S 6 AL 554/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 AL 554/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Beschluss:

I. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt.

II. Dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wird die Frage zur verfassungsrechtlichen Prüfung vorgelegt, ob § 434 j Abs. 2 S. 2 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) -Arbeitsförderung- (Art. 2 Nr. 9 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitssuchende vom 20.07.2006, BGBl. I, S. 1706 in der ab dem 01. Juni 2006 geltenden Fassung) mit Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) in Verbindung mit dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, als durch die vorgenannte Vorschrift die Antragsfrist für die freiwillige Weiterversicherung nach § 28 a SGB III teilweise nachträglich geändert und unterschiedlich -abhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung und der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit in der Vergangenheit- geregelt wird.

Gründe:

I.

Streitig ist zwischen den Beteiligten die freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung nach § 28 a Sozialgesetzbuch -Arbeitsförderung- (SGB III) i. V. m. § 434 j Abs. 2 SGB III (Art. 2 Nr. 9 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl. I, Seite 1706) in der ab dem 01. Juni 2006 geltenden Fassung).

Die am 11.03.1969 geborene Klägerin war vom 01.07.1997 bis 30.06.1998 und vom 01.06.1999 bis zum 15.08.1999 in der Bundesrepublik Deutschland versicherungspflichtig beschäftigt. Seit dem 16.08.1999 ist sie Mitgesellschafterin der H.K. GmbH, zu gleichen Teilen mit ihrem Ehemann. In der GmbH ist die Klägerin auch als Geschäftsführerin tätig.

Am 03.07.2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die freiwillige Weiterversicherung nach § 28 a SGB III. Das Antragsformular hatte sie sich aus dem Internet beschafft. Eine Beratung oder ein sonstiger Kontakt mit der Beklagten hatte zuvor nicht stattgefunden.

Mit Bescheid vom 29.08.2006 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Durch das Gesetz zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende sei § 434 j Abs. 2 SGB III modifiziert worden. Nach § 434 j Abs. 2 S. 2 SGB III könnten sich selbständige Tätige und Auslandsbeschäftigte bei Antragstellung nach dem 31. Mai 2006 sich nur dann noch freiwillig weiter versichern, wenn sie ab dem 01.01.2004 (In-Kraft-Tretens des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) oder danach die selbständige Tätigkeit oder die Auslandsbeschäftigung, die zur freiwilligen Weiterversicherung berechtige, aufgenommen hätten. Die Klägerin habe ihre selbständige Tätigkeit am 16.08.1999 aufgenommen. Da die Antragstellung jedoch erst am 03.07.2006 erfolgt sei, könne eine freiwillige Weiterversicherung in der Arbeitslosenversicherung nicht erfolgen.

Hiergegen legte die Klägerin am 04.09.2000 Widerspruch ein und verwies zur Begründung auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15.03.2000 -1 BvL 16/96-. Danach verstoße die am 01.06.2006 vom Bundestag beschlossene Neufassung des § 434 j Abs. 2 SGB III durch das Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt gegen den den Bürgern durch das Grundgesetz gewährte Vertrauensschutzprinzip sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz. Selbständige, die vor dem 01.01.2004 ihre selbständige Tätigkeit aufgenommen hätten, seien plötzlich rückwirkend gegenüber späteren Betriebsgründern willkürlich benachteiligt worden.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25.09.2006 als unbegründet zurück. Der Antrag zur freiwilligen Weiterversicherung müsse spätestens innerhalb einem Monat nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit oder Beschäftigung gestellt werden (§ 28 a Abs. 2 Satz 2 SGB III). Nach § 434 j Abs. 2 S. 1 SGB III gelte § 28 a Abs. 2 SGB III mit der Maßgabe, dass ein Antrag auf freiwillige Weiterversicherung ungeachtet der Voraussetzungen des Satzes 2 bis zum 31.12.2006 gestellt werden könne. Stelle eine Person, deren Tätigkeit oder Beschäftigung gemäß § 28 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 (selbständige Tätigkeit) zur freiwilligen Weiterversicherung berechtige, den Antrag nach dem 31.05.2006, gelte Satz 1 mit der Einschränkung, dass die Tätigkeit oder Beschäftigung nach dem 31.12.2003 aufgenommen worden sein müsse (§ 434 j Abs. 2 Satz 2 SGB III). Die Klägerin habe ihre selbständige Tätigkeit jedoch bereits am 16.08.1999 aufgenommen, so dass sie den Antrag bis zum 31.05.2006 hätte stellen müssen. Da die Antragstellung erst am 03.07.2006 erfolgt sei, wäre sie nicht mehr rechtzeitig gewesen. Ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag habe somit nicht mehr begründet werden können.

Dagegen hat die Klägerin am 02.10.2006 Klage zum Sozialgericht (SG) Nürnberg erhoben.

Durch die beschlossene Rückwirkung und die der Öffentlichkeit bis zur Beschlussfassung verheimlichten Gesetzesänderung wäre ihr durch das Grundgesetz gewährter Vertrauensschutz unzumutbar beeinträchtigt. Zusätzlich sei gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen worden, da Selbständige, die vor dem 01.01.2004 ihre Existenz gegründet hätten, plötzlich rückwirkend gegenüber späteren Gründern willkürlich benachteiligt seien.

Zum Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung lautete § 28 a Abs. 1 SGB III: Ein Versicherungspflichtverhältnis auf Antrag können Personen begründen, die

1. als Pflegeperson einen der Pflegestufe I bis III im Sinne des SGB XI zugeordneten Angehörigen, der Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach dem SGB XI oder Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII oder gleichartige Leistungen nach anderen Vorschriften bezieht, wenigstens 14 Stunden wöchentlich pflegen,

2. eine selbständige Tätigkeit mit einem Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich aufnehmen und ausüben oder

3. eine Beschäftigung in einem Staat, in dem die Verordnung (EWG)
Nr. 1408/71 nicht anzuwenden ist, aufnehmen und ausüben.

Voraussetzung für die Versicherungspflicht ist, dass

1. der Antragsteller innerhalb der letzten 24 Monate vor Aufnahme der Tätigkeit oder Beschäftigung mindestens 12 Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis nach den Vorschriften des ersten Abschnittes gestanden oder eine Entgeltersatzleistung nach diesem Buch bezogen hat,

2. der Antragsteller unmittelbar vor Aufnahme der Tätigkeit oder Beschäftigung, die zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt, in einem Versicherungspflichtverhältnis nach den Vorschriften des ersten Abschnittes gestanden oder eine Entgeltersatzleistung nach diesem Buch bezogen hat und

3. Versicherungspflicht (§§ 26, 27) anderweitig nicht besteht.

Hierzu bestimmt § 434 j Abs. 2 S. 1 SGB III: § 28 a Abs. 2 gilt mit der Maßgabe, dass ein Antrag auf freiwillige Weiterversicherung ungeachtet der Voraussetzungen des Satzes 2 bis zum 31.12.2006 gestellt werden kann. Durch Art. 2 Nr. 9 des Gesetzes für Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl. I, Seite 1706 in der ab dem 01.06.2006 geltenden Fassung) war dem § 434 j Abs. 2 S. 1 SGB III folgender Satz 2 angefügt worden: Stellt eine Person, deren Tätigkeit oder Beschäftigung nach § 28 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 oder Nr. 3 zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt, den Antrag nach dem 31.05.2006, gilt Satz 1 mit der Einschränkung, dass die Tätigkeit oder Beschäftigung nach dem 31.12.2003 aufgenommen worden sein muss.

In der mündlichen Verhandlung vor dem SG Nürnberg vom 11.01.2007 hat der Vertreter der Beklagten erklärt, dass die Klägerin zwar die Voraussetzungen für eine freiwillige Versicherung nach § 28 a Abs. 1 SGB III grundsätzlich erfülle, einer Weiterversicherung jedoch die Vorschrift des § 434 j Abs. 2 S. 2 SGB III entgegenstünde.

Das BVerfG hat im Beschluss vom 15.03.2000 -1 BvL 16/96, 17/96, 18/96, 19/96, 20/96, 18/97- ausgeführt: "Enttäuscht der Gesetzgeber das Vertrauen in den Fortbestand einer befristeten Übergangsvorschrift, die er aus Vertrauensschutzgründen erlassen hat, indem er sie vor Ablauf der ursprünglich vorgesehenen Fristen zu Lasten der Berechtigten beseitigt, so ist das jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes nur unter besonderen Anforderungen möglich. In einem solchen Fall geht es nicht allgemein um den Schutz des Vertrauens des Bürgers in den Fortbestand geltenden Rechts. Hier vertraut der Bürger vielmehr auf die Kontinuität einer Regelung, aufgrund derer altes Recht noch für eine bestimmte Zeit in Bezug auf einen eingegrenzten Personenkreis ( ...) aufrechterhalten wird. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber einen besonderen Vertrauenstatbestand geschaffen. Um einen solchen vorzeitig aufzuheben, genügt es nicht, dass sich die ( ...) ursprünglich maßgeblichen Umstände geändert haben. Es müssen darüber hinaus schwere Nachteile für wichtige Gemeinschaftsgüter zu erwarten sein, falls die geltenden Übergangsregelung bestehen bleibt" (BVerfGE 102, 68 = SozR 3-2500 § 5 Nr. 42, S. 191/192).

In seiner Entscheidung vom 03.02.2004 -1 BvR 2491/97- hat das BVerfG weiter darauf hingewiesen: "Beseitigt der Gesetzgeber Übergangsregelungen, die er aus Vertrauensschutzgründen erlassen hat, vor Ablauf der für den Übergang vorgesehenen Zeit zu Lasten des Berechtigten, so muss seine Regelung im Hinblick auf den verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz besonders strengen Anforderungen genügen. Mit Übergangsregelungen verwirklicht er sein Konzept, in welchem Zeitraum und in welchen Stufen er sein Ziel erreichen will. Dadurch setzt er einen besonderen Vertrauenstatbestand. Der Bürger darf davon ausgehen, dass der Gesetzgeber sein Konzept für den Übergangszeitraum durchdacht hat und insbesondere künftige Entwicklungen, soweit sie vorhersehbar sind, berücksichtigt. Auf diese Übergangsregelungen stellt sich der Bürger ein. Deshalb darf der Gesetzgeber sein Konzept nur ändern, wenn sich die für die Ausgestaltung der Übergangsregelung maßgeblichen Umstände nachträglich geändert haben und wenn darüber hinaus -vorausgesetzt, das Interesse der Betroffenen auf einen Fortbestand der Regelung ist schutzwürdig und hat hinreichendes Gewicht- schwere Nachteile für wichtige Gemeinschaftsgüter zu erwarten sind, falls die geltende Übergangsregelung bestehen bleibt" (BVerfG in SozR 4-2600 § 237 a SGB V Nr. 1, RdNr. 26).

Das BVerfG hat in seinem Beschluss vom 15.03.2000 -1 BvL 16/96- ferner ausgeführt: "Art. 3 Abs. 1 GG gebietet es, alle Menschen vor dem Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Der Gleichheitssatz will in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern. Daher unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung. Zwar kann er grundsätzlich frei entscheiden, welche Merkmale er als maßgebend für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung ansieht. Eine Grenze ist jedoch dann erreicht, wenn sich für eine Ungleichbehandlung kein in angemessenem Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung stehender Rechtfertigungsgrund finden lässt" (BVerfGE 99, 165, 178; ständige Rechtsprechung). Bereits im Urteil vom 03.07.1989 -1 BvL 11/87 = BVerfGE 80, 297, 311 hatte das BVerfG ausgeführt: "Der Gesetzgeber ist nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht daran gehindert, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl das unvermeidbar eine gewisse Härte mit sich bringt. Allerdings ist zu prüfen, ob der Gesetzgeber den ihm zukommenden Gestaltungsspielraum in sachgerechter Weise genutzt hat oder ob er die für die zeitliche Anknüpfung in Betracht kommenden Faktoren hinreichend gewürdigt hat und ob sich die gefundene Lösung im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe rechtfertigen lässt oder als willkürlich erscheint."

Die Klägerin beantragt,

sie unter Aufhebung des Bescheides vom 29.08.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.09.2006 zur freiwilligen Versicherung nach § 28 a SGB III zuzulassen.

Der Vertreter der Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist die Beklagte auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

II.

Der Rechtsstreit war gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i. V. m. §§ 13 Nr. 11, 80 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) auszusetzen. Es war eine Entscheidung des BVerfG darüber einzuholen, ob § 434 j Abs. 2 Satz 2 SGB III in der Fassung des Art. 2 Nr.9 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 (BGBl. I, Seite 1706 in der ab dem 01.06.2006 geltenden Fassung) mit Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist, als durch die vorgenannte Vorschrift die Antragsfrist für die freiwillige Weiterversicherung nach § 28 a SGB III teilweise nachträglich geändert und unterschiedlich -abhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung und der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit in der Vergangenheit- geregelt wurde.

Die Vorschrift des § 434 j Abs. 2 Satz 2 SGB III ist zur Überzeugung der Kammer verfassungswidrig. Eine verfassungskonforme Auslegung dieser Vorschrift ist nicht möglich, da die darin enthaltenen Daten und Fristen nicht auslegungsfähig sind. Die Entscheidung der Klage hängt allein von der Gültigkeit der Vorschrift des § 434 j Abs. 2 Satz 2 SGB III ab.

Die Vorlagefrage ist entscheidungserheblich. Die Klage ist mit dem in der mündlichen Verhandlung vor dem SG Nürnberg am 10.01.2007 gestellten Antrag zulässig.

Ist die vorgelegte Rechtsnorm des § 434 j Abs. 2 Satz 2 SGB III verfassungswidrig, so ist der Klage stattzugeben, weil sie dann auch begründet wäre. Wer -wie die Klägerin- eine selbständige Tätigkeit mit einem Umfang von mindestens 15 Stunden wöchentlich aufgenommen und ausgeübt hat, kann nach § 28 a SGB III auf Antrag ein Versicherungspflichtverhältnis in der Arbeitslosenversicherung begründen, wenn sie in den letzten beiden Jahren vor Aufnahme der selbständigen Tätigkeit mindestens 12 Monate versicherungspflichtig beschäftigt war und den Antrag bei der Beklagten spätestens einen Monat nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit stellt. Personen -wie die Klägerin-, die schon länger selbständig tätig waren, konnten den Antrag zuvor noch bis zum 31.12.2006 stellen (§ 434 j Abs. 2 Satz 1 SGB III). Danach konnte die freiwillige Weiterversicherung bei der Beklagten ungeachtet der Regelung des § 28 a Abs. 2 Satz 2 SGB III (Monatsfrist nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit) bis zu diesem Zeitpunkt beantragt werden. Gleiches gilt für langjährig Beschäftigte außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR). In der Begründung der (damaligen) Regierungsfraktionen von SPD und Bündnis 90/DIE GRÜNEN zu dieser Regelung war ausgeführt: Alle Personen, die zum 01.02.2006 die Voraussetzungen der freiwilligen Weiterversicherung "dem Grunde nach" erfüllen -also vor Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit versicherungspflichtig beschäftigt waren- sollten die freiwillige Weiterversicherung bis zum Ende des Jahres 2006 beantragen können (vgl. BT-Drucks. 15/1515, Seite 111). Im rechtswissenschaftlichen Schrifttum wird die Übergangsregelung des § 434 j Abs. 2 SGB III übereinstimmend so verstanden, dass das Erfordernis der Einhaltung der Antragsfrist von einem Monat nach Aufnahme der selbständigen Tätigkeit der Sache nach bis zum Ende des Jahrs 2006 aufgehoben ist (vgl. Wenner in Soziale Sicherheit 2006 Seite 201 m. w. N. aus der Literatur). In Übereinstimmung mit dieser Rechtsauffassung hat die Beklagte deshalb in ihren Dienstanweisungen zutreffend die Auffassung vertreten, auch Personen, die schon seit Jahrzehnten selbständig sind, könnten sich noch auf Antrag freiwillig versichern (vgl. Wenner in Soziale Sicherheit 2006, Seite 200, 201).

Die Kammer ist von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Norm überzeugt.

Der Gesetzgeber des "Dritten Gesetzes über moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" hat, ohne dazu verfassungsrechtlich verpflichtet zu sein, allen Selbständigen und Beschäftigten außerhalb des EWR, die in den letzten 24 Monaten vor Aufnahme ihrer selbständigen Tätigkeit mindestens ein Jahr versicherungspflichtig beschäftigt waren in § 434 j Abs. 2 Satz 1 SGB III das Angebot gemacht, in der Zeit vom 01.02.2006 bis zum 31.12.2006 zu entscheiden, ob sie von der Möglichkeit einer freiwilligen Arbeitslosenversicherung Gebrauch machen wollen. Damit ist dem betroffenen Personenkreis eine Rechtsposition eingeräumt worden, die nur unter Beachtung von Vertrauensschutzerwägungen wieder beseitigt werden konnte, denn grundsätzlich müssen sich die Betroffenen darauf verlassen können, dass sie innerhalb der gesetzten Frist frei disponieren können (vgl. Wenner a. a. O., S. 203). Enttäuscht der Gesetzgeber das Vertrauen in den Fortbestand einer befristeten Übergangsvorschrift, die er aus Vertrauensschutzgründen erlassen hat, indem der sie vor Ablauf der ursprünglich vorgesehenen Fristen zu Lasten der Berechtigten beseitigt, so ist es jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes nur unter besonderen Anforderungen möglich. In einem solchen Fall geht es nicht allgemein um den Schutz des Vertrauens des Bürgers in den Fortbestand geltenden Rechts. Hier vertraut der Bürger vielmehr auf die Kontinuität einer Regelung, aufgrund derer altes Recht noch für eine bestimmte Zeit in Bezug auf einen eingegrenzten Personenkreis aufrecht erhalten wird. Mit der Regelung in § 434 j Abs. 2 Satz 1 SGB III hat der Gesetzgeber einen besonderen Vertrauenstatbestand geschaffen. Um einen solchen vorzeitig aufzuheben, genügt es nicht, dass sich die ursprünglichen maßgeblichen Umstände geändert haben. Es müssen darüber hinaus schwere Nachteile für gewichtige Gemeinschaftsgüter zu erwarten sein, falls die geltende Übergangsregelung bestehen bleibt (BVerfG, Beschluss vom 15.03.2000 -1 BvL 16/96-). Diese Voraussetzungen, unter denen der Gesetzgeber in ganz besonderen Ausnahmefällen berechtigt ist, selbst gesetzte Übergangsfristen wie in § 434 j Abs. 2 Satz 1 SGB III so zu verkürzen, dass den Betroffenen keine Möglichkeit mehr bleibt, eine Frist auf diese kraft Gesetzes (§ 434 j Abs. 2 Satz 1 SGB III) vertrauen durften, zu wahren, sind nicht erfüllt. Der Gesetzgeber hat nicht ansatzweise dargestellt, welche gewichtigen Gemeinschaftsgüter es unabweisbar erscheinen lassen, die auf den 31.12.2006 festgelegte Frist für die Beantragung der freiwilligen Weiterversicherung nach § 28 a SGB III auf den 31.05.2006 (24.00 Uhr) vorzuziehen. In der Gesetzesbegründung heißt es lediglich, "der enge Zusammenhang zur bisherigen Zugehörigkeit zur Versichertengemeinschaft soll stärker betont werden" (BT-Drucks. 16/1696 Seite 29 zu Art. 2 Nr. 7). Darin erschöpft sich die Begründung, denn der zweite Satz des Textes enthält keine weitere Begründung. Schwere Nachteile für wichtige Gemeinschaftsgüter, die zu erwarten sind, falls die geltende Übergangsregelung bestehen bleibt, sind damit nicht dargetan. § 434 j Abs. 2 S. 2 SGB III in der Fassung des Art. 2 Nr. 9 des Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende vom 20.07.2006 verletzt daher Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem rechtsstaatlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes (Art. 20 Abs. 3 GG).

Nach Auffassung der Kammer verletzt die Regelung des § 434 j Abs. 2 S. 2 SGB III aber auch den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die Regelung des § 434 j Abs. 2 S. 2 SGB III in der Fassung des Fortentwicklungsgesetzes differenziert bei den langjährig Selbständigen zwischen denen, die den Antrag nach § 28 a SGB III bis zum Ablauf des 31.05.2006 (24.00 Uhr) gestellt haben und denen, die danach einen Antrag gestellt haben, dem -wie im Falle der Klägerin- jedoch nicht mehr stattgegeben werden konnte. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet, alle Menschen vor der Gesetz gleich zu behandeln. Damit ist dem Gesetzgeber allerdings nicht jede Differenzierung verwehrt. Der Gleichheitssatz will in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern. Daher unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung. Zwar kann er grundsätzlich frei entscheiden, welche Merkmale er als maßgebend für eine Gleich- oder Ungleichbehandlung ansieht. Eine Grenze ist jedoch dann erreicht, wenn sich für eine Ungleichbehandlung kein in angemessenem Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung stehender Rechtfertigungsgrund finden lässt (vgl. BVerfGE 99, 165, 178 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des BVerfG).

Zu beurteilen ist danach, ob der Gesetzgeber berechtigt war, zwischen den Selbständigen und den anderen langjährig Beschäftigten außerhalb des EWR, die ihren Antrag nach § 28 a SGB III bis zum 31.05.2006 gestellt haben, und denen, die sich ebenfalls weiter versichern wollten, dies aber im Vertrauen auf die nach § 434 j Abs. 2 Satz 1 SGB III bis zum 31.12.2006 offene Frist noch nicht realisiert hatten -wie die Klägerin-, zu differenzieren.

Nach Auffassung der Kammer ist die sich durch § 434 j Abs. 2 S. 2 SGB III ergebende Ungleichbehandlung von Selbständigen -wie der Klägerin- und den in § 28 a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB III genannten Antragsberechtigten durch keinen hinreichenden sachlichen Grund gerechtfertigt. Gewichtige Gemeinschaftsgüter, wie etwa die Gefährdung des Systems der Arbeitslosenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland wurden vom Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung nicht angeführt. Die stärkere Betonung zur bisherigen Zugehörigkeit zur Versichertengemeinschaft (BT-Drucks. 16/1696 S. 29) ist als Begründung für die Ungleichbehandlung nicht ausreichend.

Zwar ist der Gesetzgeber durch Art. 3 Abs. 1 GG nicht daran gehindert, zur Regelung bestimmter Lebenssachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl das unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt. Allerdings muss der Gesetzgeber auch insoweit den ihm zukommenden Gestaltungsspielraum in sachgerechter Weise nutzen, insbesondere im Hinblick darauf, ob die gefundene Lösung im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt und das System der Gesamtregelung durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist oder als willkürlich erscheint (BVerfGE 80, 297, 311). Es kann auch nicht angenommen werden, dass Vertrauen des in § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 und 3 SGB III genannten Personenkreises auf die Nutzung der gesetzlichen Frist des § 434 j Abs. 2 Satz 1 SGB III sei deshalb nicht mehr schutzwürdig gewesen, weil mit einer Abschaffung der Weiterversicherung für alte Fälle hätte gerechnet werden müssen. Zwar lässt das BVerfG sogar eine echte Rückwirkung von Gesetzen ausnahmsweise zu, wenn das geltende Recht "in dem Maße systemwidrig und unbillig ist, dass ernsthafte Zweifel an dessen Verfassungsmäßigkeit bestehen" oder wenn "der Betroffene zu dem Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, mit einer Neuregelung rechnen musste" (BSG vom 19.05.2004 -B 13 RJ 46/03 R = SozR 4-5050 § 22 b Nr. 3 RdNr. 47 bis 51 m. w. N. aus der Rechtsprechung des BVerfG). Unter Berücksichtigung der von der Rechtsprechung des BVerfG bislang entwickelten Grundsätze kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass die Neuregelung des § 434 j Abs. 2 Satz 2 SGB III durch das Fortentwicklungsgesetz sachlich gerechtfertigt ist.

Eine verfassungskonforme Auslegung des § 434 j Abs. 2 Satz 2 SGB III ist nicht möglich, weil die in der Norm enthaltenen eindeutigen Daten und Fristen nicht auslegungsfähig sind.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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