L 4 R 4192/05

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 5 R 76/05
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 4192/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 02. September 2005 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger erhebt Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung.

Der am 1957 geborene Kläger, 1972 aus der Türkei zugezogen, war von September 1973 bis März 1977 als Gärtnereiarbeiter, anschließend als Maschinenarbeiter bis September 1991 beschäftigt. Anschließend blieb er durchgängig arbeitslos, unterbrochen von Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, und bezog Leistungen wegen Arbeitslosigkeit. Anträge auf Rente wegen Berufs- bzw. Erwerbsunfähigkeit vom 08. November 1994 und 26. Februar 1999 blieben erfolglos (bestandskräftige Bescheide der Landesversicherungsanstalt Baden - eine der Rechtsvorgängerinnen der Beklagten, im Folgenden einheitlich Beklagte - vom 18. April 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. August 1995 und vom 01. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Juli 2001).

Am 20. Januar 2004 beantragte der Kläger erneut Rente wegen Erwerbsminderung. Er fügte aus neuerer Zeit den Bericht des Dr. H., D.-Klinik B., vom 11. Dezember 2002 über den stationären Aufenthalt vom 26. November bis 04. Dezember 2002 mit Operation eines Impingement-Syndroms linke Schulter sowie den Bescheid des Versorgungsamts Karlsruhe vom 18. Februar 2003 über den Grad der Behinderung (GdB) von 60 seit 06. Dezember 2002 bei. Fachärztin für Anästhesie/Sozialmedizin Dr. Sch. erstattete das Gutachten vom 03. Februar 2004. Es bestünden ein Diabetes mellitus Typ I mit beginnender sensibler Polyneuropathie, ein Übergewicht (93 kg bei 167 cm Größe) sowie Beschwerden der Wirbelsäule bei mäßigen Verschleißerscheinungen. Hinzu kämen eine Hörschwäche mit Versorgung durch Hörgeräte beidseits, ein Schulter-Arm-Syndrom links sowie eine konversionsneurotische Fehlhaltung. Für leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne Akkord, erhöhte Anforderungen an das Hörvermögen, häufige Überkopfarbeiten, Absturzgefahr, Nässe oder Kälte bestehe ein vollschichtiges Leistungsvermögen. Notwendig sei eine bessere Einstellung des Diabetes. Durch Bescheid vom 09. Februar 2004 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Der Kläger erhob Widerspruch, den er nicht begründete. Vom 31. März bis 21. April 2004 befand sich der Kläger in einer Maßnahme der medizinischen Rehabilitation, aus der er arbeitsfähig entlassen wurde. Der Kläger wurde für fähig gehalten, zumindest leichte bis mittelschwere Arbeiten ohne mögliche Fremd- bzw. Eigengefährdung, ohne übermäßige Belastung des linken Arms und ohne häufige Überkopfarbeiten vollschichtig zu verrichten (Entlassungsbericht des Internisten Dr. W. vom 10. Mai 2004). Nach einer weiteren Stellungnahme der Dr. Sch., die bei ihrer Einschätzung des Leistungsvermögens verblieb, wies der Widerspruchsausschuss der Beklagten den Widerspruch des Klägers zurück (Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2004). Der Kläger könne mindestens noch sechs Stunden täglich erwerbstätig sein.

Mit der am 07. Januar 2005 zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhobenen Klage trug der Kläger vor, er habe sich gegenüber den Ärzten sprachlich nicht hinreichend ausdrücken können. Keinesfalls könne er sechs Stunden täglich einer Erwerbstätigkeit nachgehen.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG befragte die behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Internist Dr. G. gab unter dem 11. März 2005 an, der Diabetes sei sehr schlecht eingestellt und eine Erwerbstätigkeit sei aus wohl auch psychosozialen und migrationsbedingten Problemen nur schwer vorstellbar. Arzt für Orthopädie Dr. E. führte in der Zeugenaussage vom 21. März 2005 aus, es würden stets die gleichen Beschwerden im Bereich von Hals- und Lendenwirbelsäule sowie in den Schultergelenken und im rechten Ellenbogengelenk geklagt; durch Therapie seien die Beschwerdenkomplexe ohne wesentliche Änderung gut beeinflussbar gewesen. Internist Dr. S. erstattete aufgrund Untersuchung vom 12. Mai 2005 - mit Beiziehung eines Dolmetschers - das Gutachten vom 11. Juni 2005. Es bestünden der Diabetes mellitus Typ IIb, insulinpflichtig, mäßig eingestellt, eine starke Übergewichtigkeit, noch kein Hinweis auf eine Erkrankung von Herz und Lunge sowie die Hörminderung beidseits. Nicht möglich seien schwere körperliche Arbeiten sowie Arbeiten auf Gerüsten oder an Maschinen mit erhöhter Unfallgefahr, in Wechselschichten, mit erhöhter Lärmbelastung oder mit Voraussetzung eines normalen Hörvermögens. Heben und Tragen von Lasten sei noch bis zu 20 kg möglich. Die zeitliche Leistungsfähigkeit reiche noch bis zu acht Stunden. Betriebsunübliche Pausen seien nicht erforderlich, nachdem bei Diabetikern die Einnahme zusätzlicher Zwischenmahlzeiten in kurzen Verzehrpausen in der Arbeitswelt praktisch toleriert werde. Wegstrecken von 500 Metern könnten in 15 bis 18 Minuten zurückgelegt werden. Eine wesentliche Änderung sei seit 2003 nicht eingetreten. Eine orthopädische Begutachtung oder eine weitergehende integrierende Gesamtbeurteilung sei nach den aktenkundigen Befunden nicht zu fordern.

Durch Gerichtsbescheid vom 02. September 2005 wies das SG die Klage ab. Zur Begründung legte es dar, sämtliche am Verfahren beteiligten Ärzte stimmten in den von ihnen erhobenen Befunden und den rentenrechtlichen Schlussfolgerungen überein. Leichte Tätigkeiten mit den vom Sachverständigen Dr. S. zuletzt genannten qualitativen Einschränkungen seien sechsstündig möglich. Berufsschutz stehe dem Kläger nicht zu.

Gegen den am 12. September 2005 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 12. Oktober 2005 beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen, der Gesundheitszustand habe sich verschlechtert. Dies betreffe insbesondere die Zuckerkrankheit. Bezüglich der Augen sei er hochgradig weitsichtig. Der Kläger hat den Arztbrief des Augenarztes Dr. A. vom 15. Februar 2006 sowie den Bericht des Neurologen S. vom 20. Februar 2006 vorgelegt, der eine funktionell überlagerte diabetische Polyneuropathie nennt.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 02. September 2005 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 09. Februar 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Dezember 2004 zu verurteilen, ihm Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, weiter hilfsweise wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab 01. Januar 2004 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid und ihre Bescheide für zutreffend.

Der Senat hat Internisten Dr. G. nochmals schriftlich als sachverständigen Zeugen befragt. Dieser hat in der Aussage vom 25. September 2006 angegeben, seit Behandlungsbeginn (Dezember 2004) sei keine durchgreifende Änderung des Gesundheitszustands aufgefallen. Der Diabetes sei schlecht eingestellt. Innerhalb der nächsten Jahre sei mit diabetischen Folgeschädigungen an mehreren Organen zu rechnen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Berufungsakten, der Klageakten und der Verwaltungsakten der Beklagten (24 011157 C 002) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers, über die der Senat im Einverständnis beider Beteiligter ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entschieden hat, ist in der Sache unbegründet. Es besteht kein Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung oder wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Versicherte haben bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres gemäß § 43 Abs. 1 Satz 1 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB VI) Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung und gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Letztere Grenze liegt für die Rente wegen voller Erwerbsminderung bei mindestens drei Stunden täglich (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Nach der weiterhin anerkannten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zur "konkreten Betrachtungsweise" (Beschlüsse des Großen Senats BSGE 30, 167; 43, 75) schlägt die teilweise Erwerbsminderung in die volle durch, wenn ein Arbeitsplatz tatsächlich nicht innegehabt wird und der Arbeitsmarkt für Teilzeitarbeit verschlossen ist.

Der Kläger ist nicht erwerbsgemindert, weil er unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts noch sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers sind durch das Gutachten des Internisten Dr. S. vom 11. Juni 2005 geklärt, dem der Senat - wie bereits das SG - folgt. Hiernach besteht ein Diabetes mellitus Typ IIb, insulinpflichtig ohne absoluten Insulinmangel und mäßig eingestellt. Hinzu kommt ein starkes Übergewicht (93 kg bei 168 cm Größe). Zusätzliche innere Erkrankungen, etwa von Herz oder Lunge, sind noch nicht vorhanden. Hinzu kommt eine Hörminderung beidseits, die durch Hörgerät ausgeglichen ist. Bei diesen Befunden sind auszuschließen schwere Arbeiten, solche auf Gerüsten oder an Maschinen mit erhöhter Unfallgefahr, Wechselschicht, erhöhte Lärmbelastung oder Anforderungen an normales Hörvermögen. In seine Gesamtbeurteilung hat der Sachverständige auch die Verschleißerscheinungen auf orthopädischem Fachgebiet einbezogen. Hierbei handelt es sich - so das Rentengutachten der Ärztin Dr. Sch. vom 03. Februar 2004 und der Entlassungsbericht des Dr. W. vom 10. Mai 2004 - um ein chronisches Wirbelsäulensyndrom bei mäßigen Verschleißerscheinungen und den Zustand nach Operation eines Impingement-Syndroms in der DRK-Klinik B. im November 2002. Es ist nachvollziehbar, dass hieraus weitere wesentliche qualitative Leistungseinschränkungen nicht herrühren; Ärztin Dr. Sch. nennt in diesem Zusammenhang häufige Überkopfarbeiten, Arbeiten in Nässe oder Kälte, die zu vermeiden sind. Dass es sich letztlich nicht um einen schwerwiegenden Befund handelt, wird durch die Zeugenaussage des Orthopäden Dr. E. vom 21. März 2005 bestätigt, der die Befundsituation als befriedigend bezeichnet.

Weitere medizinische Ermittlungen sind nicht geboten gewesen. Die mit der Berufungsbegründung vorgetragene Verschlechterung insbesondere des Diabetes konnte von Internist Dr. G. (Zeugenaussage vom 25. September 2006) nicht bestätigt werden. Der Arzt nennt keine durchgreifende Änderung des Gesundheitszustands seit Behandlungsbeginn im Dezember 2004. Dass bei schlechter Blutzuckereinstellung mit Folgeschädigungen an verschiedenen Organen gerechnet werden müsse, kann für die gegenwärtige rentenrechtliche Beurteilung nicht berücksichtigt werden. Insbesondere auf augenärztlichem Gebiet nennt der Bericht des Facharztes Dr. A. vom 15. Februar 2006 zwar einen arteriosklerotischen und hypertonischen Augenhintergrund, eine trockene Maculopathie sowie eine einfache diabetische Retinopathie, jedoch konnte ersichtlich eine schwerwiegende Schädigung der Augen durch Laserkoagulation aufgehalten werden. Leichte körperliche Arbeiten werden bei diesem Befund noch nicht gehindert. Eine zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens unter arbeitstäglich sechs Stunden ergibt sich aus alledem nicht.

Der Ausnahmefall einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder einer schweren spezifischen Behinderung (vgl. Großer Senat BSGE 80, 24), der die konkrete Benennung einer Tätigkeit fordern würde, liegt nicht vor. Insbesondere hat der Sachverständige Dr. S. zutreffend darauf hingewiesen, dass die bei Diabetikern geforderten gelegentlichen Verzehrpausen im Arbeitsleben toleriert würden und keine "betriebsunüblichen" Pausen darstellten. Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (vgl. § 240 Abs. 1 SGB VI) steht zu, wenn die Erwerbsfähigkeit von Versicherten wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist (vgl. Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift). Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (Satz 2). Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (Satz 4).

Bisheriger Beruf des Klägers - eine förmliche Ausbildung hat er nicht durchlaufen und von einem höherwertigen Beruf hat er sich nicht aus gesundheitlichen Gründen gelöst (vgl. hierzu BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 38 m.N.) - ist die langjährig ausgeübte Beschäftigung als Maschinenarbeiter. Hierbei handelt es sich im Sinne des in der Rechtsprechung verwendeten "Stufenschemas" allenfalls um eine angelernte Tätigkeit, für die eine Ausbildungs- oder Anlernzeit von über zwölf Monaten (vgl. BSG SozR 3-2200 § 1246 Nr. 45) offensichtlich nicht erforderlich war. Mithin kann der Kläger im Sinne des Stufenschemas auf die nächst niedrige Gruppe ungelernter Arbeiter verwiesen werden. Solche Tätigkeiten kann er aus den zuvor genannten Gründen noch arbeitstäglich sechs Stunden ausüben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe zur Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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