürfen. Der Einwand, er habe die Bewilligungen auf seinem Konto, auf das die Beklagte das Alg überwiesen hatte, nicht kontrolliert, könne den Kläger nicht entlasten. Dieser habe im Rahmen seiner Befragung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass er nach Zusendung der Kontoauszüge durch die Bank nur darauf schaue, über welches Guthaben er aktuell verfüge. Auch bei diesem (eingeschränkten) Blick auf den jeweiligen Saldenstand habe ihm nicht verborgen bleiben können, dass ihm der Größenordnung nach 730 EUR - das sei in etwa der überwiesene monatliche Alg-Betrag - mehr zur Verfügung gestanden habe, als wenn er von seinem Arbeitgeber nur den Lohn aus seinem Beschäftigungsverhältnis überwiesen bekommen hätte. Dies könne dem Kläger schlechterdings nicht entgangen sein. Dieser könne sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtig zu sein. Es bedürfe nämlich keiner Deutschkenntnisse, um die im Wesentlichen aus Zahlen bestehenden Kontoauszüge zu lesen und zu verstehen. Auch die übrigen Voraussetzungen der Rücknahme lägen vor. Entgegen der Rechtslage, wie sie bis 31. Dezember 1993 bestanden habe, bedürfe die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts nicht mehr der Ermessensbetätigung der Beklagten, wie sie insbesondere bei Vorliegen eines Amtsverschuldens vorzunehmen gewesen sei. Dies ergebe sich aus dem ab 1. Januar 1994 in Kraft getretenen § 152 Abs. 2 Arbeitsförderungsgesetz (AFG), der wortgleich mit dem seit 1. Januar 1998 geltenden § 330 Abs. 2 SGB III sei.

Gegen das seinem Prozessbevollmächtigten am 9. März 2007 durch Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat der Kläger am 13. März 2007 Berufung beim Landessozialgericht eingelegt, mit welcher er sein bisheriges Vorbringen im Wesentlichen wiederholt und dazu vorbringt, sein Vertrauen in den Bestand der Bewilligung sei bei einer Abwägung zwischen öffentlichem und privatem Interesse gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X schutzwürdig. Dies sei unter Berücksichtigung aller Umstände zu ermitteln, insbesondere Alter, Bildungsstand, finanziellen Verhältnissen des Betroffenen, Verursachungsgrad beim Zustandekommen des Fehlers, Vertrauensbetätigung u.a. Vorliegend habe die Behörde den Fehler allein verschuldet, was eine Rücknahme zwar nicht ausschließe. Er sei seiner Anzeigeverpflichtung jedoch voll und ganz nachgekommen. Wenn die Behörde diese Mitteilungen nicht verwerte, sei von einem groben Fehler auszugehen, der sein Vertrauen des Klägers nachhaltig gestärkt habe. Die grobe Fahrlässigkeit sei nach der Rechtsprechung auch unter Berücksichtigung der individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit sowie der Persönlichkeit jedes einzelnen zu beurteilen. Es möge zutreffen, dass die vom Sozialgericht genommenen Maßstäbe zur Prüfung der Kontoauszüge für einen großen Bevölkerungsanteil gelten würden. Der sei jedoch ein einfacher Aushilfsarbeiter ohne qualifizierten Schulabschluss, der sich nach der Zuwanderung in die Bundesrepublik als Hilfsarbeiter im Baugewerbe verdingt habe und in dieser Stellung entlassen worden sei. Sämtliche Behördenangelegenheiten habe vor der Trennung seine Ehefrau und später der Sohn besorgt. Der Kläger selbst habe bis heute Sprach- und Leseschwierigkeiten. Alle Tätigkeiten und Obliegenheiten bei Ämtern, Versicherungen und Kassen und auch der Bankverkehr seien ihm ein Gräuel. Insoweit sei zutreffend und nachvollziehbar, dass sich er hinsichtlich seines Kontos allein am Guthabenstand orientiert habe, ohne eine Prüfung der einzelnen Kontobewegungen vorzunehmen. In der Überzeugung von der Richtigkeit seines Kontoguthabens habe er die Leistungsbezüge zur allgemeinen Lebensführung verbraucht und könne sich daher auf eine Entreicherung berufen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 15. Februar 2007 und den Bescheid der Beklagten vom 10. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 3. Juni 2005 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil sowie die streitbefangenen Bescheide für zutreffend.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig. Sie ist unter Beachtung der Form- und Fristvorschriften des § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt worden sowie statthaft (§ 143 SGG), weil der Wert des Beschwerdegegenstandes mehr als 500,- Euro beträgt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Berufung ist jedoch unbegründet.

Verfahrensrechtliche Grundlage der kassatorischen Entscheidung der Beklagten ist die Bestimmung des § 45 SGB X in der Modifikation durch § 330 Abs. 2 SGB III. § 45 SGB X ist - in Abgrenzung zu § 48 SGB X - dann anzuwenden, wenn der ursprüngliche Bewilligungsbescheid bereits zum Zeitpunkt seiner Bekanntgabe rechtswidrig war (vgl. BSGE 74, 20, 23 = SozR 3-1300 § 48 Nr. 32; BSG, Urteil vom 14. März 1996 - 7 RAr 84/94 - (JURIS)). Die Beurteilung der Rechtswidrigkeit bestimmt sich hierbei nach den tatsächlichen und materiellen Verhältnissen im Zeitpunkt des Erlasses des begünstigenden Verwaltungsakts (vgl. BSG SozR 3-1500 § 54 Nr. 18); spätere Änderungen der Rechts- und Sachlage spielen insoweit keine Rolle (s. hierzu eingehend BSG vom 20. April 1993 SozR 3-1500 § 54 Nr. 18 m.w.N.). Nach § 45 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 330 Abs. 2 SGB III ist ein begünstigender Verwaltungsakt unter Beachtung der Einschränkungen der Abs. 2 und 4 von § 45 SGB X ganz oder teilweise zurückzunehmen. Auf Vertrauensschutz (vgl. § 45 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB X) kann sich der Begünstigte u. a. nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (§ 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X).

Die Voraussetzungen für eine Rücknahme des Bescheides vom 16. März 2004 sind für die Zeit ab 1. März 2004 gegeben. § 330 Abs. 2 SGB III schreibt die Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes unter den Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X zwingend vor (vgl. z. B. BSG SozR 3-4100 § 117 Nr. 13; SozR, a.a.O. § 152 Nr. 8), sodass weder Raum für eine gesonderte Vertrauensschutzprüfung noch eine Ermessensentscheidung verbleibt.

Der Bewilligungsbescheid war (von Anfang an) rechtswidrig, da der Kläger nicht arbeitslos war, insbesondere das Arbeitsverhältnis nicht durch die betriebsbedingte Arbeitgeberkündigung beendet worden war, wie das Arbeitsgericht Reutlingen durch rechtskräftiges Urteil vom 10. März 2004 für Recht erkannt hat. Damit erfüllte er nicht die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Alg (vgl. §§ 117 ff. SGB III). Gegenüber der Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit kann sich der Kläger nicht auf Vertrauensschutz berufen. Auch wenn ihm ein Verstoß gegen seine Mitteilungspflichten nicht vorgehalten werden kann und damit hinsichtlich des Bewilligungsbescheides die Vorschrift des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X nicht einschlägig ist, war er bösgläubig i.S. des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X. Hiernach kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Maßgeblicher Zeitpunkt für das Kennen oder die grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit ist der Erlass (Bekanntgabe) des zurückzunehmenden begünstigenden Verwaltungsaktes (vgl. hierzu BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 24 S. 82; SozR a.a.O. Nr. 39 S. 127; Wiesner in von Wulffen u.a., SGB X, 5. Aufl., § 45 Rdnr. 23; Steinwedel in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Band 2, § 45 Rdnr. 41).

Vorliegend datiert der Bewilligungsbescheid, dessen Zugang vom Kläger nicht bestritten wird, vom 16. März 2004. Bei einer Aufgabe zur Post noch am selben Tag wäre daher nach der gesetzlichen Fiktion des § 37 Abs. 2 SGB X von einer Bekanntgabe am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, also am 19. März 2004, auszugehen; bei einer späteren Aufgabe zur Post verschiebt sich der Zeitpunkt der (fiktiven) Bekanntgabe entsprechend. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bewilligungsbescheids lag beim Kläger nach der Überzeugung des Senats Bösgläubigkeit im Sinne positiver Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Bescheids vor. Dies wird dadurch belegt, dass der Sohn des Klägers, der von diesem zur Erledigung seiner Angelegenheiten eingeschaltet worden war, bereits am 16. März 2004, also am Tag des Erlasses des Bewilligungsbescheids, bei einem Mitarbeiter des Arbeitsamts angerufen und diesem ausweislich des hierüber gefertigten, von der Klägerseite inhaltlich nicht bestrittenen Vermerktexts mitgeteilt hat, dass die "Arbeitslosmeldung hinfällig" sei, da sein Vater krankgeschrieben sei und anschließend vom alten Arbeitgeber weiterbeschäftigt werde. Ist somit davon auszugehen, dass bereits zu diesem Zeitpunkt auch beim Kläger Kenntnis von der "Hinfälligkeit" seiner Arbeitslosmeldung wegen erfolgender Weiterbeschäftigung bestand, so erstreckte sich diese Kenntnis nach der Überzeugung des Senats darauf, dass ihm kein Alg zustand. Denn das Wissen darum, dass nicht im gleichen Zeitraum Arbeitslohn und Lohnersatzleistungen bezogen werden dürfen, kann auch bei Personen mit geringem Bildungsniveau wie dem Kläger als Allgemeingut angesehen werden. Vor dem Hintergrund dieser positiven, bis zur Bekanntgabe des Bescheids fortdauernden Kenntnis vom Nichtbestehen eines Alg-Anspruchs durfte der Kläger auch nicht davon ausgehen, der ihm zugegangene Bescheid sei wegen zeitlicher Überschneidung mit dem Anruf seines Sohnes beim Arbeitsamt gegenstandslos bzw. habe sich erledigt. Dies durfte der Kläger auch unter Zugrundelegung seines einfachen Bildungsniveaus und der Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache nicht annehmen, zumal er im Zweifel für weitere Nachfragen bei der Beklagten auf seinen Sohn hätte zurückgreifen können, den er bereits in dieser Angelegenheit eingeschaltet hatte.

Dem Kläger ist daher Fehlverhalten im Sinne des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X anzulasten, ohne dass es auf die vom SG tragend herangezogenen Verschuldensgesichtspunkte in Bezug auf die (Nicht-) Kontrolle der Zahlungseingänge auf seinem Girokonto ankommt. Der Beweisanregung der Klägerseite, ein Sachverständigengutachten zur Urteils- und Kritikfähigkeit des Klägers im Umgang mit Bankauszügen einzuholen, brauchte daher mangels Entscheidungserheblichkeit nicht nachgegangen zu werden.

Da § 330 Abs. 2 SGB III unter den Voraussetzungen dieser Bestimmung die Rücknahme des begünstigenden Verwaltungsaktes im Umfang seiner Rechtwidrigkeit zwingend vorschreibt, ist ein Mitverschulden der Beklagten an der Leistungsüberzahlung ohne Bedeutung; ebenso wenig greifen Härtegesichtspunkte ein (vgl. Urteil des Senats vom 19. Juli 2006 - L 7 AL 248/05 -). Soweit sich der Kläger unter Bezug auf das Fehlverhalten der Beklagten auf die Vertrauensschutzregelung des § 45 Abs. 2 Sätze 1 und 2 SGB X beruft (vgl. zur "wesentlich verursachten Überzahlung" auch BSG SozR 3-1300 § 45 Nr. 38), vermag diese ihn schon deswegen nicht zu begünstigen, weil er sich - wie ausgeführt - aufgrund der Bösgläubigkeit hinsichtlich der Leistungsgewährung nicht auf ein solches Vertrauen berufen kann (§ 45 Abs 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X). Die in § 45 Abs. 3 und 4 SGB X genannten Fristen sind eingehalten. Der Kläger ist daher nach § 50 Abs. 1 SGB X verpflichtet, die im streitbefangenen Zeitraum überzahlten Leistungen zu erstatten. Der von der Beklagten errechnete Rückforderungsbetrag ist auch in der Höhe nicht zu beanstanden; diesen Betrag hat der Kläger zu erstatten. Über die Modalitäten der Rückzahlung war vorliegend nicht zu entscheiden (vgl. BSG SozR 1200 § &61492;2 Nr. 4 S. 18; SozR 3-1300 § 48 Nr. 37 S. 84).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved