L 4 P 1804/07

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 9 P 664/06
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 1804/07
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 05. März 2007 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin erhebt Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegestufe I.

Die am 1992 geborene Klägerin, über ihre Eltern bei der Beklagten pflegeversichert, leidet unter einer psychischen Entwicklungsstörung bei leichter geistiger Behinderung und Verhaltensstörungen, einem erheblichen Übergewicht (80kg bei 155cm Körpergröße) sowie einer Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke. Seit November 2004 ist im Sinne des Neunten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB IX) ein Grad der Behinderung (GdB) von 90 festgestellt (Bescheid des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis vom 11. April 2005). Die Klägerin besucht eine Schule für Behinderte (E.-N.-Schule in M.).

Auf den Antrag vom 13. Mai 2005 erstellte Ärztin Dr. B. vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) in M. das Gutachten vom 01. Juli 2005. Die Gutachterin nannte als Fähigkeitsstörungen Verkennen oder Verursachen gefährdender Situationen, aggressives Verhalten, Störungen der höheren Hirnfunktionen mit Problemen bei der Bewältigung von Alltagsleistungen sowie Unfähigkeit, den Tagesablauf zu planen und zu strukturieren. Täglicher Hilfebedarf bestehe bei der Körperpflege (Teilwäsche Unterkörper, Duschen, Zahnpflege) von sechs Minuten, bei der Nahrungsaufnahme von zehn Minuten und bei der Mobilität (Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Entkleiden) von sieben Minuten. Dies ergebe für die Grundpflege 23 Minuten, hinzu kämen für die Hauswirtschaft 30 Minuten pro Tag. Durch Bescheid vom 14. Juli 2005 lehnte die Beklagte den Leistungsantrag ab, da mehr als 45 Minuten täglich für die Grundpflege nicht erreicht würden. Mit dem Widerspruch hiergegen wurde unter Hinweis auf den GdB von 90 vorgetragen, man müsse auf sie rund um die Uhr aufpassen. Sie sei nicht in der Lage, für sich zu sorgen. Man könne sie von morgens bis zum Schlafengehen nicht unbeaufsichtigt lassen. In der Schule sei sie bereits einmal misshandelt worden. Der Besuch der Gutachterin habe allenfalls fünf Minuten gedauert. Die Mutter habe die Arbeitsstelle aufgeben müssen. Insbesondere könne sie das Haus nicht ohne Begleitung verlassen. Die behandelnden Ärzte Dres. G.-Y. und Y. bestätigten auf Anfrage der Beklagten vom 28. Juli 2005 den Hilfebedarf dem Grunde nach, hielten jedoch - ohne präzise Formulierung - einen höheren Zeitaufwand für erforderlich. Behandlung finde seit 2000 durchschnittlich zweimal im Monat statt. Die Beklagte holte das Gutachten nach Aktenlage der Pflegefachkraft Bu. vom MDK in M., vom 05. Oktober 2005 ein. Die Gutachterin kam zum Ergebnis, die Klägerin sei zu den meisten Verrichtungen nach vorheriger Aufforderung allein in der Lage. Für die Körperpflege könne eine Minute mehr als im Vorgutachten angesetzt werden, sodass sich der grundpflegerische Hilfebedarf auf 24 Minuten belaufe. Unter Bezugnahme auf dieses Gutachten erließ der Widerspruchsausschuss der Beklagten den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 2006, zugestellt am 25. Januar 2006.

Mit der am 24. Februar 2006 zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhobenen Klage trug die Klägerin vor, sie bedürfe ständiger Aufsicht. Sie werde renitent und laut, weil sie etwa die Notwendigkeit der Körperpflege nicht einsehe. Sie dürfe nicht allein in die Stadt gehen. Immerhin habe sie seit November 2004 den GdB von 90 zugesprochen erhalten. Sie könne keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen oder einkaufen. Lesen und Schreiben habe sie nicht gelernt. Im Übrigen würden Kinder, die in dieselbe Schule gingen, nachweislich Pflegegeld erhalten. Sie müsse zur Haltestelle des Schulbusses (etwa 100 m entfernt) begleitet werden. Sie könne die Geldstücke nicht unterscheiden.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Ärztin (Psychotherapie) Dr. G.-Y. erstattete zunächst die schriftliche Zeugenaussage vom 10. April 2006. Die Klägerin sei zunehmend schwieriger unter Kontrolle zu halten, sei aggressiv gegenüber den eigenen und fremden Leuten. Die Ärztin legte Arztbriefe über weitere ambulante und stationäre Behandlungen aus den Jahren 2003 und 2006 bei. Die Klassenlehrerin der E.-N.-Schule M. (Schuljahr 2004/2005, sechstes Schuljahr) erstattete den Bericht vom 22. Juli 2005; inzwischen habe die Klägerin Fortschritte im Erlesen von kürzeren Wörtern gemacht, sie nehme am Lese- und Rechenkurs sowie am muttersprachlichen Unterricht teil. Ferner zog das SG die Schwerbehindertenakten des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis bei. Ärztin Dr. G.-Y. erstattete auf Antrag nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) das Gutachten vom 04. Dezember 2006. Sie bestätigte, dass die Klägerin zu allen Verrichtungen ständig angeleitet werden müsse. Sie könne nicht ohne Aufsicht die Wohnung verlassen. Der zeitliche Aufwand sei nicht mit der Stoppuhr zu messen, da sie sich immer wieder den Anweisungen widersetze. Die Eltern hätten es schwer, sich gegen das aggressive Mädchen durchzusetzen. Auch sei auf einen Missbrauchsfall in der Schulpause hinzuweisen. Die Klägerin sei nicht in der Lage, Gefahrensituationen richtig einzuschätzen und sich gegenüber Übergriffen zu verteidigen. Das SG führte im Anschluss daran mit Eltern und Schwester den Erörterungstermin vom 31. Januar 2007 durch, in dem die tatsächlichen Angaben präzisiert wurden.

Durch Gerichtsbescheid vom 05. März 2007 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung legte es dar, ein allgemeiner Betreuungs- oder Aufsichtsbedarf könne eine Pflegestufe auch dann nicht begründen, wenn dieser Bedarf auf einer psychiatrischen Erkrankung oder Behinderung beruhe. Die Ungleichbehandlung gegenüber Menschen mit körperlicher Behinderung sei durch sachliche Gründe gerechtfertigt. Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber bewusst darauf verzichtet habe, die allgemeine Beaufsichtigung und soziale Betreuung in die Feststellung der Pflegebedürftigkeit einfließen zu lassen. Nach den im Wesentlichen übereinstimmenden Gutachtensergebnissen werde für die Katalogverrichtungen der für Pflegestufe I erforderliche Aufwand von mehr als 45 Minuten bei weitem nicht erreicht. Schließlich könnten die Verhaltensauffälligkeiten zumindest teilweise auch als altersentsprechend gewertet werden. Eine regelmäßige ärztliche Behandlung sei nicht notwendig.

Gegen den am 14. März 2007 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 10. April 2007 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Sie verbleibt dabei, ohne ständige Hilfe und Betreuung durch die Mutter sei sie nicht "lebensfähig"; sie wäre total "hilflos". Die Sachverständige Dr. G.-Y. habe die geistige Retardierung bestätigt. Hinzu kämen die Verhaltensstörung und die psychische Entwicklungsstörung. Die Mutter habe die Arbeitsstelle aufgeben müssen. Viele Verrichtungen der Grundversorgung seien nur nach stundenlangen Diskussionen und Anleitung durch die Mutter durchführbar. Allenfalls die gewohnte Busfahrt zur Sonderschule und zurück sei selbstständig möglich. Es handele sich nicht, wie das SG gemeint habe, teilweise um pubertäre Schwierigkeiten. Nur durch ständige Betreuung könne Schaden vermieden werden. Ein Zuschuss im Rahmen des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) stehe nicht zu (Schreiben der Stadt Mannheim vom 21. März 2007). Es müsse ein weiteres Gutachten erhoben werden.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 05. März 2007 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 14. Juli 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. Januar 2006 zu verurteilen, ihr ab 01. Mai 2005 Pflegegeld nach Pflegestufe I zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und ihre Bescheide für zutreffend.

Zur weiteren Darstellung wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist in der Sache nicht begründet. Das SG hat im angefochtenen Gerichtsbescheid zutreffend entschieden, dass die Beklagte im streitgegenständlichen Bescheid vom 14. Juli 2005 (Widerspruchsbescheid vom 18. Januar 2006) die Leistung von Pflegegeld ablehnen durfte.

Gemäß § 37 Abs. 1 Satz 1 des Elften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) können Pflegebedürftige anstelle der häuslichen Pflegehilfe ein Pflegegeld beantragen. Dies setzt voraus, dass der Pflegebedürftige mit dem Pflegegeld dessen Umfang entsprechend die vorrangige Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung in geeigneter Weise selbst sicherstellt (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB XI). Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XI sind für die Gewährung von Leistungen bei häuslicher Pflege pflegebedürftige Personen einer der drei Pflegestufen zuzuordnen. Pflegebedürftig nach der niedrigsten Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen (Nr. 1 der Vorschrift). Gemäß § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI muss der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt 1. in der Pflegestufe I mindestens 90 Minuten betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen, 2. in der Pflegestufe II mindestens drei Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen, 3. in der Pflegestufe III mindestens fünf Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen.

Gemäß § 15 Abs. 2 SGB XI ist bei Kindern für die Zuordnung der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend. Die Grundpflege umfasst die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen aus den Bereichen der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- oder Blasenentleerung, § 14 Abs. 4 Nr. 1 SGB XI), der Ernährung (mundgerechtes Zubereiten oder Aufnahme der Nahrung, Nr. 2) und der Mobilität (selbständiges Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung, Nr. 3).

Der Zeitaufwand für die Grundpflege erreicht hier den für die Pflegestufe I vorausgesetzten Zeitaufwand von über 45 Minuten nicht. Der Senat stützt sich auf die von der Beklagten beim MDK veranlassten Gutachten der Ärztin Dr. B. vom 01. Juli 2005 und der Pflegefachkraft Bu. vom 05. Oktober 2005, die nur ganz geringfügig voneinander abweichen (23 bzw. 24 Minuten). Die Gutachterin Bu. hat in Abweichung von Ärztin Dr. B. ohne detaillierte Begründung und im übrigen unter Bezugnahme auf das Vorgutachten für die Körperpflege eine Minute mehr (sieben statt sechs Minuten) angesetzt. Laut Gutachten Dr. B. entfallen auf die Teilwäsche Unterkörper zwei Minuten, auf die Teilwäsche Hände/Gesicht zwei Minuten und auf die Zahnpflege zwei Minuten. Bei der Ernährung (Nahrungsaufnahme) haben die Gutachterinnen übereinstimmend für drei Mahlzeiten am Tag einen Zeitaufwand von insgesamt zehn Minuten gesehen. Schließlich besteht Übereinstimmung, dass für die Mobilität sieben Minuten zu berücksichtigen sind (Aufstehen- Zu-Bett-Gehen vier Minuten, Ankleiden zwei Minuten und Entkleiden eine Minute). Gegen einzelne Zahlenansätze sind seitens der Klägerin durchgreifende Einwendungen nicht erhoben worden. Mithin ist der Zeitaufwand noch weit von 45 Minuten entfernt.

Weiterer Zeitaufwand ist nicht zu berücksichtigen. Dass der zeitliche Aufwand für die Betreuung geistig und psychisch Behinderter und für die Beaufsichtigung zur Vermeidung einer Selbst- oder Fremdgefährdung bei der Bemessung des Pflegebedarfs nicht zu berücksichtigen ist, entspricht gefestigter Rechtsprechung (vgl. etwa Bundessozialgericht - BSG - SozR 3-3300 § 14 Nr. 6). Die Berechnung des Zeitaufwands ist auf den Katalog der gesetzlich abschließend aufgezählten Verrichtungen beschränkt. Hierzu gehört nicht, dass aufgrund des erheblichen Defizits im Rahmen der Kommunikation und Motivation bei behinderten Menschen eine ständige Bezugsperson erforderlich ist. Diese allgemeine Beaufsichtigung und Anleitung, sei es auch wegen der Gefahr des Weglaufens oder übermäßigen Essens, sei es auch beim Weg zum Schulbus und bei der Abholung von diesem, darf nicht mitgezählt werden. Die gesetzliche Pflegeversicherung will nicht sämtliche Risiken der Pflegebedürftigkeit abdecken, sondern nur ein begrenztes gesetzgeberisches Zielprogramm verwirklichen. Dazu dient vor allem der abgeschlossene Katalog der Verrichtungen des § 14 Abs. 4 SGB XI, der lediglich körperliche Grundvoraussetzungen erfasst und die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit an die Unfähigkeit zur Ausführung dieser für die Aufrechterhaltung einer eigenen Lebensführung und eines eigenen Haushalts nötigen Verrichtungen knüpft. Ausgeschlossen von der Berechnung des Pflegebedarfs ist nach alledem auch die Unterstützung durch Hilfspersonen bei der Kommunikation und dem Austausch mit anderen Menschen. Genau auf diese Lebensbereiche zielt aber das Gutachten der behandelnden Psychotherapeutin Dr. G.-Y. vom 14. Dezember 2006, das auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 SGG eingeholt wurde. Die Bemerkung der Sachverständigen, der zeitliche Aufwand sei "nicht mit einer Stoppuhr zu messen", da sich die Klägerin regelmäßig den Anweisungen der Mutter widersetze und diese Mühe habe sich durchzusetzen, bestätigt genau diese Problematik. Der Gesetzgeber hat, da die Pflegeversicherung nicht den Charakter einer Vollversicherung annehmen kann, exakt die Verrichtungen bezeichnet, die "mit der Stoppuhr" gemessen werden können. Dass die Mutter wegen des Allgemeinzustandes der Klägerin ihre Beschäftigung aufgeben musste und dadurch der Familie ein Einkommensausfall entsteht, soll von der Pflegeversicherung nicht ausgeglichen werden.

Auch aus dem Umstand, dass ein GdB von 90 nach dem SGB IX festgestellt ist, kann keine "erhebliche Pflegebedürftigkeit" abgeleitet werden. Das Schwerbehindertenrecht befasst sich mit Funktionseinschränkungen und soll die Integration Behinderter in Gesellschaft und Erwerbsleben fördern; dies hat keinen Bezug zum zeitlichen Aufwand für die Pflege. Anlass für die Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens hat nach alledem nicht bestanden. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe zur Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved