L 9 U 1231/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 15 U 1416/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 1231/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 22. Februar 2005 sowie der Bescheid der Beklagten vom 4. Februar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2004 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die angefallenen und künftig anfallenden Reisekosten des Klägers für alle im Zusammenhang mit den im ärztlichen Bericht vom 17. September 2003 genannten Operationen zu übernehmen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten, in welchem Umfang die Beklagte Reisekosten zu übernehmen hat.

Der 1971 geborene Kläger hat am 5.3.1998 an der Berufsakademie (BA) die Ausbildung zum Wirtschaftsassistenten erfolgreich abgeschlossen. Ab 1.5.1999 arbeitete er als Kellner und Barkeeper für ein Wirtshaus. Bei einer Einkaufsfahrt für das Wirtshaus am 7.5.1999 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall, bei dem er sich ein Polytrauma mit Schädelhirntrauma und Frakturen an der linken oberen Extremität sowie der rechten unteren Extremität (Tibiamehretagenfraktur, Kompartmentsyndrom des Unterschenkels und des Fußes) und der linken unteren Extremität (Femurfraktur, Patellatrümmerfraktur, offene OSG-Luxationsfraktur mit Abriss der Achillessehne, Peronaeus longus- und brevis-Sehne sowie Ausriss des dorsalen Kapsel-Band-Apparates am unteren Sprunggelenk, Talushalsfraktur Metatarsale II bis IV-Köpfigenfrakturen, basisnahe Metatarsale I-Fraktur, Fußkompartmentsyndrom) zuzog.

Wegen der Folgen des Arbeitsunfalls erhält der Kläger seit 4.12.2000 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 60 vH (Bescheide vom 18.9.2001 und 16.12.2002).

Wegen einer Oberschenkelverkürzung links (um 2 cm) und einer Varusfehlstellung des rechten Beines stellte sich der Kläger in der Chirurgischen Klinik und Poliklinik der Universität M. vor. Die dortigen Ärzte schlugen eine Achsenkorrektur am rechten Unterschenkel nach vorhergehender Metallentfernung (valgisierende Open-wedge-Operation am Tibiakopf rechts) vor. Damit könne die mechanische Achse des rechten Beines komplett korrigiert werden, woraus sich ein geringer Längenzugewinn ergebe. Nach kompletter Ausheilung dieser Operation und wieder möglicher Vollbelastung werde zum Längenausgleich und zur Achsenkorrektur am linken Oberschenkel mittels voll implantierbaren antegraden Verlängerungsmarknagel geraten. Danach könnte der exakte Längenausgleich sowie die Achsenkorrektur hin zu einer mechanischen Achse durch das Zentrum des Kniegelenks erreicht werden (Zwischenbericht vom 17.9.2003).

Mit Schreiben vom 17.12.2003 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie die Operations- und Behandlungskosten in M. übernehme. Allerdings werde sie eine Fahrkostenerstattung lediglich bis L. und H. leisten, da die geplante Operation auch im Klinikum H. oder in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. vorgenommen werden könne.

Hiergegen wandte der Kläger mit Schreiben vom 16.1.2004 ein, richtig sei zwar, dass die erste Operation theoretisch auch in H. gemacht werden könnte. Medizinisch sinnvoll sei aber nur, beide Operationen durch ein einziges Operationsteam durchführen zu lassen. Deswegen bestehe eine medizinische Notwendigkeit, dass er sich nach M. begebe, weswegen die Kosten voll zu erstatten seien.

Die Beklagte holte Auskünfte bei Dr. H. vom 24. und 27.1.2004 ein, der ausführte, auch die ortsnahen Kliniken verfügten über ausreichende Erfahrungen in der operativen Beinverlängerung. Von der Universitätsklinik M. und der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. würden unterschiedliche Verfahren zur Beinverlängerung angewandt, die beide Vor- und Nachteile beinhalteten und deren Erfolg und Risiken in der Gesamtschau vergleichbar seien. Die Universitätsklinik H. sei zwischenzeitlich von der Verlängerung mit Motornagel (wie in M. praktiziert) wieder abgegangen. Auf jeden Fall sei es für den Patienten von Nachteil (z. B. bei Komplikationen, Nachschau), wenn der operierende Arzt mehrere hundert Kilometer vom Patienten entfernt sei.

Mit Bescheid vom 4.2.2004 teilte die Beklagte dem Kläger mit, Reisekosten für seine geplante Behandlung in M. würden nur bis zur Höhe der Beträge übernommen, die für eine gleichartige Behandlung in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. angefallen wären. Zur Begründung stützte sie sich auf die Stellungnahme ihres Beratungsarztes. Reisekosten nach M. seien nicht erforderlich, weil geeignete Behandlungsmethoden ortsnah verfügbar seien und kein unkalkulierbar höheres Risiko in sich trügen.

Den Widerspruch des Klägers vom 23.2.2004 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.3.2004 zurück.

Mit der am 8.4.2004 zum Sozialgericht (SG) Karlsruhe erhobenen Klage verfolgte der Kläger die (volle) Erstattung der Fahrtkosten nach M. weiter. Zur Begründung trug er vor, die beiden aufeinander abgestimmten Operationen müssten von demselben Ärzteteam durchgeführt werden, um einen optimalen Erfolg zu gewährleisten. Darüber hinaus sei die in M. vorgesehene Operationsmöglichkeit die schonendste.

Das SG holte bei verschiedenen Kliniken Auskünfte dazu ein, ob die beim Kläger vorgesehenen bzw. geplanten Operationen auch in anderen Kliniken von Baden-Württemberg hätten durchgeführt werden können.

PD Dr. Dr. B. von der Chirurgischen Klinik und Poliklinik des Klinikums M. erklärte unter dem 30.8.2004, die am 10.2.2004 erfolgte operative Korrektur der rechtsseitigen Varus(O-Bein)-Fehlstellung hätte auch in einem anderen Klinikum in Baden Württemberg, welches sich auf Korrekturmaßnahmen spezialisiert habe, durchgeführt werden können. Nach Konsolidierung der rechten Seite sei die linksseitige Oberschenkelverlängerung mit einem voll implantierbaren Distraktionsmarknagel geplant. Dieses Implantat sei in M. entwickelt worden; die Universitätsklinik M. sei die einzige Einrichtung, die dieses Verfahren vorhalte. Aus ärztlicher Sicht sei es wenig sinnvoll, Korrekturmaßnahmen an beiden Beinen an verschiedenen Kliniken durchführen zu lassen, da die Maßnahme an beiden Beinen aufeinander abgestimmt werden müsse und ein Gesamtbehandlungskonzepts zugrunde liege.

Professor Dr. W., Ärztlicher Direktor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L., führte am 19.7. und 2.11.2004 aus, Korrekturmaßnahmen am linken Bein hätten auch in seiner Klinik durchgeführt werden können. Wenn es überhaupt Nachteile gegeben hätte, dann lägen diese allein darin, dass ein bestimmtes Implantat, nämlich ein motorbetriebener Marknagel, an seiner Klinik nicht angewendet würde. Dafür gebe es andere Möglichkeiten mit äußeren Fixateuren; die Ergebnisse seien damit nachvollziehbar gut.

Professor Dr. K., Ärztlicher Direktor der Chirurgischen Universitätsklinik U., gab unter dem 24.8. und 9.11.2004 an, eine kontinuierliche Verlängerung des linken Oberschenkels mit einem mechanischen Verlängerungsmarknagel (ISKD-Orthofix) oder mit einem elektrischen Marknagel (Professor Dr. B.) werde auch in seiner Klinik angeboten. Der Mitentwickler dieses Marknagels Professor Dr. B. implantiere diesen Nagel in seiner Privatklinik und habe auch bereits sechsmal in der Chirurgischen Klinik in U. diesen Nagel implantiert. Da Verlängerungsmarknägel ohne elektromagnetischen Antrieb mit deutlich geringeren Kosten verbunden seien, werde jetzt dieser Nagel bevorzugt.

Professor Dr. J., Chefarzt der W.-Z. Kliniken, erklärte, operative Eingriffe würden in seiner Klinik nicht durchgeführt.

Durch Gerichtsbescheid vom 22.2.2005 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung führte es aus, eine gleichwertige Behandlung zur Verbesserung der beim Kläger bestehenden Unfallfolgen hätte auch in der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik L. vorgenommen werden können, wie Prof. Dr. W. erklärt habe.

Gegen den am 28.2.2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 24.3.2005 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und vorgetragen, beide Operationen (Unterschenkel rechts und Oberschenkel links) hingen zusammen und müssten in derselben Klinik durchgeführt werden. Erst drei Monate nach der Unterschenkeloperation im Februar in M. habe die Beklagte am 12.6.2004 vorgeschlagen, eine Beratung in der Berufsgenossenschaftlichen Klinik L. wahrzunehmen. Die Vorschläge der Beklagten, die Operation in L. oder U. vorzunehmen, seien viel zu spät gekommen, da beide Kliniken mit der Unterschenkelbegradigung im Februar nichts zu tun gehabt hätten. Des weiteren scheine sich das SG mit der Problematik der sehr unterschiedlichen Operationsmethoden nicht sorgfältig genug auseinander gesetzt zu haben. Zwischen einem äußeren Fixateur und einem implantierten Nagel bestünden erhebliche Unterschiede. Das Tragen eines äußeren Fixateurs über diverse Wochen oder Monate sei für den Patienten eine Zumutung. Krankenhausaufenthalte, die sehr kostenintensiv seien, und eine hohe Infektionsgefahr seien wahrscheinlich. Die Implantation eines solchen Nagels sei in M. schon dreihundertmal und in U. lediglich sechsmal vorgenommen worden. Die in L. angewandten Operationsmethoden könnten nicht als vergleichbar angesehen werden. Durch die in M. angewandte Methode seien - auch unter Berücksichtigung der Fahrtkosten - weniger Kosten entstanden als bei Anwendung eines äußeren Fixateurs.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 22. Februar 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Februar 2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. März 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm alle im Zusammenhang mit den im Zwischenbericht der Universitätsklinik M. vom 17. September 2003 genannten Behandlungen in M. angefallenen und künftig anfallenden Reisekosten zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert, die Stellungnahme von Professor Dr. W. belege, dass die Korrekturmaßnahmen am linken Bein des Klägers ortsnah hätten erfolgen können. Die von der Berufsgenossenschaftlichen Klinik in L. häufig durchgeführte Korrektur mit Hilfe äußerer Fixateure sei dabei aus unfallmedizinischer Sicht dem vom Universitätsklinikum M. benutzten Marknagel-Implantat qualitativ gleichwertig. Deswegen habe die Beklagte den Kläger bereits mit Schreiben vom 17.12.2003 darauf hingewiesen, dass sie die Operations- und Behandlungskosten der Universitätsklinik M. übernehme, aber anfallende Fahrtkosten nach den maßgebenden Vorschriften des Sozialgesetzbuchs nur für eine Strecke bis L. oder H. leisten könne.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung des Klägers ist auch begründet. Mit dem angefochtenen Bescheid vom 4.2.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.3.2004 hat die Beklagte zu Unrecht die Übernahme der angefallenen und noch anfallenden Reisekosten für die im Zwischenbericht der Universitätsklinik M. vom 17.9.2003 genannten Operationen abgelehnt.

Gemäß § 43 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) VII werden die im Zusammenhang mit der Ausführung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben erforderlichen Reisekosten nach § 53 des Neunten Buches übernommen. Im übrigen werden Reisekosten zur Ausführung der Heilbehandlung nach den Absätzen 2 bis 5 übernommen. Nach Abs. 5 regeln die Verbände der Unfallversicherungsträger das Nähere durch gemeinsame Richtlinien.

§ 43 Abs. 1 SGB VII begründet einen Rechtsanspruch auf die Reisekosten, die zur Ausführung der Heilbehandlung erforderlich sind. Für die beim Kläger durchgeführten und noch durchzuführenden Operationen am rechten Unterschenkel und am linken Oberschenkel mittels voll implantierbaren Verlängerungsmarknagel waren und sind die streitigen Reisekosten erforderlich. Unerheblich ist dabei, ob die Beklagte den Kläger auf Operationen mit externen Fixateuren, wie sie in L. oder H. praktiziert werden, hätte verweisen können. Da die Beklagte im Rahmen ihres pflichtgemäßen Ermessens gemäß § 26 Abs. 5 SGB VII die Kosten für die Operationen in M. ausdrücklich übernommen hat, hat sie als ergänzende Leistung auch die dafür erforderlichen Reisekosten zu tragen. Eine Einschränkung der Erstattung der Reisekosten für die notwendige und genehmigte Heilbehandlung auf die Reisekosten einer anderen fiktiven Heilbehandlung ist im Gesetz nicht vorgesehen und ergibt sich auch nicht aus den Gemeinsamen Richtlinien der Verbände der Unfallversicherungsträger nach § 34 Abs. 5 SGB VII über Reisekosten (in der hier anwendbaren bis 30.6.2004 geltenden Fassung). Sie kann daher entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht im Wege einer "Auflage" i.S.d. § 32 Abs. 2 Nr. 4 SGB X durchgesetzt werden, denn die Ermessensentscheidung über Art, Umfang und Durchführung der Heilbehandlung umfasst gerade nicht die Erstattung der hierfür erforderlichen Reisekosten.

Darüber hinaus hätte die Beklagte, wenn sie die Operationen in M. nicht für erforderlich gehalten hätte und dem Kläger dennoch entgegenkommender Weise Kosten für die Operationen in M. hätte erstatten wollen, bezüglich der Notwendigkeit der Kosten eine Vergleichsberechnung sämtlicher Operationskosten (einschließlich Kosten für stationären Aufenthalt, Reisekosten usw.) anstellen müssen, um die Kosten für die Operationen in M. auf die Kosten, die für eine Operation in L. oder H. erforderlich gewesen wären, zu begrenzen.

Davon abgesehen sind die Erfordernisse eines zweckmäßigen und wirksamen Heilverfahrens gegen berechtigte Interessen des Verletzten abzuwägen. Daraus folgt, dass Wünsche des Verletzten auf Untersuchung oder Behandlung durch einen bestimmten Arzt oder in einem bestimmten Krankenhaus berücksichtigt werden können, wenn der Zweck des Heilverfahrens dieses zulässt. Solche berechtigten Interessen hat der Kläger vorgetragen und sie ergeben sich auch aus der Informationen zur operativen Beinverlängerung mit dem voll implantieren Distraktionsmarknagel (risikoärmer, komfortabler und kosmetisch vorteilhafter). Sie wurden von der Beklagten durch die Genehmigung der Behandlung in M. auch berücksichtigt.

Nach alledem war der angefochtene Gerichtsbescheid des SG Karlsruhe aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, dem Kläger die Reisekosten für die in M. im Zwischenbericht vom 17.9.2003 genannten Operationen zu erstatten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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