L 1 SB 5697/06

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
1
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 16 SB 7623/04
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 SB 5697/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 12. Oktober 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Zuerkennung des Merkzeichens "G".

Der Kläger ist 1946 geboren. Mit Bescheid vom 11. November 1999 stellte das Versorgungsamt S. (VA) einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 ab 7. Juli 1999 fest, dem als Behinderungen zugrunde lagen: degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, chronische Lumbalgie, Zustand nach Fraktur des 3. Lendenwirbelkörpers, Osteoporose, Periarthropathie humeroscapularis beiderseits; Coxalgie beiderseits, degenerative Veränderungen der Kniegelenke; reaktive Depression, Schwindel. Eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit wurde ebenfalls festgestellt. Der dagegen erhobene Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 5. Januar 2000 zurückgewiesen. Der Kläger stellte mehrfach Verschlimmerungsanträge (24. Mai 2000 - Ablehnungsbescheid 10. Oktober 2000, Widerspruchsbescheid 1. März 2001; Antrag vom 19. Februar 2001 - Ablehnungsbescheid vom 16. Mai 2002) und beantragte zugleich die Zuerkennung des Merkzeichens "G". Mit Antrag vom 16. September 2002 wurde lediglich die Zuerkennung des Merkzeichens "G" beantragt und mit Bescheid vom 19. Dezember 2002 abgelehnt. Dagegen erhob der Kläger erneut Widerspruch. Mit Antrag vom 10. Juli 2003 machte der Kläger zudem eine Verschlimmerung seiner Gesundheitsstörungen geltend.

Das VA zog im Widerspruchsverfahren den Arztbrief des Rheuma-Zentrums B.-B. vom 12. Januar 2004 bei (Diagnosen: chronisches Schmerzsyndrom bei degenerativem Halswirbelsäulen-/Lendenwirbelsäulensyndrom bei Spondylose und Fehlhaltung; Zustand nach Wirbelsäulentrauma 1990; Fibromyalgiesyndrom; Periarthropathia humeroscapularis beidseits; leichte Retropatellararthrose; Arterielle Hypertonie, zur Zeit unzureichend eingestellt mit hypertensiven Entgleisungen; Übergewicht; Hypertriglyzeridämie; Verdacht auf coronare Herzkrankheit). Beigezogen wurde weiter der vorläufige Entlassbrief der Neurologischen Abteilung des Zentrums für Psychiatrie W. vom 7. Mai 2004 nach einem stationären Aufenthalt des Klägers vom 28. April bis 7. Mai 2004 (fraglicher Krampfanfall bei unauffälligem EEG; Hypokaliämie; Verdacht auf Meningeom).

Einen weiteren Verschlimmerungsantrag stellte der Kläger am 17. Mai 2004. Beigezogen wurde schließlich noch der Arztbrief des K.-hospitals S. vom 28. Mai 2004 (Verdacht auf Keilbeinflügelmeningeom links, bei augenärztlicher Abklärung als Zufallsbefund erhoben; keine neurologische Symptomatik).

Nach Einholung einer versorgungsärztlichen (vä) Stellungnahme lehnte der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 2. November 2004 die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab. Mit Bescheid vom 2. November 2004 stellte das VA den GdB ab 28. April 2004 mit 60 fest (Behinderungen: Gewebserkrankung des Gehirns, Anfallsleiden, Gesichtsfeldeinengung beidseits, Sehminderung beidseits; Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, mit Verformung verheilter Wirbelbruch, Schulter-Arm-Syndrom, Fibromyalgiesyndrom, Kalksalzminderung des Knochens; seelische Störung, chronisches Schmerzsydnrom, funktionelle Organbeschwerden; Funktionsbehinderung beider Hüftgelenke, Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Polyneuropathie, arterielle Verschlusskrankheit beider Beine).

Gegen den Bescheid vom 19. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. November 2004 hat der Kläger am 16. November 2004 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Das SG hat die Gerichtsakte im Verfahren S 18 R 6852/04 beigezogen (mit ärztlichen Gutachten des Rentenversicherungsträgers vom 5. Juli 2004, 9. Juli 2004 und schriftlichen Auskünften der behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen) und schriftlich die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen befragt (Dr. S., Auskunft vom 13. Juli 2005; Arzt für Orthopädie Dr. Ph., Auskunft vom 18. Juli 2005; Facharzt für Chirurgie Dr. R., Stellungnahme vom 14. Juli 2005; Facharzt für Augenheilkunde Dr. H., Auskunft vom 22. Juli 2005; Augenärztin Dr. M., Auskunft vom 22. Juli 2005; Neurologische Klinik des Krankenhauses W., Dr. R., Auskunft vom 17. August 2005).

Mit Gerichtsbescheid vom 12. Oktober 2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass unter Würdigung der ärztlichen Befundunterlagen und Stellungnahmen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht erfüllt seien. Beim Kläger lägen keine Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule vor, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen oder bei einem GdB von weniger als 50 sich besonders auf die Gehfähigkeit auswirkten. Dies hätten auch der Orthopäde Dr. Ph. und Dr. R. bestätigt, die einen GdB von 30 bzw. eine mittelgradige bis schwergradige Behinderung angenommen hätten. Auch gehöre der Kläger nicht zur Personengruppe der Nr. 30 Abs. 4 der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AP), da er nicht an hirnorganischen Anfällen mit mittlerer Anfallhäufigkeit leide. Insbesondere sei schon nicht nachgewiesen, dass überhaupt ein Krampfanfall im Frühjahr 2004 aufgetreten sei; auch das Keilbeinmeningeom führe zu keiner neurologischen Störung. Entsprechendes habe auch die behandelnde Neurologin und Dr. R. bestätigt. Auch liege keine gravierende Störung der Orientierungsfähigkeit (AP Nr. 30 Abs. 5) vor, insbesondere auch nicht aufgrund der Gesichtsfeldausfälle, die nach Auskunft des behandelnden Augenarztes keine Einschränkung für die Teilnahme am Straßenverkehr als Fußgänger bedingten. Aber auch die übrigen funktionellen Einschränkungen bedingten, wie die behandelnden Ärzte mitgeteilt hätten, keine Einschränkung der Wegefähigkeit.

Gegen den am 18. Oktober 2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 14. November 2006 Berufung eingelegt mit der Begründung, wenigstens jetzt lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" wegen Verschlimmerung vor.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 12. Oktober 2006 sowie den Bescheid vom 19. Dezember 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. November 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Vorliegen des Merkzeichens "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist zur Begründung im Wesentlichen auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidungen und hat die vä Stellungnahme vom 4. Juli 2007 vorgelegt.

Das Gericht hat die behandelnden Ärzte Dr. R., Facharzt für Chirurgie; Dipl.-Med. S., Fachärztin für Diagnostische Radiologie; Dr. Sch., Facharzt für Allgemeinmedizin; Dr. H., Facharzt für Augenheilkunde (Auskünfte vom 17. Januar 2007, vom 23. Januar 2007, 31. Januar 2007) schriftlich als sachverständige Zeugen befragt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahmen inhaltlich Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und nach § 151 SGG auch im Übrigen zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet. Die Beklagte hat die Zuerkennung des Merkzeichens "G" zu Recht abgelehnt.

Schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, werden von Unternehmern, die öffentlichen Personennahverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 im Nahverkehr im Sinne des § 147 Abs. 1 unentgeltlich befördert (§ 145 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz Sozialgesetzbuch Neuntes Buch [SGB IX]). In seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr ist erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Der Nachweis der erheblichen Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr kann bei schwerbehinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 80 nur mit einem Ausweis mit halbseitigem orangefarbenem Flächenaufdruck und eingetragenem Merkzeichen G geführt werden, dessen Gültigkeit frühestens mit dem 1. April 1984 beginnt, oder auf dem ein entsprechender Änderungsvermerk eingetragen ist (§ 146 Abs. 1 SGB IX).

Bei der Prüfung der Frage, ob eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vorliegt, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein, d.h. altersunabhängig von nicht behinderten Menschen, noch zu Fuß zurück gelegt werden. Nach der Rechtsprechung gilt als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (vgl. AP 2004 Nr. 30).

Das SG hat in der angefochtenen Entscheidung schlüssig und nachvollziehbar ausgeführt, warum aufgrund der im Entscheidungszeitpunkt aktenkundigen ärztlichen Unterlagen die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht vorgelegen haben. Der Senat nimmt hierauf zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug und verweist nach eigener Prüfung insoweit auf die Seiten 5 und 6 der Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).

Auch die weitere Sachverhaltsaufklärung im Berufungsverfahren hat keine Ergebnisse erbringen können, die die Zuerkennung des begehrten Merkzeichens rechtfertigen könnten. Insbesondere konnte die vom Kläger behauptete und durch die Benennung von Ärzten unter Beweis gestellte Verschlimmerung seiner Gesundheitsstörungen, die jedenfalls bis zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Berufung das Merkzeichen "G" rechtfertigen könnten, nicht nachgewiesen werden.

Der vom Kläger benannte Dr. R. hat mitgeteilt, den Kläger letztmalig im Juli 2005 gesehen zu haben und konnte deshalb auch keine Angaben darüber machen, dass bzw. ob sich der Gesundheitszustand des Klägers verschlechtert hat. Gegenüber dem SG hat Dr. R. im Juli 2005 (sachverständige Zeugenauskunft vom 14. Juli 2005) aber ausgeführt, dass der Kläger trotz der vorliegenden Gesundheitsstörungen (von ihm beschrieben als Handgelenksarthrose links, Keilbeinflügelmeningeom, Epicodylitits humeri radialis beidseits, Nucleus-pulposus-Prolaps, Spondylarthrose, Fibromyalgie) noch in der Lage sei, die üblichen Wegstrecken im Ortsverkehr zu Fuß zurückzulegen. Auch die durch die Dipl.-Med. S. im Jahr 2000 und 2001 erhobenen Befunde geben keinen Anlass zur Feststellung des Merkzeichens "G". Insbesondere ergab die Angiographie vom 20. Dezember 2000 keinen Hinweis auf hämodynamisch wirksame Einengungen; neuere ärztliche Unterlagen, die eine abweichende Beurteilung rechtfertigen könnten, liegen nicht vor.

Soweit der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. Sch. in seiner Stellungnahme ausführt, dass ihm zwar ein aktueller augenärztlicher Befund nicht vorliege, jedoch weiterhin von einer erheblichen Beeinträchtigung der Sehfähigkeit im Straßenverkehr auszugehen sei, der Kläger im Augenblick für das Gehen in der Ebene sowie bei Steigungen einen Gehstock wegen Gleichgewichtsstörungen, die sehr wahrscheinlich zentral ausgelöst seien, benötige, und deshalb eine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr bestehe, vermochten diese Ausführungen das Gericht nicht zu überzeugen.

Soweit Dr. Sch. seine Beurteilung im Schwerpunkt auf die eingeschränkte Sehfähigkeit des Klägers stützt, steht diese Beurteilung nicht in Übereinstimmung mit der fachärztlichen Stellungnahme von Dr. H., der auch im Berufungsverfahren als sachverständiger Zeuge angehört worden ist. Dieser hat in seiner Zeugenauskunft vom 31. Januar 2007 ausgeführt, dass sich der Befund, verglichen mit der Beschreibung in der sachverständigen Zeugenauskunft gegenüber dem SG (22. Juli 2005) nicht verschlechtert hat. Es besteht danach weiterhin ein Gesichtsfeldausfall bei Keilbeinflügelmeningeom. Gegenüber dem SG hat Dr. H. auf Basis dieser Diagnose weiter ausgeführt, dass die Teilnahme am Straßenverkehr als Fußgänger auch mit den Gesichtsfeldausfällen möglich und ein GdB von 20 dafür gerechtfertigt ist. Darüber hinaus sind nach den AP S. 138 Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen, bei allen Sehbehinderten erst mit einem GdB von wenigstens 70, bei Sehbehinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z.B. hochgradige Schwerhörigkeit beidseits, geistige Behinderung) anzunehmen. Diese Voraussetzungen sind beim Kläger erkennbar ebenfalls nicht erfüllt.

Soweit Dr. Sch. weiter ausführt, die Gleichgewichtsstörungen seien sehr wahrscheinlich zentral ausgelöst, ist diese Vermutung durch keine ärztlichen Unterlagen, insbesondere nicht durch die von ihm in Anlage zur sachverständigen Zeugenauskunft übersandten, belegt. Es liegen aber auch im Übrigen keine neurologischen Befunde vor, die diese Annahme rechtfertigen könnten. Insbesondere kann den Arztbriefen der Klinik W. und der sachverständigen Zeugenauskunft von Dr. R. gegenüber dem SG eine solche Ursache - nicht einmal als Verdacht - nicht entnommen werden.

Weitere Beweiserhebungen von Amts wegen waren deshalb nicht angezeigt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht erfüllt sind.
Rechtskraft
Aus
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