Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 2 SB 5733/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 6288/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. November 2006 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung) hat.
Der 1933 geborene Kläger hielt sich in der Zeit vom 20.10.2004 bis 17.11.2004 stationär in der Klinik P. B. zur urologisch-onkologischen Nachsorge auf. Als Diagnosen wurden gestellt: Prostatakarzinom, erektile Dysfunktion, Verdacht auf zyklothyme Depression, Adipositas permagna und Halswirbelsäulensyndrom. Im Rahmen des Befundes wurden die großen Gelenke der Extremitäten als frei beweglich beschrieben. Es bestünden eine Varikosis beider Unterschenkel und diskrete Unterschenkelödeme beidseits. In der sozialmedizinischen Beurteilung wird ausgeführt, hinsichtlich Selbstversorgung und sozialer Eigenständigkeit bestünden keine Einschränkungen. Eine Gewichtsreduktion (131 kg bei 175 cm Körpergröße) sei nach wie vor erforderlich.
Nach Rückkehr aus der Rehabilitationsmaßnahme beantragte der Kläger am 08.12.2004 die Feststellung seines Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wegen der Folgen eines Prostatakarzinoms und eines Halswirbelsäulensyndroms. Er machte außerdem eine starke Gehbehinderung geltend. Der behandelnde Facharzt für Orthopädie Dr. G. berichtete dem Beklagten am 21.01.2005, der Kläger empfinde eine "subjektive Schwäche" beim Gehen. Er habe einen Gehstock als Gehhilfe verordnet. Als Diagnosen auf orthopädischem Fachgebiet benannte er belastungsabhängige Rückenschmerzen in der unteren Lendenwirbelsäule, beginnende degenerative Hüftgelenksveränderungen und ein degeneratives Halswirbelsäulensyndrom. Die Neurologin Dr. W. teilte dem Beklagten mit, allgemeinmedizinisch springe das starke Übergewicht des Klägers ins Auge. Wenn der Kläger angebe, in seinem Bewegungsablauf Schwierigkeiten zu haben, wie etwa Treppen zu steigen, so sei dies nachvollziehbar. Das Gehvermögen in der Ebene sei wenig bzw. nicht eingeschränkt, die Einschränkung finde beim Treppengehen statt.
Durch Bescheid vom 19.05.2005 wurde wegen der Funktionsbeeinträchtigungen Erkrankung der Prostata (in Heilungsbewährung) und Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, muskuläre Verspannungen, Adipositas permagna der Grad der Behinderung (GdB) mit 70 seit dem 01.07.2004 festgestellt. Gleichzeitig wurde die Anerkennung von Merkzeichen abgelehnt.
Der Kläger erhob am 09.06.2005 Widerspruch. Er sei auf das Merkzeichen "G" angewiesen, um seine notwendige Ernährung bezahlen zu können. Denn nur wenn er einen Ausweis mit dem Merkzeichen "G" besitze, werde ihm vom Sozialhilfeträger ein Mehrbedarf zum maßgeblichen Regelsatz anerkannt. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 08.08.2005 zurück. Nach Auswertung der ärztlichen Unterlagen wurde in den Tenor der Funktionsbeeinträchtigungen die vom Kläger geltend gemachte Polyneuropathie aufgenommen. Eine Erhöhung des Grades der Behinderung werde dadurch jedoch nicht bedingt. Die beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen seien in vollem Umfang erfasst und unter Berücksichtigung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2004 (AHP) mit einem GdB von 70 angemessen bewertet. Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens lägen nicht vor. Denn Funktionsbeeinträchtigungen, welche die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr rechtfertigten, seien nicht beschrieben. Der Kläger könne Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden, weiterhin bewältigen.
Dagegen erhob der Kläger am 7. September 2005 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) mit dem Begehren, ihm das Merkzeichen "G" zuzuerkennen. Zur Begründung verwies er darauf, dass er durch die wegen des Prostatakarzinoms notwendig gewordene Strahlentherapie gesundheitlich Schaden genommen habe. Der Ausfall von motorischen Funktionen mehrerer Nerven und die Auswirkungen der Polyneuropathie führten zu einer erheblichen Einschränkung der ihm zumutbaren Wegstrecke.
Das SG hörte die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen.
Der Allgemeinmediziner Dr. D. teilte dem SG am 01.10.2005 mit, die diagnostizierte Polyneuropathie, Tonusminderung der Muskulatur und Schmerzausstrahlung vom Wirbelsäulensyndrom hier wirkten sich auf die Gehfähigkeit des Klägers aus. Übliche Wegstrecken im Ortsverkehr könne der Kläger aufgrund seiner Schmerzen im Lumbalwirbelbereich und wegen Gangunsicherheit bei Polyneuropathie bei Sturzgefahr nicht mehr zu Fuß zurücklegen. Seiner Auffassung nach bedingten die Behinderungen an den unteren Gliedmaßen bzw. an der Lendenwirbelsäule einen GdB, welcher größer als 50 sei.
Der behandelnde Orthopäde des Klägers Dr. G. wiederholte in seiner Aussage gegenüber dem SG am 04.10.2005 die bereits im Verwaltungsverfahren benannten Diagnosen. Die degenerativen Wirbelsäulenveränderungen an Hals- und Lendenwirbelsäule schätze er mit einem GdB von 30 ein. Der Kläger habe eine Gehbehinderung wegen der Verlangsamung seines Gehtempos. Es bestehe die Notwendigkeit zur Benutzung eines Gehstockes, welcher im Januar 2005 verordnet worden sei. Nach neurologischem Befundbericht bestehe eine Einschränkung der maximalen Gehstrecke auf 500 m. Behinderungen an den unteren Gliedmaßen bzw. an der Lendenwirbelsäule bedingten allein oder zusammen keinen GdB von 50, Versteifungen von Hüft-, Knie- oder Fußgelenk lägen nicht vor, ein inneres Leiden sei nicht bekannt und der Kläger leide auch nicht an einer schweren geistigen Behinderung oder einer erheblichen Sehbehinderung.
Der Allgemeinmediziner Dr. B. berichtete dem SG am 11.10.2005, er betreue den Kläger als Hausarzt und verweise auf den orthopädischem Bericht von Dr. G ...
Die Hals-Nasen-Ohren Ärztin Dr. T. berichtete dem SG am 20.10.2005, der Kläger leide unter einem Halswirbelsäulensyndrom und einem leicht- bis mittelgradigen Lagerungsschwindel. Bei Vorliegen einer Schwindelattacke wirke sich diese erheblich auf die Gehfähigkeit des Kläger aus. Im Falle eines Schwindelanfalles könne er übliche Ortsstrecken nicht zurücklegen. Im Übrigen hänge die Gehstrecke von der Tagesform ab.
Daraufhin beauftragte das SG den Internisten und Sozialmediziner Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens. Gleichzeitig veranlasste es Zusatzbegutachtungen auf neurologischem Fachgebiet durch den Nervenfacharzt Dr. S. und auf orthopädischem Fachgebiet durch den Arzt für Chirurgie, Notfallmedizin und Sozialmedizin Dr. N ... In seinem Gutachten vom 29.05.2006 benannte Dr. S. zusammenfassend folgende Diagnosen: Restbeschwerden nach Bestrahlung und hormonaler Behandlung eines Prostatacarcinoms ohne Anhalt für Rezidiv oder Metastasen, beginnende Polyneuropathie, leichter Herzmuskelschaden, funktionelle Beschwerden bei primärpersönlichen Besonderheiten, DD beginnendes hirnorganisches Psychosyndrom, länger zurückreichende ängstlich-depressive Symptomatik, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und Adipositas permagna sowie Krampfadern. Beim Kläger sei im April 2004 eine bösartige Erkrankung der Prostata entdeckt und nachfolgend mit zahlreichen Bestrahlungen behandelt worden. Gleichzeitig habe er eine Hormontherapie erhalten. Beide Behandlungen seien typischerweise mit beschwerdeverursachenden Nebenwirkungen verbunden, welche zum Teil noch anhielten. Die Nebenwirkungen seien in typischer Form aufgetreten: die Hormontherapie habe Schweißausbrüche verursacht und die Bestrahlung neben allgemeinen Störungen des Befindens und einer generellen Schwächung des Kräftezustandes eine leichte Polyneuropathie ausgelöst, welche funktional nicht bedeutsam sei.
Weder aus nervenärztlicher noch aus chirurgisch-orthopädischer Sicht habe sich der objektive Befund eines organischen Schadens feststellen lassen, welcher zur Gehbehinderung führe und die erhebliche Beeinträchtigung des Gehvermögens erkläre. Die vom Kläger vorgebrachte Theorie, dass ein Schaden vorliegen müsse, weil Bestrahlungen grundsätzlich Schadensfolgen hätten, reiche aufgrund fehlender messbarer Befunde nicht aus, um die zum Teil deutlich vorstellungsbedingt imponierenden Auswirkungen (zeitweiser Gebrauch eines Rollators) hinreichend plausibel zu machen. Die Restbeschwerden nach Bestrahlung und hormonaler Behandlung eines Prostatakarzinoms sowie die beginnende Polyneuropathie würden bis Ablauf der Heilungsbewährung mit einem GdB von 60, der Herzmuskelschaden mit einem GdB von 20, die seelischen Störungen mit funktionellen körperlichen Beeinträchtigungen mit einem GdB von 30, die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderung der Wirbelsäule und Adipositas mit einem GdB von 30 und die Krampfadern mit einem GdB von 10, sowie der Gesamt-GdB mit 90 geschätzt.
Grundsätzlich wirkten sich zwar das Wirbelsäulenleiden und die venöse Stauung an den Beiden auf die Gehfähigkeit aus, so dass es bei längerer Belastung zu Schmerzen seitens der Wirbelsäule und zu einem Schweregefühl in den Beinen kommen könne. Auch die Herzschwäche könne sich bei stärkeren Beanspruchungen wie etwa längerem Bergaufgehen oder Gehen in raschem Tempo auswirken. Der Kläger könne aber noch ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahren für sich oder andere die üblichen Wegstrecken im Ortsverkehr (etwa 2 km in einer halben Stunde) zu Fuß zurücklegen. Auch bedingten Behinderungen an den unteren Gliedmaßen und an der Lendenwirbelsäule allein oder zusammen keinen GdB von 50. Andere erhebliche Gründe, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führten, lägen ebenfalls nicht vor. Einwendungen des Klägers wies der Gutachter Dr. S. in einer ergänzenden medizinischen Stellungnahme vom 18.09.2006 zurück. Er wies insbesondere darauf hin, dass eine relevante Behinderung des Gehvermögens durch ein Beinlymphödem nicht habe festgestellt werden können.
Das SG wies die Klage mit Urteil vom 27.11.2006 ab. Es entschied, der Kläger sei nicht erheblich gehbehindert, weshalb ihm das Merkzeichen "G" nicht zuerkannt werden könne. Die Leiden des Klägers führten zwar zu Schmerzen beim Gehen, aber nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Zur Urteilsfindung stütze sich die erkennende Kammer insbesondere auf die Ausführungen des Gutachters Dr. S. und die Darlegungen in den Zusatzgutachten der Dres. N. und S ... Danach habe sich die beginnende Polyneuropathie bisher nicht ausgewirkt und es seien auch keine sonstigen Funktionsbehinderungen der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule gegeben, welche einen GdB von 50 bedingten. Die Kammer habe sich des weiteren nicht davon überzeugen können, dass eine Behinderung aus der Störung des Lymphsystems resultiere.
Gegen das am 04.12.2006 zugestellte Urteil des SG hat der Kläger am 07.12.2006 Berufung eingelegt. Er hat geltend gemacht, die Begutachtung durch Dr. S. weise Mängel auf, insbesondere werde die Schädigung des Lymphsystems von ihm zu gering bewertet. Die Entscheidung des Sozialgerichts übersehe, dass nach den AHP auch innere Leiden eine Einschränkung des Gehvermögens bewirken könnten. Er sei durch seine Darmerkrankung sehr geschwächt und fühle sich vom SG missverstanden. Es werde um alsbaldige Entscheidung in seinem Sinne gebeten, ein Eilantrag werde aber nicht gestellt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. November 2006 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 19. Mai 2005 abzuändern, den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 8. August 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm ab dem 1. Juli 2004 das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung des SG für zutreffend. Der Gutachter Dr. Schumacher habe eine gravierende Auswirkung der klägerischen Erkrankungen auf das Gehvermögen nicht bestätigen können.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die von dem Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.
II.
Der Senat entscheidet über die nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Feststellung des Merkmals "G".
Maßgebliche Rechtsgrundlagen sind seit dem 1. Juli 2001 die Vorschriften des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX), die an die Stelle der durch dieses Gesetz aufgehobenen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind (Artikel 63, 68 SGB IX vom 19. Juni 2001, BGBl. I S. 1046). Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden ebenfalls die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden auf Grund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs. 5 SGB IX).
Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden.
Bei der Prüfung der Voraussetzungen von Nachteilsausgleichen orientiert sich der Senat im Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten an den Bewertungsmaßstäben, wie sie in den AHP niedergelegt sind (BSG, Urteil vom 15. März 1979 - 9 RVs 6/77 - BSGE 48, 82; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 7. November 2001 – B 9 SB 1/01 R - VersorgVerw 2002, 26). Die AHP besitzen zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhen. Sie sind vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, und haben deshalb normähnliche Auswirkungen. Sie sind daher im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285, 286; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 91, 205; BSG, Urteil vom 29. August 1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). In den AHP ist der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Sie ermöglichen somit eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Feststellung von Nachteilsausgleichen. Die AHP stellen dabei ein einleuchtendes, abgewogenes und geschlossenes Beurteilungsgefüge dar (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22).
Nach § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Als Wegstrecken, welche im Ortsverkehr - ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall - üblicherweise noch zurückgelegt werden, gelten solche von maximal 2 km bei einer Gehdauer von etwa 30 Minuten (BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87 - SozR 3870 § 60 SchwbG Nr. 2). Nach den AHP kann eine derartige Einschränkung des Gehvermögens angenommen werden, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB um wenigstens 50 bedingen (AHP, 30 Abs. 3 Satz 1, S. 137 f.). Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei einem GdB von unter 50 auch gegeben sein, wenn sich diese Behinderungen an den unteren Gliedmaßen auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B bei einer Versteifung des Hüft-, Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 (AHP, 30 Abs. 3 Satz 2, S. 138).
Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 (AHP, 30 Abs. 3 Satz 3, S. 138 i. V. m. AHP 26.9 S. 71 ff.) und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades (AHP, 30 Abs. 3 Satz 3, S. 138 i. V. m. AP 26.8 S. 68) anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z. B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen (AHP, 30 Abs. 3 Satz 4, S. 138 i. V. m. AP 26.12 S. 89).
Die AHP beschreiben Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können. Entscheidend ist danach im vorliegenden Fall, ob allein die bei dem Kläger festgestellten körperlichen Regelwidrigkeiten mit den von ihnen ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen die Bewegungsfähigkeit einer gedachten Person ebensoweit herabsetzen, wie in den in den AHP (beispielhaft) genannten Fällen. Erst dann ist nach dem Erfahrungswissen ärztlicher Sachverständiger, das sich in den AHP niedergeschlagen hat, anzunehmen, dass der/die Behinderte die Strecke von 2 km nicht mehr innerhalb von 30 Minuten zurücklegen kann (BSG, Urteil vom 27. August 1993 - B 9 SB 13/97 R - VersorgVerw 1999, 47 m. w. N.).
Der Senat schließt sich der Einschätzung des SG an und verneint eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit des Klägers im Straßenverkehr. Aufgrund der vom SG erhobenen Gutachten der Dres. S., N. und S. leidet der Kläger an Restbeschwerden nach Bestrahlung und hormoneller Behandlung eines Prostatakarzinoms, beginnender Polyneuropathie ohne funktionelle Beeinträchtigungen, einem Herzmuskelschaden, einer seelischen Störung mit funktionellen körperlichen Beeinträchtigungen, einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, Adipositas permagna und Krampfadern. Diese Gesundheitsstörungen führen zwar nach längeren Wegstrecken zu Schmerzen beim Gehen, aber nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr im Sinne des Merkzeichens "G". Die vom SG beauftragten Sachverständigen haben schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass sich lediglich das Wirbelsäulenleiden, die venösen Stauungen und die Herzschwäche auf die Gehfähigkeit auswirken. Damit sind jedoch keine Funktionsbehinderungen der unteren Gliedmaßen und der Wirbelsäule gegeben, die einen GdB von 50 bedingten. Gleichzeitig liegt auch keine Behinderung an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB von 40 vor, welcher sich besonders auf das Gehvermögen auswirkt. Eine besondere Störung des Lymphsystems, wie vom Kläger vorgetragen, ist von Dr. S. in seiner ergänzenden Stellungnahme nicht bestätigt worden.
Soweit der Kläger Einwendungen gegen die Gutachtensergebnisse vorgebracht hat, ist darauf hinzuweisen, dass seine behandelnde Neurologin Dr. W. bereits im Verwaltungsverfahren angegeben hat, sein Gehvermögen in der Ebene sei wenig bis gar nicht eingeschränkt. Auch der behandelnde Orthopäde Dr. G. hat nur eine Verlangsamung des Gehtempos bestätigen können. Der behandelnde Hausarzt Dr. D. ist im Gegensatz zu den im Verfahren beteiligten Fachärzten - insbesondere für die Gebiete der Orthopädie und Neurologie - nicht als gleich fachkompetent zur Beurteilung einer Gehstörung anzusehen.
Der Kläger selbst stützt sein Begehren auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" daher neben den geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch (und im Verwaltungsverfahren in erster Linie) auf seinen Wunsch, einen Mehrbedarf des maßgebenden Regelsatzes beim Sozialhilfeträger erlangen zu können. Rein finanzielle Erwägungen haben bei der Zuerkennung eines Merkzeichens jedoch außen vor zu bleiben. Für die Gehfähigkeit relevante Herzschäden oder Atembehinderungen liegen ebenso wenig vor wie eine Taubheit oder eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit; abgesehen davon fehlt es auch an der erforderlichen Kombination mit einer erheblichen Störung der Ausgleichsfunktion (z. B. Sehbehinderung, geistige Behinderung).
Im Übrigen verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Beweiswürdigung des Sozialgerichtes. Zu weiteren Ermittlungen bestand kein Anlass, zumal der Kläger selbst den Rechtsstreit als entscheidungsreif ansieht. Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung) hat.
Der 1933 geborene Kläger hielt sich in der Zeit vom 20.10.2004 bis 17.11.2004 stationär in der Klinik P. B. zur urologisch-onkologischen Nachsorge auf. Als Diagnosen wurden gestellt: Prostatakarzinom, erektile Dysfunktion, Verdacht auf zyklothyme Depression, Adipositas permagna und Halswirbelsäulensyndrom. Im Rahmen des Befundes wurden die großen Gelenke der Extremitäten als frei beweglich beschrieben. Es bestünden eine Varikosis beider Unterschenkel und diskrete Unterschenkelödeme beidseits. In der sozialmedizinischen Beurteilung wird ausgeführt, hinsichtlich Selbstversorgung und sozialer Eigenständigkeit bestünden keine Einschränkungen. Eine Gewichtsreduktion (131 kg bei 175 cm Körpergröße) sei nach wie vor erforderlich.
Nach Rückkehr aus der Rehabilitationsmaßnahme beantragte der Kläger am 08.12.2004 die Feststellung seines Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wegen der Folgen eines Prostatakarzinoms und eines Halswirbelsäulensyndroms. Er machte außerdem eine starke Gehbehinderung geltend. Der behandelnde Facharzt für Orthopädie Dr. G. berichtete dem Beklagten am 21.01.2005, der Kläger empfinde eine "subjektive Schwäche" beim Gehen. Er habe einen Gehstock als Gehhilfe verordnet. Als Diagnosen auf orthopädischem Fachgebiet benannte er belastungsabhängige Rückenschmerzen in der unteren Lendenwirbelsäule, beginnende degenerative Hüftgelenksveränderungen und ein degeneratives Halswirbelsäulensyndrom. Die Neurologin Dr. W. teilte dem Beklagten mit, allgemeinmedizinisch springe das starke Übergewicht des Klägers ins Auge. Wenn der Kläger angebe, in seinem Bewegungsablauf Schwierigkeiten zu haben, wie etwa Treppen zu steigen, so sei dies nachvollziehbar. Das Gehvermögen in der Ebene sei wenig bzw. nicht eingeschränkt, die Einschränkung finde beim Treppengehen statt.
Durch Bescheid vom 19.05.2005 wurde wegen der Funktionsbeeinträchtigungen Erkrankung der Prostata (in Heilungsbewährung) und Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, muskuläre Verspannungen, Adipositas permagna der Grad der Behinderung (GdB) mit 70 seit dem 01.07.2004 festgestellt. Gleichzeitig wurde die Anerkennung von Merkzeichen abgelehnt.
Der Kläger erhob am 09.06.2005 Widerspruch. Er sei auf das Merkzeichen "G" angewiesen, um seine notwendige Ernährung bezahlen zu können. Denn nur wenn er einen Ausweis mit dem Merkzeichen "G" besitze, werde ihm vom Sozialhilfeträger ein Mehrbedarf zum maßgeblichen Regelsatz anerkannt. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 08.08.2005 zurück. Nach Auswertung der ärztlichen Unterlagen wurde in den Tenor der Funktionsbeeinträchtigungen die vom Kläger geltend gemachte Polyneuropathie aufgenommen. Eine Erhöhung des Grades der Behinderung werde dadurch jedoch nicht bedingt. Die beim Kläger vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen seien in vollem Umfang erfasst und unter Berücksichtigung der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 2004 (AHP) mit einem GdB von 70 angemessen bewertet. Die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens lägen nicht vor. Denn Funktionsbeeinträchtigungen, welche die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr rechtfertigten, seien nicht beschrieben. Der Kläger könne Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt würden, weiterhin bewältigen.
Dagegen erhob der Kläger am 7. September 2005 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) mit dem Begehren, ihm das Merkzeichen "G" zuzuerkennen. Zur Begründung verwies er darauf, dass er durch die wegen des Prostatakarzinoms notwendig gewordene Strahlentherapie gesundheitlich Schaden genommen habe. Der Ausfall von motorischen Funktionen mehrerer Nerven und die Auswirkungen der Polyneuropathie führten zu einer erheblichen Einschränkung der ihm zumutbaren Wegstrecke.
Das SG hörte die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen.
Der Allgemeinmediziner Dr. D. teilte dem SG am 01.10.2005 mit, die diagnostizierte Polyneuropathie, Tonusminderung der Muskulatur und Schmerzausstrahlung vom Wirbelsäulensyndrom hier wirkten sich auf die Gehfähigkeit des Klägers aus. Übliche Wegstrecken im Ortsverkehr könne der Kläger aufgrund seiner Schmerzen im Lumbalwirbelbereich und wegen Gangunsicherheit bei Polyneuropathie bei Sturzgefahr nicht mehr zu Fuß zurücklegen. Seiner Auffassung nach bedingten die Behinderungen an den unteren Gliedmaßen bzw. an der Lendenwirbelsäule einen GdB, welcher größer als 50 sei.
Der behandelnde Orthopäde des Klägers Dr. G. wiederholte in seiner Aussage gegenüber dem SG am 04.10.2005 die bereits im Verwaltungsverfahren benannten Diagnosen. Die degenerativen Wirbelsäulenveränderungen an Hals- und Lendenwirbelsäule schätze er mit einem GdB von 30 ein. Der Kläger habe eine Gehbehinderung wegen der Verlangsamung seines Gehtempos. Es bestehe die Notwendigkeit zur Benutzung eines Gehstockes, welcher im Januar 2005 verordnet worden sei. Nach neurologischem Befundbericht bestehe eine Einschränkung der maximalen Gehstrecke auf 500 m. Behinderungen an den unteren Gliedmaßen bzw. an der Lendenwirbelsäule bedingten allein oder zusammen keinen GdB von 50, Versteifungen von Hüft-, Knie- oder Fußgelenk lägen nicht vor, ein inneres Leiden sei nicht bekannt und der Kläger leide auch nicht an einer schweren geistigen Behinderung oder einer erheblichen Sehbehinderung.
Der Allgemeinmediziner Dr. B. berichtete dem SG am 11.10.2005, er betreue den Kläger als Hausarzt und verweise auf den orthopädischem Bericht von Dr. G ...
Die Hals-Nasen-Ohren Ärztin Dr. T. berichtete dem SG am 20.10.2005, der Kläger leide unter einem Halswirbelsäulensyndrom und einem leicht- bis mittelgradigen Lagerungsschwindel. Bei Vorliegen einer Schwindelattacke wirke sich diese erheblich auf die Gehfähigkeit des Kläger aus. Im Falle eines Schwindelanfalles könne er übliche Ortsstrecken nicht zurücklegen. Im Übrigen hänge die Gehstrecke von der Tagesform ab.
Daraufhin beauftragte das SG den Internisten und Sozialmediziner Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens. Gleichzeitig veranlasste es Zusatzbegutachtungen auf neurologischem Fachgebiet durch den Nervenfacharzt Dr. S. und auf orthopädischem Fachgebiet durch den Arzt für Chirurgie, Notfallmedizin und Sozialmedizin Dr. N ... In seinem Gutachten vom 29.05.2006 benannte Dr. S. zusammenfassend folgende Diagnosen: Restbeschwerden nach Bestrahlung und hormonaler Behandlung eines Prostatacarcinoms ohne Anhalt für Rezidiv oder Metastasen, beginnende Polyneuropathie, leichter Herzmuskelschaden, funktionelle Beschwerden bei primärpersönlichen Besonderheiten, DD beginnendes hirnorganisches Psychosyndrom, länger zurückreichende ängstlich-depressive Symptomatik, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule und Adipositas permagna sowie Krampfadern. Beim Kläger sei im April 2004 eine bösartige Erkrankung der Prostata entdeckt und nachfolgend mit zahlreichen Bestrahlungen behandelt worden. Gleichzeitig habe er eine Hormontherapie erhalten. Beide Behandlungen seien typischerweise mit beschwerdeverursachenden Nebenwirkungen verbunden, welche zum Teil noch anhielten. Die Nebenwirkungen seien in typischer Form aufgetreten: die Hormontherapie habe Schweißausbrüche verursacht und die Bestrahlung neben allgemeinen Störungen des Befindens und einer generellen Schwächung des Kräftezustandes eine leichte Polyneuropathie ausgelöst, welche funktional nicht bedeutsam sei.
Weder aus nervenärztlicher noch aus chirurgisch-orthopädischer Sicht habe sich der objektive Befund eines organischen Schadens feststellen lassen, welcher zur Gehbehinderung führe und die erhebliche Beeinträchtigung des Gehvermögens erkläre. Die vom Kläger vorgebrachte Theorie, dass ein Schaden vorliegen müsse, weil Bestrahlungen grundsätzlich Schadensfolgen hätten, reiche aufgrund fehlender messbarer Befunde nicht aus, um die zum Teil deutlich vorstellungsbedingt imponierenden Auswirkungen (zeitweiser Gebrauch eines Rollators) hinreichend plausibel zu machen. Die Restbeschwerden nach Bestrahlung und hormonaler Behandlung eines Prostatakarzinoms sowie die beginnende Polyneuropathie würden bis Ablauf der Heilungsbewährung mit einem GdB von 60, der Herzmuskelschaden mit einem GdB von 20, die seelischen Störungen mit funktionellen körperlichen Beeinträchtigungen mit einem GdB von 30, die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderung der Wirbelsäule und Adipositas mit einem GdB von 30 und die Krampfadern mit einem GdB von 10, sowie der Gesamt-GdB mit 90 geschätzt.
Grundsätzlich wirkten sich zwar das Wirbelsäulenleiden und die venöse Stauung an den Beiden auf die Gehfähigkeit aus, so dass es bei längerer Belastung zu Schmerzen seitens der Wirbelsäule und zu einem Schweregefühl in den Beinen kommen könne. Auch die Herzschwäche könne sich bei stärkeren Beanspruchungen wie etwa längerem Bergaufgehen oder Gehen in raschem Tempo auswirken. Der Kläger könne aber noch ohne erhebliche Schwierigkeiten oder Gefahren für sich oder andere die üblichen Wegstrecken im Ortsverkehr (etwa 2 km in einer halben Stunde) zu Fuß zurücklegen. Auch bedingten Behinderungen an den unteren Gliedmaßen und an der Lendenwirbelsäule allein oder zusammen keinen GdB von 50. Andere erhebliche Gründe, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führten, lägen ebenfalls nicht vor. Einwendungen des Klägers wies der Gutachter Dr. S. in einer ergänzenden medizinischen Stellungnahme vom 18.09.2006 zurück. Er wies insbesondere darauf hin, dass eine relevante Behinderung des Gehvermögens durch ein Beinlymphödem nicht habe festgestellt werden können.
Das SG wies die Klage mit Urteil vom 27.11.2006 ab. Es entschied, der Kläger sei nicht erheblich gehbehindert, weshalb ihm das Merkzeichen "G" nicht zuerkannt werden könne. Die Leiden des Klägers führten zwar zu Schmerzen beim Gehen, aber nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Zur Urteilsfindung stütze sich die erkennende Kammer insbesondere auf die Ausführungen des Gutachters Dr. S. und die Darlegungen in den Zusatzgutachten der Dres. N. und S ... Danach habe sich die beginnende Polyneuropathie bisher nicht ausgewirkt und es seien auch keine sonstigen Funktionsbehinderungen der unteren Gliedmaßen und der Lendenwirbelsäule gegeben, welche einen GdB von 50 bedingten. Die Kammer habe sich des weiteren nicht davon überzeugen können, dass eine Behinderung aus der Störung des Lymphsystems resultiere.
Gegen das am 04.12.2006 zugestellte Urteil des SG hat der Kläger am 07.12.2006 Berufung eingelegt. Er hat geltend gemacht, die Begutachtung durch Dr. S. weise Mängel auf, insbesondere werde die Schädigung des Lymphsystems von ihm zu gering bewertet. Die Entscheidung des Sozialgerichts übersehe, dass nach den AHP auch innere Leiden eine Einschränkung des Gehvermögens bewirken könnten. Er sei durch seine Darmerkrankung sehr geschwächt und fühle sich vom SG missverstanden. Es werde um alsbaldige Entscheidung in seinem Sinne gebeten, ein Eilantrag werde aber nicht gestellt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. November 2006 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 19. Mai 2005 abzuändern, den Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 8. August 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm ab dem 1. Juli 2004 das Merkzeichen "G" zuzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung des SG für zutreffend. Der Gutachter Dr. Schumacher habe eine gravierende Auswirkung der klägerischen Erkrankungen auf das Gehvermögen nicht bestätigen können.
Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die von dem Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten verwiesen.
II.
Der Senat entscheidet über die nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 SGG durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Feststellung des Merkmals "G".
Maßgebliche Rechtsgrundlagen sind seit dem 1. Juli 2001 die Vorschriften des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX), die an die Stelle der durch dieses Gesetz aufgehobenen Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) getreten sind (Artikel 63, 68 SGB IX vom 19. Juni 2001, BGBl. I S. 1046). Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden ebenfalls die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die zuständigen Behörden auf Grund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch, den GdB sowie weitere gesundheitliche Merkmale aus (§ 69 Abs. 5 SGB IX).
Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden.
Bei der Prüfung der Voraussetzungen von Nachteilsausgleichen orientiert sich der Senat im Interesse der Gleichbehandlung aller Behinderten an den Bewertungsmaßstäben, wie sie in den AHP niedergelegt sind (BSG, Urteil vom 15. März 1979 - 9 RVs 6/77 - BSGE 48, 82; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 7. November 2001 – B 9 SB 1/01 R - VersorgVerw 2002, 26). Die AHP besitzen zwar keine Normqualität, weil sie weder auf einem Gesetz noch auf einer Verordnung oder auch nur auf Verwaltungsvorschriften beruhen. Sie sind vielmehr als antizipierte Sachverständigengutachten anzusehen, die in der Praxis wie Richtlinien für die ärztliche Gutachtertätigkeit wirken, und haben deshalb normähnliche Auswirkungen. Sie sind daher im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung wie untergesetzliche Normen von den Gerichten anzuwenden (BSG, Urteil vom 23. Juni 1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285, 286; BSG, Urteil vom 9. April 1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18. September 2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 91, 205; BSG, Urteil vom 29. August 1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). In den AHP ist der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben. Sie ermöglichen somit eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Feststellung von Nachteilsausgleichen. Die AHP stellen dabei ein einleuchtendes, abgewogenes und geschlossenes Beurteilungsgefüge dar (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 V 25/98 R - SozR 3-3100 § 30 Nr. 22).
Nach § 145 Abs. 1 SGB IX werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert. In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist gemäß § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Als Wegstrecken, welche im Ortsverkehr - ohne Berücksichtigung von geographischen Besonderheiten im Einzelfall - üblicherweise noch zurückgelegt werden, gelten solche von maximal 2 km bei einer Gehdauer von etwa 30 Minuten (BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87 - SozR 3870 § 60 SchwbG Nr. 2). Nach den AHP kann eine derartige Einschränkung des Gehvermögens angenommen werden, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB um wenigstens 50 bedingen (AHP, 30 Abs. 3 Satz 1, S. 137 f.). Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei einem GdB von unter 50 auch gegeben sein, wenn sich diese Behinderungen an den unteren Gliedmaßen auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z. B bei einer Versteifung des Hüft-, Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 (AHP, 30 Abs. 3 Satz 2, S. 138).
Auch bei inneren Leiden kommt es bei der Beurteilung entscheidend auf die Einschränkung des Gehvermögens an. Dementsprechend ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit vor allem bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 (AHP, 30 Abs. 3 Satz 3, S. 138 i. V. m. AHP 26.9 S. 71 ff.) und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades (AHP, 30 Abs. 3 Satz 3, S. 138 i. V. m. AP 26.8 S. 68) anzunehmen. Auch bei anderen inneren Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z. B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie, sind die Voraussetzungen als erfüllt anzusehen (AHP, 30 Abs. 3 Satz 4, S. 138 i. V. m. AP 26.12 S. 89).
Die AHP beschreiben Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können. Entscheidend ist danach im vorliegenden Fall, ob allein die bei dem Kläger festgestellten körperlichen Regelwidrigkeiten mit den von ihnen ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen die Bewegungsfähigkeit einer gedachten Person ebensoweit herabsetzen, wie in den in den AHP (beispielhaft) genannten Fällen. Erst dann ist nach dem Erfahrungswissen ärztlicher Sachverständiger, das sich in den AHP niedergeschlagen hat, anzunehmen, dass der/die Behinderte die Strecke von 2 km nicht mehr innerhalb von 30 Minuten zurücklegen kann (BSG, Urteil vom 27. August 1993 - B 9 SB 13/97 R - VersorgVerw 1999, 47 m. w. N.).
Der Senat schließt sich der Einschätzung des SG an und verneint eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit des Klägers im Straßenverkehr. Aufgrund der vom SG erhobenen Gutachten der Dres. S., N. und S. leidet der Kläger an Restbeschwerden nach Bestrahlung und hormoneller Behandlung eines Prostatakarzinoms, beginnender Polyneuropathie ohne funktionelle Beeinträchtigungen, einem Herzmuskelschaden, einer seelischen Störung mit funktionellen körperlichen Beeinträchtigungen, einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, Adipositas permagna und Krampfadern. Diese Gesundheitsstörungen führen zwar nach längeren Wegstrecken zu Schmerzen beim Gehen, aber nicht zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr im Sinne des Merkzeichens "G". Die vom SG beauftragten Sachverständigen haben schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass sich lediglich das Wirbelsäulenleiden, die venösen Stauungen und die Herzschwäche auf die Gehfähigkeit auswirken. Damit sind jedoch keine Funktionsbehinderungen der unteren Gliedmaßen und der Wirbelsäule gegeben, die einen GdB von 50 bedingten. Gleichzeitig liegt auch keine Behinderung an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB von 40 vor, welcher sich besonders auf das Gehvermögen auswirkt. Eine besondere Störung des Lymphsystems, wie vom Kläger vorgetragen, ist von Dr. S. in seiner ergänzenden Stellungnahme nicht bestätigt worden.
Soweit der Kläger Einwendungen gegen die Gutachtensergebnisse vorgebracht hat, ist darauf hinzuweisen, dass seine behandelnde Neurologin Dr. W. bereits im Verwaltungsverfahren angegeben hat, sein Gehvermögen in der Ebene sei wenig bis gar nicht eingeschränkt. Auch der behandelnde Orthopäde Dr. G. hat nur eine Verlangsamung des Gehtempos bestätigen können. Der behandelnde Hausarzt Dr. D. ist im Gegensatz zu den im Verfahren beteiligten Fachärzten - insbesondere für die Gebiete der Orthopädie und Neurologie - nicht als gleich fachkompetent zur Beurteilung einer Gehstörung anzusehen.
Der Kläger selbst stützt sein Begehren auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" daher neben den geltend gemachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auch (und im Verwaltungsverfahren in erster Linie) auf seinen Wunsch, einen Mehrbedarf des maßgebenden Regelsatzes beim Sozialhilfeträger erlangen zu können. Rein finanzielle Erwägungen haben bei der Zuerkennung eines Merkzeichens jedoch außen vor zu bleiben. Für die Gehfähigkeit relevante Herzschäden oder Atembehinderungen liegen ebenso wenig vor wie eine Taubheit oder eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit; abgesehen davon fehlt es auch an der erforderlichen Kombination mit einer erheblichen Störung der Ausgleichsfunktion (z. B. Sehbehinderung, geistige Behinderung).
Im Übrigen verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Beweiswürdigung des Sozialgerichtes. Zu weiteren Ermittlungen bestand kein Anlass, zumal der Kläger selbst den Rechtsstreit als entscheidungsreif ansieht. Die Berufung war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
Login
BWB
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