L 1 U 4568/10

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 4545/07
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 1 U 4568/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24.08.2010 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung und Entschädigung eines Kehlkopfkarzinoms als Berufskrankheit (BK) im Streit.

Der 1932 geborene Kläger war vom 04.04.1950 bis zum 31.05.1951 als Lehrhauer und Erzhauer in einem Uranbergwerk der Deutschen Demokratischen Republik beschäftigt, wobei er ionisierenden Strahlen im Sinne der BK Ziff. 2402 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) ausgesetzt war. Vom 01.06.1951 bis zum 15.09.1951 absolvierte er eine Ausbildung am firmeneigenen Bergtechnikum F. zum Hilfsgeologen; während dieser Zeit fand eine Strahlenexposition nicht statt. Außerdem war der Kläger in den Monaten Mai und Juni 1950 arbeitsunfähig erkrankt, sodass auch in diesen beiden Monaten eine Strahlenbelastung nicht erfolgte. Nach Beendigung einer Tätigkeit als Hilfsgeologe beim Geologischen Dienst des Landes Sachsen zum 31.10.1952 übersiedelte der Kläger 1952 aus der Deutschen Demokratischen Republik in die Bundesrepublik Deutschland.

Bei einer Untersuchung des Klägers im Universitätsklinikum F. am 10.03.1987 wurde ein ausgedehntes Kehlkopfkarzinom festgestellt, welches noch im selben Monat operativ entfernt wurde (Entfernung des Kehlkopfes und der infiltrierten Schilddrüse mit Verlust der fluiden Sprache).

Im April 1991 beantragte der Kläger deswegen die Anerkennung einer Entschädigung als BK. Im Verwaltungsverfahren holte die Beklagte ein Gutachten bei der Nuklearmedizinischen Klinik in Jülich vom 03.08.1992 ein, wonach unter Berücksichtigung aller Umstände und bei Durchführung einer "worst-case-Betrachtung" (Annahme der höchstmöglich erfolgten Strahlenexposition) lediglich eine Wahrscheinlichkeit von 7,6 % dafür bestehe, dass die Erkrankung durch die berufliche Tätigkeit verursacht worden sei. Ein arbeitsmedizinisches Gutachten vom 05.07.1993 durch Prof. Dr. L. bestätigte dieses Ergebnis.

Mit Bescheid vom 26.10.1993 lehnte die Rechtsvorgängerin der Beklagten die Gewährung einer Entschädigung mit der Begründung ab, dass eine BK nach der Ziff. 2402 der Anlage 1 zur BKVO ("Erkrankungen durch ionisierende Strahlen") nicht vorliege. Ein ursächlicher Zusammenhang der Erkrankung mit den Strahlenbelastungen am Arbeitsplatz sei nach den vorliegenden Gutachten unwahrscheinlich. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 26.04.1994 zurückgewiesen.

Die Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) wurde nach Einholung eines für den Kläger ungünstigen Zusammenhangsgutachtens durch Dr. B. vom Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg vom 08.01.1996 mit Urteil vom 24.03.1999 abgewiesen (Aktenzeichen S 2 KNU 1038/94).

Die Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) wurde mit Beschluss vom 22.07.2002 zurückgewiesen (Aktenzeichen L 13 KN 2112/99). Das LSG hatte zuvor auf Antrag des Klägers ein strahlenbiologisches Gutachten bei Prof. Dr. Dr. St. vom 10.03.2001 eingeholt, in dem die Wahrscheinlichkeit einer beruflichen Verursachung mit 48,3 % und möglicherweise auch über 50 % angegeben worden war. Das LSG folgte den Ausführungen dieses Gutachters insbesondere deswegen nicht, weil der Gutachter Prof. Dr. Dr. St. den starken Nikotin- und Alkoholkonsum des Klägers ausdrücklich nicht berücksichtigt habe, obwohl bekannt sei, dass starker Tabakkonsum ein vorrangiger Risikofaktor für das Entstehen von Karzinomen in der Mund- und Kieferhöhle sei. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wurde durch das Bundessozialgericht (BSG) mit Beschluss vom 14.11.2002 verworfen (Aktenzeichen B 8 KN 8/02 UB).

Der Kläger stellte am 20.12.2005 einen Überprüfungsantrag nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), den er darauf stützte, dass seine Kehlkopferkrankung noch vor dem 31.12.1991 als BK nach der Nr. 92 der Anlage zur BKV-DDR hätte anerkannt werden müssen (unter Berufung auf BSG, Urteil vom 18.08.2004 - B 8 KN 2/03 UR -).

Die Beklagte holte eine aktuelle Stellungnahme ihres Technischen Aufsichtsdienstes (TAD) ein. Dieser teilte nach erneuter Prüfung der Sachlage am 09.03.2006 eine kumulative Äquivalentdosis bezogen auf den Kehlkopf von 9,22 SV (Sievert; nach der Äquivalentdosis von "1 Sievert", welcher 100 Menschen ausgesetzt sind, ist in 5 Fällen mit Strahlungs-induziertem Krebs zu rechnen) mit. Demnach habe eine Verursachungswahrscheinlichkeit nach dem Jacobi-Gutachten von 32 % bestanden. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass erst bei einer Verursachungswahrscheinlichkeit von mehr als 50 % eine Verursachung durch Strahlung wahrscheinlicher sei als das bestehende Spontanrisiko.

Mit Bescheid vom 19.06.2006 lehnte die Beklagte daraufhin eine Änderung ihres Bescheides vom 26.10.1993 gestützt auf die Ausführungen des TAD ab. Auch eine Anerkennung einer BK nach der Nr. 92 der BKVO/DDR scheide aus, da der Kläger bereits im Oktober 1952 aus der DDR ausgesiedelt sei und daher dem Fremdrentengesetz (FRG) unterfalle, wonach DDR-Recht nicht anwendbar sei.

Der Kläger begründete seinen am 17.07.2006 eingelegten Widerspruch damit, dass er in der Berufsgruppe der Radiometristen tätig gewesen sei, wo die höchste Strahlenbelastung bezogen auf alle Untertagearbeiten bestanden habe. Er habe während seiner Arbeit die Sprenggase aus der vorangegangenen Abbauschicht und nach der Wegräumung des abgesprengten Gesteins dessen Gase eingeatmet. Seine Strahlenbelastung habe erst mit dem Ablegen der erzstaubbehafteten Arbeitskleidung zu Schichtende aufgehört. Unklar sei, welche Strahlenbelastung die Beklagte in seinem Fall zugrunde gelegt habe. Vermutlich habe die Beklagte die Messdaten eines Grubenarbeiters und nicht die eines Erzarbeiters herangezogen.

In einer weiteren Stellungnahme vom 22.11.2006 teilte der TAD mit, dass im Schacht 87 eine wesentlich geringere Strahlenbelastung als nach dem Durchschnittswert des Objekts 01 bestanden habe. Ausgehend von den früheren Berechnungen in der ersten Stellungnahme vom 09.03.2006 sei deswegen nur von einer Verursachungswahrscheinlichkeit von 16% auszugehen, wobei im Rahmen einer worst-case-Betrachtung maximal eine Verursachungswahrscheinlichkeit von 32% angenommen werden könne, wenn der Durchschnittswert aller Schächte im Objekt 01 zugrunde gelegt werde. Eine Tätigkeit des Klägers als Radiometrist könne nicht nachvollzogen werden, da diese den Akten nicht zu entnehmen sei. Allerdings seien auch die Belastungskennziffern des Hauers die höchsten der bei der Wismut beschäftigten Arbeiter gewesen. Zusätzlich wurde darauf hingewiesen, dass den Berechnungen eine Arbeitsstundenzahl zugrunde gelegt worden sei, die vom Kläger vermutlich überhöht angegeben worden sei. Nach Recherchen des TAD liege für alle Wismutbeschäftigten bis 1958 ein Arbeitszyklus vor, der in der Summe lediglich 2400 Stunden pro Jahr ergebe. Dieser Zeitfaktor liege auch der erneuten Berechnung zugrunde.

Der Kläger verwies hierzu auf eine Bescheinigung des Zentralvorstandes der Wismut vom 27.11.1979, wonach er in der Zeit vom 01.09.1950 bis zum 17.10.1951 als "Lehrhauer, Erzhauer" tätig gewesen sei.

In zwei weiteren Stellungnahmen des TAD vom 08.02.2007 und 16.05.2007 wurde darauf hingewiesen, dass der Schacht 87 erst nachträglich vom Objekt 08 der Verwaltung des Objektes 01 zugeschlagen worden sei, was indes an der Exposition nichts ändere. Keinesfalls übersteige die Belastung eines Radiometristen die eines Hauers. Die der Berechnung zugrunde gelegten Daten seien dem Abschlussbericht des Forschungsvorhabens des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften "Belastungen durch ionisierende Strahlung im Uranerzbergbau der ehemaligen DDR" entnommen.

Mit Hinweis auf die neuerlichen Ausführungen des TAD wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.08.2007 zurück.

Der Kläger hat am 24.08.2007 Klage beim SG erhoben. Zur Begründung hat er unter anderem ausgeführt, dass jedenfalls eine BK Nr. 92 der Liste zur BKVO-DDR anzuerkennen sei, weil von einer "doppelten Strahlenbelastung" des Radiometristen im Vergleich zu anderen Untertagearbeitern auszugehen sei, und dass die Beklagte nicht die Messdaten eines Erzhauers zugrunde gelegt habe. Es sei deswegen von einer Verursachungswahrscheinlichkeit von 64 % auszugehen. Klarstellend hat der Kläger mit Schriftsatz vom 17.01.2008 erklärt, dass seine Tätigkeit die eines Erzhauers gewesen sei.

Das SG hat eine Stellungnahme der Beklagten eingeholt, wonach die Beschäftigten der Wismut bis 1990 keine persönlichen Dosimeter getragen hätten, so dass die konkret-individuelle Strahlenbelastung des Klägers nicht mehr ermittelt werden könne. Der Rekonstruktion dieser Belastung diene das in das Verfahren eingeführte Forschungsvorhaben der gewerblichen Berufsgenossenschaften "Belastungen durch ionisierende Strahlung im Uranerzbergbau der ehemaligen DDR". Die Klägerbevollmächtigten haben mitgeteilt, dass die Möglichkeit einer Neutronenaktivierungs-Analyse zur Bestimmung der individuellen Belastung vom Kläger wegen der damit verbundenen Gesundheitsbelastung abgelehnt worden sei.

Nach Durchführung eines Erörterungstermins am 01.02.2010 und Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 24.08.2010 abgewiesen. Das Vorliegen einer BK im Sinne der bundesdeutschen Berufskrankheitenverordnung (BKV) oder der BKVO-DDR sei nicht nachgewiesen, so dass kein Anspruch auf eine Entschädigung des Kehlkopfkarzinoms bestehe. Die Ablehnung der Anerkennung einer BK nach der Nr. 92 der BKVO-DDR "Bösartige Neubildungen oder ihre Vorstufen durch ionisierende Strahlung" sei zu Recht erfolgt. Nach § 6 Abs. 3 BKVO-DDR gelte als Beginn der BK der Zeitpunkt der ärztlichen oder betrieblichen Meldung oder der Beginn der Behandlungsbedürftigkeit oder der Arbeitsunfähigkeit (mit Hinweis auf LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10.10.2002 - L 8 U 108/00 -). Da der Kläger bereits 1952 in die damalige Bundesrepublik übersiedelt sei und die erstmalige Feststellung der streitgegenständlichen Kehlkopfkarzinomerkrankung erst in das Jahr 1987 falle, könne der Kläger aus fortgeltendem DDR-Recht nichts für sich herleiten. Denn die BKVO-DDR sei als partielles Bundesrecht lediglich dann anwendbar, wenn der Versicherungsfall auf dem Gebiet der neuen Bundesländer vor dem 01.01.1992 eingetreten sei.

Auch die Anerkennung einer BK nach der Ziff. 2402 nach der bundesdeutschen BKV "Erkrankungen durch ionisierende Strahlen" sei zu Recht unterblieben. Die begehrte Überprüfung im Sinne von § 44 SGB X der bestandskräftigen und durch rechtskräftigen Beschluss des LSG bestätigten Entscheidung der Beklagten vom 26.10.1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.04.1994 sei zu Recht abgelehnt worden. Zur rückschauenden Klärung der Expositionsverhältnisse Uranbergbau der DDR sei eine Arbeitsplatz-Belastungs-Matrix erstellt worden (Abschlussbericht zum Forschungsvorhaben des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften "Belastungen durch ionisierende Strahlen im Uranerzbergbau der ehemaligen DDR", herausgegeben vom HVBG, 1998). Damit könne jedem Beschäftigten der Wismut AG in Abhängigkeit von dem Beschäftigungsort und -jahr sowie der ausgeübten Tätigkeit ein Belastungswert durch Radonfolgeprodukte, langlebige Radionuklide und externe Gamma-Strahlung zugeordnet werden. Diese Expositionsermittlung sei als Grundlage für die Tatsachenfeststellung im BK-Verfahren anerkannt (mit Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 1188). Das BSG habe dieses Verfahren ausdrücklich als geeignete Datenbasis zur Feststellung der Verursachungswahrscheinlichkeit extrapulmonaler Krebserkrankungen anerkannt (mit Hinweis auf das Urteil des BSG vom 18.08.2004 - B 8 KN 2/03 U R -). Zwar lägen für extrapulmonale Erkrankungen belastbare epidemiologische Studien aus dem Uranerzbergbau weltweit nicht vor, jedoch fuße das Jacobi-II-Gutachten auf den fortgeschriebenen Daten der "Life-Span-Study" der Überlebenden von Hiroshima und Nagasaki (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S.1189). Die Beklagte habe daher eine verlässliche Datenbasis auch der für den Kläger einschlägigen Daten verwendet. Die Beklagte sei zu Recht von einer Tätigkeit als Hauer auf dem Abbau im Objekt 01 nach der Tabelle 2.1.1.1. auf S. 215 des Abschlussberichts ausgegangen. Nach zwischenzeitlich vorliegenden widersprüchlichen Aussagen des Klägers zu seiner Tätigkeit habe dieser mit Schriftsatz vom 17.01.2008 ausdrücklich klarstellen lassen, dass er stets Erzhauer gewesen sei. Zutreffend sei auch die Tabelle für das Objekt 01 herangezogen worden, denn diesem sei der Schacht 87 schon bald darauf bis zum Produktionsende zugeordnet worden. Die Beklagte habe zu Recht auch lediglich einen Expositionszeitraum für die Zeit von April 1950 bis Mai 1951 angenommen, was sich aus den vorliegenden Bescheinigungen über die Tätigkeit über Tage als Schüler vom 01.06.1951 bis 15.09.1951 ergebe. Die Beklagte habe zudem zu Gunsten des Klägers auch im Mai und Juni 1950 eine Exposition angenommen, obwohl der Kläger in diesen Monaten wegen Arbeitsunfähigkeit nicht an seinem Arbeitsplatz tätig gewesen sei. Die Beklagte habe danach zutreffend die Werte aus der Tabelle 2.1.1.1 auf S. 215 des Abschlussberichts übernommen, ohne dass insoweit Übertragungsfehler erkennbar seien. Nach dem Jacobi-II-Gutachten ergebe sich bei den Werten des Klägers eine Verursachungswahrscheinlichkeit von lediglich 32%. Hierbei sei sogar im Wege einer worst-case-Betrachtung zugunsten des Klägers außer Acht geblieben, dass der Schacht 87 deutlich niedrigere Strahlungswerte aufgewiesen habe als der Durchschnittswert des Objekts 01. Bei einer nur 33 %-igen Verursachungswahrscheinlichkeit könne nicht von einer für eine Verurteilung der Beklagten ausreichenden wesentlichen Ursächlichkeit der Tätigkeit im Uranbergbau für die Kehlkopferkrankung ausgegangen werden, wozu das SG im Weiteren auf den rechtskräftigen Beschluss des LSG Baden-Württemberg vom 22.07.2002 Bezug genommen hat. Im Übrigen habe der Kläger auch die alternative Verursachungsmöglichkeit durch seinen bis 1971 vorliegenden starken Zigarettenkonsum (20 bis 25 Zigaretten täglich) nicht bestritten. Der Gerichtsbescheid des SG ist den Bevollmächtigten des Klägers am 30.08.2010 zugestellt worden.

Die Bevollmächtigten des Klägers haben am 27.09.2010 beim LSG Berufung eingelegt, mit der sie sich auf ihr bisheriges Vorbringen stützen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 24.08.2010 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 19.06.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2007 sowie unter Rücknahme des Bescheides vom 26.10.1993 in Form des Widerspruchsbescheides vom 26.04.1994 zu verurteilen, das bei ihm bestehende Kehlkopfkarzinom als Berufskrankheit nach der Ziff. 2402 der Anlage 1 zur BKVO, hilfsweise nach der Nr. 92 der BKVO-DDR anzuerkennen und ihm eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 (v.H.) zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten, die Akten des SG sowie die Akten des LSG Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143 f. und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und zulässige Berufung ist nicht begründet. Mit dem Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat nach § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Das SG hat zu Recht entschieden, dass das Kehlkopfkarzinom des Klägers weder als BK nach der Ziff 2402 der Anlage zur BKV noch nach der Nr. 92 der BKVO-DDR anzuerkennen ist, weshalb insoweit die Gewährung von Leistungen nach dem SGB VII ausscheidet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist eine kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, § 56 SGG), mit der der Kläger (sinngemäß) die Aufhebung des Bescheides vom 19.06.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10.08.2007 sowie Verurteilung der Beklagten zur Rücknahme des Bescheides vom 26.10.1993 in Form des Widerspruchsbescheides vom 26.04.1994 und zur Anerkennung des bei ihm aufgetretenen Kehlkopfkarzinoms als Berufskrankheit nach der Ziff. 2402 der Anlage zur BKV, hilfsweise nach der Nr. 92 der BKVO-DDR begehrt (vgl. BSG, Urteil vom 20.10.2010 - B 13 R 82/09 R -, für SozR 4-0000 vorgesehen).

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 SGB X ist ein (im Sinne von § 45 Abs 1 SGB X) nicht begünstigender Verwaltungsakt zurückzunehmen, soweit er (anfänglich) rechtswidrig ist. Der Verwaltungsakt ist mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen (Abs. 2 Satz 1 a.a.O.), soweit er noch Rechtswirkungen hat, also noch nicht im Sinne von § 39 Abs 2 SGB X erledigt ist. Die Rücknahme hat als gebundene Entscheidung für die Vergangenheit zu erfolgen, wenn wegen der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind.

Zunächst ist festzustellen, dass der Kläger aus dem Berufskrankheitenrecht der Deutschen Demokratischen Republik bereits deswegen keine Ansprüche ableiten kann, weil auf seinen Sachverhalt ausschließlich bundesrepublikanisches Recht anzuwenden ist, in welches die BKVO-DDR keine Aufnahme gefunden hat.

Nach der Stichtagsregelung des § 215 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist für die Übernahme der vor dem 01.01.1992 eingetretenen Unfälle und Krankheiten als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung § 1150 Abs. 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der am Tag vor Inkrafttreten des SGB VII geltenden Fassung (01.01.1997) weiter anzuwenden.

Nach dem hier einschlägigen, auf dem am 01.01.1992 in Kraft getretenen Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) beruhenden § 1150 Abs. 2 RVO in der bis zum 31.12.1996 geltenden Fassung gelten Unfälle und Krankheiten, die vor dem 01.01.1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten im Sinne des Dritten Buches (RVO). Dies gilt nicht für Unfälle und Krankheiten, 1. die einem ab 1. Januar 1991 für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der Unfallversicherung erst nach dem 31. Dezember 1993 bekannt werden und die nach dem Dritten Buch nicht zu entschädigen wären, 2. die mit Wirkung für die Zeit vor dem 1. Januar 1992 als Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten nach dem Fremdrentengesetz anerkannt worden sind, es sei denn, der Verletzte hat seinen gewöhnlichen Aufenthalt vor dem 1. Januar 1992 in das Beitrittsgebiet verlegt.

Die Verweisung auf das im Beitrittsgebiet geltende Recht in Abs. 1 Satz 1 der Vorschrift weist darauf hin, dass für die Anwendbarkeit des einschlägigen Sozialrechts auf die Regeln des interlokalen Sozialrechts zurückzugreifen ist.

Insoweit sieht auch § 1 Buchstabe b FRG in Verbindung mit § 5 Abs. 1 Nr. 1 FRG für Deutsche im Sinne des Grundgesetzes, welche - wie der Kläger - ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik genommen haben, die ausschließliche Anwendbarkeit der maßgebenden bundesrechtlichen Vorschriften vor, wenn bei einem außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik Deutschland eingetretenen Arbeitsunfall der Verletzte im Zeitpunkt des Unfalls bei einem deutschen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung versichert war. Die Vorschriften stellen somit eine Ausnahme von dem in § 3 Nr 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) verankerten Territorialprinzip dar (vgl. BSG, Urteil vom 04.05.1999 - B 2 U 19/98 R -, SozR 3-2200 § 1150 Nr. 2).

Die Voraussetzungen dieser Vorschriften sind im Fall des Klägers erfüllt, weil die Vorschrift nach ihrem Abs. 3 Satz 1 auch auf Berufskrankheiten anzuwenden ist, wobei als Stichtag der letzte Tag der gefährdenden Exposition gilt, und weil die damals in der Deutschen Demokratischen Republik bestehende Sozialversicherung des Klägers nach § 3 Abs. 1 FRG der Versicherung bei einem deutschen Versicherungsträger entsprach. Da als Bundesrecht nach 3 Abs. 2 FRG für Versicherungsfälle vor dem 01.01.1992 allein das Recht der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet gilt, sind für die 1987 erstmalig in der Bundesrepublik aufgetretene Erkrankung des Klägers allein die Vorschriften der RVO über die gesetzliche Unfallversicherung und nicht diejenigen der Deutschen Demokratischen Republik einschlägig.

Auf einen etwaigen entgegenstehenden Wortlaut oder eine etwaige entgegenstehende Auslegung des Berufskrankheitenrechts der DDR kommt es bereits deswegen nicht an, weil nach Art. 3 des Vertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 31.08.1990 - Einigungsvertrag - (BGBl II 1990, 889) ausdrücklich geregelt ist, dass mit dem Wirksamwerden des Beitritts im Beitrittsgebiet Bundesrecht in Kraft trat, soweit es nicht in seinem Geltungsbereich auf bestimmte Länder oder Landesteile der Bundesrepublik Deutschland beschränkt ist und soweit durch diesen Vertrag, insbesondere dessen Anlage I, nichts anderes bestimmt wird.

Das vom Kläger zitierte Urteil des BSG (vom 18.08.2004 - B 8 KN 2/03 UR -) betrifft den anders gelagerten Fall, in dem ein ähnlich wie der Kläger beschäftigter Versicherter zwar auch bereits in den 80er Jahren erkrankt ist, jedoch im Beitrittsgebiet, weswegen in diesem Fall die Regelungen des FRG nicht anwendbar sind. Das Unfallversicherungsrecht der DDR findet demnach nach dem oben genannten Regelungskomplex grundsätzlich nur Anwendung, wenn die Erkrankung vor dem 01.01.1992 im Beitrittsgebiet und nicht im Gebiet der alten Bundesrepublik erstmalig aufgetreten ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.04.2010 - B 2 U 14/09 R -, UV-Recht Aktuell 2010, 1050).

Demnach ist für die Anerkennung und Entschädigung einer ggf. im Jahr 1987 aufgetretenen Erkrankung des Klägers, welcher bereits 1952 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik genommen hat, alleine das BK-Recht der RVO einschlägig. Die mit dem FRG verwirklichte Eingliederung der Vertriebenen und Flüchtlinge wird in der Weise erreicht, dass die sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche des berechtigten Personenkreises so behandelt werden, als ob sie ihr Arbeits- und Versicherungsleben in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hätten. Die nach diesem Eingliederungsprinzip geschaffenen Regelungen des FRG bewirken nach der Rechtsprechung des BSG eine dem Inländer vergleichbare Rechtsposition (BSG SozR 5050 § 9 Nr. 1 unter Hinweis auf die Entscheidung des Großen Senats BSGE 49, 175, 184 = SozR 5050 § 15 Nr. 13). Auch dadurch ist eine Berufung auf Vorschriften der Deutschen Demokratischen Republik nicht mehr möglich.

Zu den als Arbeitsunfälle geltenden und zu entschädigenden BKen (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO) gehören nach der Ziff. 2402 der Anlage 1 zur BKVO in der hier anwendbaren bis zum 31.03.1988 geltenden (BGBl 1976 I 3329) Fassung auch Erkrankungen durch ionisierende Strahlen.

Nach der im Sozialrecht anzuwendenden Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich für die Entstehung einer Berufskrankheit nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu deren Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (st. Rspr., vgl. stellvertretend BSG vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R -, BSGE 94, 269). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76).

Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adä-quanztheorie (vgl. dazu nur Heinrichs in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 67. Aufl. 2008, Vorb. v. § 249 RdNr. 58 ff. m. w. N. sowie zu den Unterschieden BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr. 91) auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Aus-gangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht wer-den kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursa-chen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen.

Bei mehreren Ursachen ist sozialrechtlich allein relevant, ob das schädigende Belastung wesentlich war. Ob eine konkurrierende (Mit-)Ursache auch wesentlich war, ist unerheblich. Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vor-handenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erschei-nungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, son-dern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung aus-gelöst hätte. Bei der Abwägung kann der Schwere der Belastung Bedeutung zukommen (vgl. zum Vorstehenden insgesamt BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R, B 2 U 40/05 R, B 2 U 26/04 R -).

Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der je nach Fallgestaltung ggf. aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen der schädigenden Belastung und ihren gesundheitlichen Folgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs - der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität - genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (st. Rspr. BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 a. F. RVO; BSGE 32, 203, 209 = SozR Nr. 15 zu § 1263 a. F. RVO; BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr. 38, BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr. 1). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteil vom 09.05.2006 a.a.O. m.w.N.). Dagegen müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß i. S. des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden (BSG SozR 3-5670 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2 m. w. N.).

Nach diesen Grundsätzen liegt zur Überzeugung des Senats eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer beruflichen Verursachung der geltend gemachten Erkrankung nicht vor. Das LSG hat bereits durch rechtskräftigen Beschluss vom 22.07.2002 zu dem Aktenzeichen L 13 KN 2112/99 entschieden, dass bei dem Kläger diese BK nicht festgestellt werden kann. Der neue Vortrag des Klägers im Überprüfungsverfahren nach § 44 SGB X wurde ausdrücklich auf das seiner Auffassung nach weiter anzuwendende Recht der Deutschen Demokratischen Republik gestützt. Neue medizinische oder arbeitstechnische Erkenntnisse zum Nachweis einer BK nach der Ziff. 2402 der Anlage 1 zur BKVO liegen seitdem nicht vor.

Zur Vermeidung von Wiederholungen wird daher entsprechend § 153 Abs. 2 SGG auf die Entscheidungsgründe des Beschlusses vom 22.07.2002 sowie den Gerichtsbescheid des SG vom 24.08.2010 Bezug genommen und die Berufung aus den Gründen dieser Entscheidungen als unbegründet zurückgewiesen. Danach ist durch keines der erhobenen Gutachten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit der Verursachung des Kehlkopfkarzinoms des Klägers im Sinne der oben angeführten für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Wesentlichkeitstheorie nachgewiesen. Die Beklagte hat ausgehend von der vom Kläger schließlich bestätigten Tätigkeit als Erzhauer, eine schlüssige und auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützte worst-case-Beurteilung vorgenommen, nach welcher eine ausreichende Exposition gegenüber ionisierenden Strahlen nicht vorgelegen hat.

Weitere Erkenntnismöglichkeiten sind nicht vorhanden, was insbesondere auch deswegen gilt, weil der Kläger bei seiner Arbeit nie ein persönliches Dosis-Mess-Gerät getragen hat. Außerdem hat das LSG in seinem Beschluss vom 22.07.2002 auch zu Recht darauf hingewiesen, dass beim Kläger wegen seines regelmäßigen Nikotin- und Alkoholkonsums eine plausible Erklärung für die Erkrankung aus seinem privaten, nicht nach der RVO versicherten Bereich vorliegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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