Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Nürnberg (FSB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
15
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 15 BL 1/08
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 15 BL 5/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 9 BL 1/14 R
Datum
Kategorie
Urteil
I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 31.07.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2007 verurteilt, dem Kläger ab 01.10.2006 Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz zu gewähren.
II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.
Der Kläger kam 2005 durch einen Kaiserschnitt zur Welt, der wegen eines Geburtsstillstands notwendig wurde. Es fanden sich Hinweise für eine Asphyxie unter der Geburt, im Ultraschall des Schädels eine Hirnschwellung, später eine Schädigung des Marklagers im Gehirn sowie Zeichen einer Hirnschädigung durch Sauerstoffmangel und/oder Minderdurchblutung mit Neugeborenenkrämpfen, Atemschwäche und Trinkschwäche. Im weiteren Verlauf entwickelten sich ein Anfallsleiden und eine spastische Bewegungsstörung. Das Kernspintomogramm des Schädels vom 28.07.2005 zeigt eine schwere multizystische Enzephalomalazie mit vollständiger Zerstörung der Sehrinde beidseits.
Am 27.10.2006 beantragte der Kläger durch seine Mutter bei dem Beklagten die Gewährung von Blindengeld. Nach Einholung einer fachärztlichen Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. B. lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.07.2007 den Antrag auf Gewährung von Blindengeld ab. Blindheit im Sinne des Gesetzes ließe sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisen. Bei dem Kläger liege eine schwerste Hirnschädigung vor. Entsprechend dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 20.07.2005 (Az.: B 9a BL 1/05 R) müsse sich in einem solchen Falle im Vergleich zu anderen, möglicherweise ebenfalls eingeschränkten Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zur faktischen Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genüge es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Im Falle des Klägers könne nicht davon ausgegangen werden, dass das Sehvermögen wesentlich stärker beeinträchtigt sei, als die übrigen Sinnesmodalitäten.
Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2007 zurückgewiesen.
Mit der am 04.01.2008 bei Gericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger weiterhin die Gewährung von Blindengeld. Das Gericht hat die Verwaltungsakte des Beklagten und auch deren Schwerbehindertenakte beigezogen. Die Klägerseite hat einen logopädischen Behandlungsbericht vom 20.03.2009, einen Entwicklungsbericht der Blindeninstitutsstiftung von März 2009 und ein ärztliches Attest der Kinderärztin Dr. L. vom 10.06.2009 vorgelegt. Hierauf reagierte der Beklagte mit der Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Frau P. vom 16.06.2009, in der u. a. eine neuropädiatrische Begutachtung im angeregt wurde. Dieser Anregung entsprechend ließ das Gericht den Kläger durch Dr. E. vom E-Stadt untersuchen und begutachten. Die Fragestellung lautete, ob die visuelle Wahrnehmung des Klägers deutlich stärker beeinträchtigt sei als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten. Dr. E. kam in seinem Gutachten vom 15.12.2009 zu dem Ergebnis, dass elementare visuelle Reaktionen, wie sie von gesunden Säuglingen im Alter von 6 bis 8 Wochen mühelos bewältigt werden, der Kläger allenfalls in Ansätzen zeige. Im Bereich der akustischen Wahrnehmung und der Wahrnehmung von Hautreizen, einschließlich deren Verarbeitung und der Stimm- und Lautproduktion, zeige er jedoch Verhaltensweisen, die einem 4 bis 6 Monate alten Säugling entsprechen. Insofern gehe er vom Vorliegen einer spezifischen Sehstörung aus.
Gegen dieses Ergebnis wandte sich der Beklagte mit Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Frau P. vom 28.01.2010, zu der wiederum Dr. E. am 22.03.2010 Stellung bezog. Der Beklagte legte weiterhin eine Stellungnahme der Dipl.-Psychologin R. vom 17.06.2010 und eine weitere Stellungnahme von Frau P. vom 21.06.2010 vor. Daraufhin gab auf Anforderung des Gerichts nochmals Dr. E. am 06.07.2010 eine schriftliche Äußerung ab.
Der Kläger beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 31.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2007 zu verurteilen, ihm Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz zu zahlen sowie ihm seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten des Sachverhalts auf die beigezogene Akte und den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten und der Gerichtsakte, insbesondere auf das eingeholte Gutachten und die vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.
Sie erweist sich auch als begründet. Der Kläger kann Blindengeld nach dem BayBlindG beanspruchen.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten Blinde, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleich zu achten sind.
Nach Überzeugung des Gerichts ist der Kläger faktisch blind im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG. Da bei dem Kläger umfangreiche cerebrale Schäden vorliegen, ist entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 20.07.2005) eine Differenzierung erforderlich: Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genügt es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Genau hiervon geht das Gericht im Falle des Klägers aus. Das Gericht stützt sich hierbei auf die Ausführungen des Gutachters Dr. E ... Dieser hat in seinem Gutachten vom 15.12.2009 nachvollziehbar dargelegt, dass die visuellen Fähigkeiten des Klägers deutlich schwächer entwickelt sind, als dessen Fähigkeiten auf dem Gebiet der akustischen Wahrnehmung und der Wahrnehmung von Hautreizen, einschließlich deren Verarbeitung. In diesen Bereichen zeige er Verhaltensweisen, die einem 4 bis 6 Monate alten Säugling entsprechen, während seine visuellen Fähigkeiten nur ansatzweise an die eines 6 bis 8 Wochen alten Säuglings heranreichen. Das Gericht geht insoweit von einem deutlichen Leistungsunterschied auf dem Gebiet der betreffenden Sinnesmodalitäten aus. Nach Überzeugung des Gerichts ist der besagte Entwicklungsunterschied mit Blick auf die rasch verlaufende frühkindliche Entwicklung als wesentlich einzuschätzen. Die visuelle Wahrnehmung des Klägers ist damit im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts deutlich stärker betroffen als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten.
Nach alledem hat der Kläger Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG. Gemäß Art. 5 Abs. 2 BayBlindG kann er das Blindengeld mit dem ersten Tag des Antragsmonats, also ab 01.10.2006, beanspruchen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
II. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz (BayBlindG) streitig.
Der Kläger kam 2005 durch einen Kaiserschnitt zur Welt, der wegen eines Geburtsstillstands notwendig wurde. Es fanden sich Hinweise für eine Asphyxie unter der Geburt, im Ultraschall des Schädels eine Hirnschwellung, später eine Schädigung des Marklagers im Gehirn sowie Zeichen einer Hirnschädigung durch Sauerstoffmangel und/oder Minderdurchblutung mit Neugeborenenkrämpfen, Atemschwäche und Trinkschwäche. Im weiteren Verlauf entwickelten sich ein Anfallsleiden und eine spastische Bewegungsstörung. Das Kernspintomogramm des Schädels vom 28.07.2005 zeigt eine schwere multizystische Enzephalomalazie mit vollständiger Zerstörung der Sehrinde beidseits.
Am 27.10.2006 beantragte der Kläger durch seine Mutter bei dem Beklagten die Gewährung von Blindengeld. Nach Einholung einer fachärztlichen Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. B. lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 31.07.2007 den Antrag auf Gewährung von Blindengeld ab. Blindheit im Sinne des Gesetzes ließe sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachweisen. Bei dem Kläger liege eine schwerste Hirnschädigung vor. Entsprechend dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 20.07.2005 (Az.: B 9a BL 1/05 R) müsse sich in einem solchen Falle im Vergleich zu anderen, möglicherweise ebenfalls eingeschränkten Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zur faktischen Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genüge es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen sei, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Im Falle des Klägers könne nicht davon ausgegangen werden, dass das Sehvermögen wesentlich stärker beeinträchtigt sei, als die übrigen Sinnesmodalitäten.
Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 04.12.2007 zurückgewiesen.
Mit der am 04.01.2008 bei Gericht eingegangenen Klage begehrt der Kläger weiterhin die Gewährung von Blindengeld. Das Gericht hat die Verwaltungsakte des Beklagten und auch deren Schwerbehindertenakte beigezogen. Die Klägerseite hat einen logopädischen Behandlungsbericht vom 20.03.2009, einen Entwicklungsbericht der Blindeninstitutsstiftung von März 2009 und ein ärztliches Attest der Kinderärztin Dr. L. vom 10.06.2009 vorgelegt. Hierauf reagierte der Beklagte mit der Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Frau P. vom 16.06.2009, in der u. a. eine neuropädiatrische Begutachtung im angeregt wurde. Dieser Anregung entsprechend ließ das Gericht den Kläger durch Dr. E. vom E-Stadt untersuchen und begutachten. Die Fragestellung lautete, ob die visuelle Wahrnehmung des Klägers deutlich stärker beeinträchtigt sei als die Wahrnehmung in anderen Sinnesmodalitäten. Dr. E. kam in seinem Gutachten vom 15.12.2009 zu dem Ergebnis, dass elementare visuelle Reaktionen, wie sie von gesunden Säuglingen im Alter von 6 bis 8 Wochen mühelos bewältigt werden, der Kläger allenfalls in Ansätzen zeige. Im Bereich der akustischen Wahrnehmung und der Wahrnehmung von Hautreizen, einschließlich deren Verarbeitung und der Stimm- und Lautproduktion, zeige er jedoch Verhaltensweisen, die einem 4 bis 6 Monate alten Säugling entsprechen. Insofern gehe er vom Vorliegen einer spezifischen Sehstörung aus.
Gegen dieses Ergebnis wandte sich der Beklagte mit Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Frau P. vom 28.01.2010, zu der wiederum Dr. E. am 22.03.2010 Stellung bezog. Der Beklagte legte weiterhin eine Stellungnahme der Dipl.-Psychologin R. vom 17.06.2010 und eine weitere Stellungnahme von Frau P. vom 21.06.2010 vor. Daraufhin gab auf Anforderung des Gerichts nochmals Dr. E. am 06.07.2010 eine schriftliche Äußerung ab.
Der Kläger beantragt, den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 31.07.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.12.2007 zu verurteilen, ihm Blindengeld nach dem Bayerischen Blindengeldgesetz zu zahlen sowie ihm seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Im Übrigen wird wegen der Einzelheiten des Sachverhalts auf die beigezogene Akte und den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten und der Gerichtsakte, insbesondere auf das eingeholte Gutachten und die vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig.
Sie erweist sich auch als begründet. Der Kläger kann Blindengeld nach dem BayBlindG beanspruchen.
Gemäß Art. 1 Abs. 1 BayBlindG erhalten Blinde, soweit sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Bayern haben, zum Ausgleich der blindheitsbedingten Mehraufwendungen auf Antrag ein monatliches Blindengeld. Blind ist, wem das Augenlicht vollständig fehlt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 BayBlindG). Als blind gelten gemäß Art. 1 Abs. 2 Satz 2 BayBlindG auch Personen, 1. deren Sehschärfe auf dem besseren Auge nicht mehr als 1/50 beträgt, 2. bei denen durch Nr. 1 nicht erfasste Störungen des Sehvermögens von einem solchen Schweregrad bestehen, dass sie der Beeinträchtigung der Sehschärfe nach Nr. 1 gleich zu achten sind.
Nach Überzeugung des Gerichts ist der Kläger faktisch blind im Sinne des Art. 1 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BayBlindG. Da bei dem Kläger umfangreiche cerebrale Schäden vorliegen, ist entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 20.07.2005) eine Differenzierung erforderlich: Es muss sich im Vergleich zu anderen - möglicherweise ebenfalls eingeschränkten - Gehirnfunktionen eine spezifische Störung des Sehvermögens feststellen lassen. Zum Nachweis einer zu faktischer Blindheit führenden schweren Störung des Sehvermögens genügt es insoweit, dass die visuelle Wahrnehmung deutlich stärker betroffen ist, als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten. Genau hiervon geht das Gericht im Falle des Klägers aus. Das Gericht stützt sich hierbei auf die Ausführungen des Gutachters Dr. E ... Dieser hat in seinem Gutachten vom 15.12.2009 nachvollziehbar dargelegt, dass die visuellen Fähigkeiten des Klägers deutlich schwächer entwickelt sind, als dessen Fähigkeiten auf dem Gebiet der akustischen Wahrnehmung und der Wahrnehmung von Hautreizen, einschließlich deren Verarbeitung. In diesen Bereichen zeige er Verhaltensweisen, die einem 4 bis 6 Monate alten Säugling entsprechen, während seine visuellen Fähigkeiten nur ansatzweise an die eines 6 bis 8 Wochen alten Säuglings heranreichen. Das Gericht geht insoweit von einem deutlichen Leistungsunterschied auf dem Gebiet der betreffenden Sinnesmodalitäten aus. Nach Überzeugung des Gerichts ist der besagte Entwicklungsunterschied mit Blick auf die rasch verlaufende frühkindliche Entwicklung als wesentlich einzuschätzen. Die visuelle Wahrnehmung des Klägers ist damit im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts deutlich stärker betroffen als die Wahrnehmung in anderen Modalitäten.
Nach alledem hat der Kläger Anspruch auf Blindengeld nach dem BayBlindG. Gemäß Art. 5 Abs. 2 BayBlindG kann er das Blindengeld mit dem ersten Tag des Antragsmonats, also ab 01.10.2006, beanspruchen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Rechtskraft
Aus
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