L 9 U 1858/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 6 U 1027/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 1858/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 17. Februar 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob bei der Klägerin eine Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) vorliegt.

Die 1948 geborene Klägerin war 1968 3 Monate bei der Schuhfabrik R. in D. am Förderband beschäftigt, von 1968 bis 1973 als Lageristin im Autohaus H. in D. und von 1973 bis 2001 als Galvaniseurin bei der W. S. GmbH & Co KG (Angaben der Klägerin vom 29.1.2001). Dort war sie nach den Feststellungen des Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) zu 30% mit der Bedienung einer Reinigungsanlage und zu 70% mit der Bestückung von Gestellen beschäftigt.

Im Rahmen eines Klageverfahrens vor dem Sozialgericht (SG) Reutlingen (S 6 U 3041/02), in dem die Anerkennung einer auf gesundheitsschädigenden Dämpfen zurückzuführende BK gem. § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII begehrt wurde, machte die Klägerin geltend, dass bei ihr rezidivierende Lumboischialgien bei Bandscheibenprotrusion der Lendenwirbelsäule vorlägen und ihre Rückenbeschwerden auf das berufsbedingte Heben schwerer Lasten zurückzuführen seien. Die Beklagte zog Unterlagen aus dem Parallelverfahren bei. Daraus ist ersichtlich, dass die Klägerin gegenüber Dr. A., Arzt für Arbeits- und Umweltmedizin, der die Klägerin seit ca. 1990 arbeitsmedizinisch betreute, mehrmals über Rückenbeschwerden durch Auf- und Abhängen von Teilen geklagt hat. Die Gestelle hätten beladen manchmal bis 20 kg gewogen (Auskunft vom 22.3.2001). In der Stellungnahme des TAD vom 23.4.2001 ist ausgeführt, eine Hebe- und Tragetätigkeit von 12 bis 20 kg schweren Gestellen sei ca. 30 bis 35 Mal pro Schicht gegeben. Die Trageentfernung sei gering. Nur gelegentlich (ca. 5% der Zeit) sei eine größere Trageentfernung bis zu 7 Meter zu den Chrombädern zu unterstellen.

In dem vom Rentenversicherungsträger beigezogenen Entlassungsbericht der Z. Klinik St. B. vom 5.7.2001 über ein Heilverfahren der Klägerin vom 15.5. bis 26.6.2001 werden folgende Diagnosen genannt: 1. Schulter-Arm-Syndrom rechts 2. Cephalgie 3. Anpassungsstörung bei dependenter Persönlichkeit 4. Immunthyreoditis 5. Verdacht auf Karpaltunnelsyndrom rechts. Der Befund an der Brust- und Lendenwirbelsäule wird wie folgt beschrieben: "Klopf- und Druckschmerz über den Dornfortsätzen der Brust- und Lendenwirbelsäule. Bei Rumpfbeuge freie Entfaltbarkeit der Brust- und Lendenwirbelsäule. Finger-Boden-Abstand 0 cm. Kein Wiederaufrichtschmerz. Lateralflexion nach rechts und links ohne nennenswerte Bewegungseinbuße. Rotation frei. IS-Gelenke frei. Foramina ischiadica und Valleix`sche Druckpunkte unauffällig".

Die Klägerin gab im Fragebogen über wirbelsäulenbelastende Tätigkeiten an, sie müsse fünfmal stündlich 20 bis 25 kg (Gestelle) in 240 Arbeitsschichten pro Jahr heben und sieben Mal pro Arbeitsschicht an 240 Tagen acht Meter tragen. Sie arbeite ca. 140 Minuten pro Arbeitsschicht in extremer Rumpfbeuge.

Der Arbeitgeber der Klägerin, die W. S. GmbH & Co KG, gab unter dem 17.4.2003 an, die Klägerin müsse 30 Mal pro Arbeitsschicht 10 bis 15 kg bzw. 15 bis 20 kg heben, ohne diese Lasten über größere Entfernungen (mehr als fünf Meter) zu tragen; zu tragen seien die Lasten über vier Meter. Die Arbeiten würden nicht in extremer Rumpfbeugehaltung verrichtet.

In der Stellungnahme vom 5.5.2003 führte der Präventionsdienst aus, eine BK-relevante Exposition sei nicht gegeben. Es liege keine ausreichende Hebe- und Tragehäufigkeit pro Schicht vor, da maximal 40 Hebe- und Tragevorgänge pro Schicht anfielen. Es liege auch keine ausreichende Belastungsdauer durch extreme Rumpfbeugehaltung vor, die Dauer liege unter 30 Minuten. Die Tragedosis betrage 2546 Nh und erreiche den Beurteilungsdosisrichtwert von 3500 Nh (Frau) nicht. Der Staatliche Gewerbearzt Dr. K. schlug in der Stellungnahme vom 5.6.2003 eine BK Nr. 2108/2109 nicht zur Anerkennung vor.

Mit Bescheid vom 11.9.2003 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen ab. Zur Begründung führte sie aus, die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Entstehung einer BK nach den Ziffern 2108/2109 der Anlage zur BKV seien nicht erfüllt.

Die Klägerin legte hiergegen am 10.10.2003 Widerspruch ein und beantragte die Einholung eines Befundberichts bei Dr. E ... Mit Widerspruchsbescheid vom 17.3.2004 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen erhob die Klägerin am 7.4.2004 Klage zum SG Reutlingen, mit der sie die Anerkennung einer BK Nr. 2108 der Anlage zur BKV und die Gewährung von gesetzlichen Leistungen begehrte. Sie legte ärztliche Unterlagen, die überwiegend aus dem Parallelverfahren auf Anerkennung einer anderen BK stammen, vor. Aus einem Befundbericht von Dr. G., Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 24.1.2005 ist zu entnehmen, dass ein lumbaler Bandscheibenvorfall im September 2004 operativ behandelt wurde.

Durch Urteil vom 17.2.2005 wies das SG die Klage ab, da die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV nicht vorlägen. Auf die Entscheidungsgründe im Übrigen wird Bezug genommen.

Gegen das am 23.4.2005 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 09.05.2005 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt und vorgetragen, bei der Arbeit in der Galvanikabteilung habe sie im Bereich der so genannten Gestellbestückung über einen langen Zeitraum schwere Hebe- und Tragetätigkeiten ausgeführt, welche geeignet gewesen seien, die bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule zu verursachen. Ein vollbesetztes Gestell habe ein Gewicht von ca. 20 kg gehabt und pro Schicht habe sie 30 bis 35 Gestelle per Hand gehoben, getragen und abgestellt. Im Bericht von Dr. A. vom 22.3.2001 sei festgehalten, dass sie mehrmals über Rückenbeschwerden durch das Auf- und Abhängen von schweren Lasten geklagt habe. Seit 2001 sei ihr Arbeitsplatz auch nicht mehr mit einer Frau besetzt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 17. Februar 2005 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. September 2003 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 17. März 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Lendenwirbelsäulenerkrankung als Berufskrankheit Nr. 2108 der Anlage zu Berufskrankheiten-Verordnung anzuerkennen und in gesetzlichem Umfang zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie erwidert, die von der Klägerin vorgetragenen Hebe- und Tragetätigkeiten mit den angegebenen Gewichten seien unbestritten und in vollem Umfang bei der Berechnung der wirbelsäulenbelastenden Exposition berücksichtigt worden. Unter der Anwendung des Mainz-Dortmunder-Dosis-Modell (MDD) erreiche die Klägerin nicht den Richtwert, ab dem nach den derzeitigen Erkenntnissen der arbeitsmedizinischen Wissenschaft das Risiko der Verursachung der bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule im Sinne der BK Nr. 2108 vorliege.

Auf Anfrage des Senats hat die Beklagte eine Berechnung der beruflichen Wirbelsäulenbelastung nach dem MDD vorgelegt. Da angegeben worden sei, in der Regel habe die Trageentfernung ca. zwei Meter, gelegentlich aber auch bis sieben Meter betragen, seien Berechnungen für beide Varianten durchgeführt worden. Hierbei ergebe sich eine Schichtdosis von 2,1 x 10³ Nh bzw. 2,3 x 10³ Nh; die Schichtdosis von 3,5 x 10³ Nh werde jedoch nicht erreicht.

Zur weiteren Darstellung des Tatbestandes wird auf die Akten der Beklagten, des SG sowie des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet. Das angefochtene Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind nicht zu beanstanden, da die Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden nicht zu Unrecht die Anerkennung der BK nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV abgelehnt hat.

Nach § 9 Abs. 1 S. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden. Die Bundesregierung wurde ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind; sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch Tätigkeiten in bestimmten Gefährdungsbereichen verursacht worden sind oder wenn sie zur Unterlassung aller Tätigkeiten geführt haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können (Satz 2).

Wie bei einem Arbeitsunfall müssen auch bei einer Berufskrankheit die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen u. a. neben der versicherten Tätigkeit die Dauer und Intensität der schädigenden Einwirkung und die Krankheit gehören, erwiesen sein, während für den ursächlichen Zusammenhang die Wahrscheinlichkeit ausreichend, aber auch erforderlich ist (vgl. BSGE 45, 285).

Nach Nr. 2108 der Anlage zur BKV sind bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung und oder das Wiederauftreten der Krankheit ursächlich waren oder sein können, als Berufskrankheiten anzuerkennen.

Der Senat ist - im Ergebnis ebenso wie das SG - zur Überzeugung gelangt, dass schon die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108, das langjährige Heben oder Tragen schwerer Lasten bzw. langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, nicht vorliegen. Die Beklagte hat zu Recht die Vorgaben des Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD) zugrunde gelegt, das nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ein geeigneter Maßstab zur Konkretisierung und Ermittlung der arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK Nr. 2108 ist, weil es auf Vorgaben beruht, die ihrerseits wiederum medizinische Erfahrungstatsachen sind, die sich an epidemiologischen Studien über besonders belastete Berufe orientieren (BSG Urt. vom 18.3.2003 - B 2 U 13/02 R - SozR 4-2700 § 9 Nr. 1). Im Beschluss vom 10.1.2005 - B 2 U 331/04 R - in Juris hat das BSG das MDD als ein zumindest derzeit geeignetes Modell zur Konkretisierung der Einwirkungen bei der BK Nr. 2108 bezeichnet, welches nicht auf dem Merkblatt des Ärztlichen Sachverständigenbeirats zur BK Nr. 2108 basiert. Letzteres entspricht nicht mehr dem neuesten medizinisch-wissenschaftlichen Forschungsstand, wenn es u. a. ausführt, dass langjährig bedeute, dass 10 Berufsjahre als die untere Grenze der Dauer der belastenden Tätigkeit zu fordern seien. Das MDD setzt - basierend auf Erkenntnissen aus epidemiologischen Studien - die Langjährigkeit mit mindestens sieben Jahren an (vgl. BSG Urteil vom 22.6.2004 - B 2 U 22/03 R - in Juris). Zusammen mit den weiteren Vorgaben ist es ein geeignetes Modell, die kritische Belastungsdosis eines Versicherten durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten für eine Arbeitsschicht und für das Berufsleben zu ermitteln und in Beziehung zu einem Erkrankungsrisiko zu setzen (BSG aaO).

Nach dem zweistufigen Verfahren des MDD ist im Rahmen einer Vorprüfung abzuklären, ob festgelegte Mindestkriterien erfüllt sind, bei deren Unterschreitung das Risiko einer Gefährdung als unwahrscheinlich angesehen wird. Hierzu gehören vorgegebene Lastgewichtsgrenzen und Hebe- und Tragehäufigkeiten pro Schicht sowie eine Mindestanzahl von belastenden Arbeitsschichten pro Jahr und von Expositionsjahren, in denen derartige Tätigkeiten ausgeübt wurden. Erst beim Erreichen bzw. Überschreiten dieser Mindestkriterien wird in einer Hauptprüfung die Wirbelsäulenbelastung möglichst genau ermittelt und die Belastungsdosis berechnet, die aus den an der Lendenwirbelsäule angreifenden Druckkräften und der zugehörigen Belastungsdauer bestimmt wird. Im Rahmen der Vorprüfung ist festzustellen, ob folgende Mindestkriterien erreicht oder gar überschritten werden: 1. Lastgewichte müssen bei Frauen 7,5 kg erreichen oder überschreiten 2. Pro Arbeitsschicht müssen mindestens 50 Lastenmanipulationen bei Hebe/Tragevorgängen bis Trageentfernungen von maximal 5 Meter oder 30 Lastenmanipulationen bei Hebe/Tragetätigkeiten mit Trageentfernungen deutlich über 5 Meter vorgelegen und/oder Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung müssen eine Mindestdauer von 30 Minuten erreicht haben. 3. Die belastende Tätigkeit muss in der überwiegenden Anzahl der Arbeitsschichten vorgelegen haben. 4. Die gesamte berufliche Belastungsdauer muss mindestens sieben Jahre betragen haben. Sofern ein Kriterium der vier genannten Kriterien nicht erfüllt ist, kann davon ausgegangen werden, dass für die berufliche Tätigkeit die arbeitstechnischen Voraussetzungen im Sinne der BK 2108 nicht erfüllt sind (Hartung u. a., MDD in Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin 1999 S. 112, 113).

Ausgehend hiervon hat der Präventionsdienst zu Recht festgestellt, dass die Mindestvoraussetzungen bei der Klägerin nicht erfüllt sind. Selbst nach den eigenen Angaben der Klägerin fielen lediglich maximal 40 Hebe- und Tragevorgänge an, nach den Feststellungen von Dipl. Ing. Z. (TAD Stellungnahme vom 23.4.2001) lediglich 30 bis 35. Über Entfernungen von mehr als 5 Meter wurden Lasten nur selten getragen. Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (Winkel über 90 °) wurden nach Mitteilung des Arbeitgebers nur selten verrichtet. Demgemäß errechnet sich lediglich eine Tagesdosis von 2,1 x 10³ beziehungsweise 2,3 x 10³ Nh und keine für Frauen maßgebliche Schichtdosis von 3,5 x 10³ Nh. Da - ausgehend vom MDD - schon nach der Vorprüfung die erforderlichen Mindestvoraussetzungen nicht erfüllt sind, ist nicht zu beanstanden, dass seitens der Beklagten und des SG keine medizinischen Ermittlungen durchgeführt wurden.

Nach alledem ist das angefochtene Urteil des SG nicht zu beanstanden. Die Berufung der Klägerin musste deswegen zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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