L 11 KR 3418/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 13 R 3730/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 3418/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 03.06.2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Feststellung einer Familienversicherung anstelle der durchgeführten freiwilligen Versicherung für die Zeit vom 09.03.2009 bis 14.03.2010.

Der am 15.03.1985 geborene Kläger leidet an einem Proteussyndrom mit ischämischer Läsion des Lexus lumbalis und Parese des rechten Beines. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung von 70 seit 26.10.1999 sowie das Merkzeichen G festgestellt.

Aufgrund der Erkrankung kam es in der Kindheit zu erheblichen Entwicklungsverzögerungen. Der Kläger besuchte den Sprachkindergarten und anschließend die Schule für Sprachbehinderte. Mit 13 Jahren wechselte er in die Hauptschule, die er im Juni 2002 abschloss. Danach besuchte der Kläger eine Berufsfindungsmaßnahme und absolvierte anschließend nach einem einjährigen Unterricht im Rehabilitationskrankenhaus U. (R.) bis 2007 eine dreijährige Lehre in einem Modellbetrieb im R. mit dem IHK-Abschluss Bürokaufmann. Anschließend nahm er an einer halbjährigen Förderungsmaßnahme teil, bezog danach vom 01.05.2008 bis 08.03.2009 Arbeitslosengeld und war während dieser Zeit bei der Beklagten pflichtversichert.

Mit E-Mail vom 24.03.2009 bat der Kläger die Beklagte um Informationen zu einer freiwilligen Versicherung und zur Möglichkeit einer Mitversicherung bei seinem Vater, dem Beigeladenen. Die Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 04.04.2009 (ohne Rechtsbehelfsbelehrung) mit, dass er ab 09.03.2009 bei ihr freiwillig versichert sei. Zudem forderte sie Angaben zu den Einkommensverhältnissen an. Mit Bescheid vom 11.05.2009 machte die Beklagte auch im Namen der Pflegekasse ab 09.03.2009 einen monatlichen Beitrag iHv 143,64 EUR (Krankenversicherung 125,16 EUR, Pflegeversicherung 18,48 EUR) unter Zugrundelegung der Mindestbemessungsgrundlage geltend.

Mit Widerspruch gegen den Bescheid vom 11.05.2009 machte die Klägerbevollmächtigte ab 09.03.2009 eine Familienversicherung statt der freiwilligen Versicherung geltend. Der Kläger sei wegen seiner andauernden körperlichen Behinderung außerstande, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Mit Bescheid vom 23.06.2009 setzte die Beklagte den Beitrag zur Krankenversicherung um 0,6 Prozentpunkte herab.

Auf Anforderung der Beklagten übersandte die Klägerbevollmächtigte medizinische Unterlagen, worauf hin die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens beauftragte. Dr. G. vom MDK war im Gutachten vom 14.09.2009 der Auffassung, dass zwar eine gravierende Funktionseinschränkung am rechten Bein vorliege, jedoch keine schwere Einschränkung des geistigen Leistungsvermögens, der sprachlichen Kommunikationsfähigkeit sowie gravierende psychische Funktionseinschränkungen. Die vorliegenden Funktionseinschränkungen würden die Ausübung einer Tätigkeit mit wirtschaftlichem Nutzen nicht unmöglich machen. Die Ausübung einer ganz überwiegend sitzend zu verrichtenden Bürotätigkeit mit am allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Anforderungen sei möglich. Der Kläger sei somit nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten.

Mit Bescheid vom 17.09.2009 lehnte die Beklagte die Durchführung einer Familienversicherung für den Kläger ab. Hiergegen wandte sich die Klägerbevollmächtigte mit Schreiben vom 19.10.2009 und teilte mit, dass der Widerspruch aufrechterhalten bleibe. Dr. G. untersuchte den Kläger am 02.02.2010 persönlich und erstellte ein erneutes Gutachten. Der MDK hielt an seinem ersten Begutachtungsergebnis fest.

Ab 15.03.2010 bezog der Kläger Leistungen nach dem SGB II und war bei der Beklagten wieder pflichtversichert.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.04.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte aus, dass die Bescheide vom 11.05.2009 und vom 17.09.2009 zutreffend ergangen seien. Die Voraussetzungen für die Familienversicherung ohne Altersgrenze nach § 10 Abs 2 Nr 4 SGB V seien nicht erfüllt.

Hiergegen hat der Kläger am 31.05.2010 Klage zum Sozialgericht Ulm (SG) erhoben und mit Klagebegründung vom 23.09.2010 zugleich beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen. Mit Beschluss vom 28.10.2010 hat das SG diesen Antrag wegen fehlender Erfolgsaussichten in der Hauptsache abgelehnt.

Das SG hat den behandelnden Allgemeinmediziner Dr. S. als sachverständigen Zeugen schriftlich befragt, die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten erörtert und den Abschlussbericht eines Rehabilitationsdienstleisters des Jobcenters H. beigezogen, bei dem von August 2010 bis April 2011 eine Maßnahme durchgeführt worden ist. Der Rehabilitationsträger hat eine vertiefte Arbeitserprobung empfohlen.

Nachdem die Klägerbevollmächtigte mitgeteilt hatte, dass das Jobcenter versuche, den Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unterzubringen, hat das SG auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Vom 15.08.2012 bis 31.12.2014 ist der Kläger als Helfer Bürgerarbeit im Fahrradverleih am Bahnhof in G./B. bei der AWO mit wöchentlich 30 Stunden beschäftigt gewesen. Über den 31.12.2014 hinaus hat er Krankengeld bezogen.

Auf Anfrage durch das SG hat die AWO eine Arbeitsplatzbeschreibung übersandt und mitgeteilt, dass die körperlichen Anforderungen am Arbeitsplatz eher gering seien (Fahrräder schieben und abstellen, Kundengespräche, Verleihunterlagen führen, Internetrecherche für Touren) und die Arbeit nicht mit einer Tätigkeit am ersten Arbeitsmarkt vergleichbar sei.

Das SG hat den Neurologen und Psychiater Dr. L. mit der Erstellung eines Gutachtens nach § 106 SGG beauftragt. Der Gutachter hat den Kläger am 27.06.2014 persönlich untersucht und ausgeführt, dass dieser sich mit zwei Krücken langsam vorwärts bewege. Das rechte obere Sprunggelenk sei eingesteift. Dr. L. hat auf Verdeutlichungstendenzen bezüglich der Benützung der Krücken hingewiesen und im Übrigen einen unauffälligen psychiatrischen Befund beschrieben. Insbesondere eine Teilleistungsstörung oder eine kognitive Beeinträchtigung habe definitiv ausgeschlossen werden können. Der Sachverständige ist der Auffassung gewesen, dass der Kläger keine Tätigkeiten mit längerem Gehen oder schwere körperliche Tätigkeiten durchführen könne. Die geistige Arbeitsleistung sei in keiner Weise beeinträchtigt. Hier könne der Kläger leichte körperliche Tätigkeiten und geistige Tätigkeiten ohne Einschränkung mindestens sechs Stunden täglich durchführen, auch die Tätigkeit als Bürokaufmann. Zu denken wäre insbesondere an eine überwiegend sitzende Tätigkeit. Ein orthopädischer Stuhl sollte zur Verfügung stehen. Zusammenfassend sei davon auszugehen, dass es durchaus möglich wäre, den Kläger in den Arbeitsmarkt hineinzubringen.

Mit Urteil vom 03.06.2015 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass der Kläger jedenfalls seit 1999 nicht außerstande sei, sich selbst zu unterhalten. Dies ergebe sich aus den von der Beklagten eingeholten Gutachten des MDK sowie insbesondere aus dem Gutachten des Dr. L ... Der für den Kläger in Betracht kommende Arbeitsmarkt sei auch nicht verschlossen. Denn er könne die notwendigen Wegstrecken zu Fuß innerhalb einer angemessenen Zeit zurücklegen, öffentliche Verkehrsmittel benutzen sowie Arbeitswege mit seinem vorhandenen E-Bike zurücklegen.

Gegen das der Klägerbevollmächtigten am 13.07.2015 zugestellte Urteil hat diese am 12.08.2015 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt.

Mit Beschluss vom 14.12.2015 hat der Senat den Antrag des Klägers, ihm für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg abgelehnt.

Der Kläger ist der Ansicht, dass er nicht in der Lage sei, sich selbst im Sinne des § 10 Abs 2 Nr 4 SGB V zu unterhalten. Eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt habe bislang nicht erfolgen können. Die zuletzt ausgeübte Bürgerarbeit sei dem geschützten Arbeitsbereich zuzuordnen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 03.06.2015 sowie die Bescheide vom 04.04.2009, 11.05.2009, 23.06.2009 und 17.09.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.04.2010 aufzuheben und festzustellen, dass im Zeitraum vom 09.03.2009 bis 14.03.2010 eine Familienversicherung des Klägers im Rahmen der Versicherung des Beigeladenen bestand.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Berichterstatter hat die Beteiligten mit Schreiben vom 01.02.2016 darauf hingewiesen, dass der Senat nach § 153 Abs 4 SGG die Berufung auch ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Beschluss zurückweisen kann, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind darauf aufmerksam gemacht worden, dass diese Verfahrensweise aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes beabsichtigt ist.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz, sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach den §§ 143, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig, aber nicht begründet.

Der Senat weist die Berufung durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter gemäß § 153 Abs 4 SGG zurück, da er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind zu dieser Verfahrensweise gehört worden und haben keine Einwände geltend gemacht.

Von einer weiteren eingehenden Darstellung der Entscheidungsgründe wird abgesehen, weil der Senat die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurückweist (§ 153 Abs 2 SGG). Nur ergänzend wird auf Folgendes hingewiesen:

Für den Senat steht auch nach eigener Prüfung unter Würdigung sämtlicher medizinischer Unterlagen und insbesondere des Gutachtens von Dr. L. fest, dass der schwerbehinderte Kläger im hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 09.03.2009 bis 14.03.2010 in der Lage war, sich selbst zu unterhalten. Aus den medizinischen Unterlagen lässt sich nicht entnehmen, dass der Gesundheitszustand in dieser Zeit sich wesentlich vom Gesundheitszustand im davor liegenden und nachfolgenden Zeitraum unterschieden hat. Zur Überzeugung des Senats war der Kläger zu keinem Zeitpunkt außerstande, sich selbst zu unterhalten.

Die Unfähigkeit, sich selbst zu unterhalten, ist gegeben, wenn das Kind seinen eigenen Lebensunterhalt, zu dem auch notwendige Aufwendungen infolge der Behinderungen sowie sonstige Ausgaben des täglichen Lebens rechnen, nicht selbst bestreiten kann. Dies setzt zunächst voraus, dass das Kind infolge der Behinderung nicht in der Lage ist, durch Arbeit seinen Lebensunterhalt zu verdienen, insbesondere eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben und mehr als nur geringfügige Einkünfte zu erzielen. Insoweit ist der Begriff des Außerstandeseins mit dem der Erwerbsminderung im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 43 Abs 2 SGB VI) vergleichbar (vgl BSG 14.08.1984, 10 RKg 6/83, BSGE 57, 108).

Der Kläger war aber zu keinem Zeitpunkt voll erwerbsgemindert. Hiergegen spricht schon der Umstand, dass er vor der hier streitgegenständlichen Zeit Arbeitslosengeld und danach Leistungen nach dem SGB II tatsächlich erhalten hat, da diese Erwerbsfähigkeit voraussetzen. Dies gilt im Übrigen auch für seine Helfertätigkeit im Rahmen der Bürgerarbeit für die AWO vom 15.08.2012 bis 31.12.2014. Nach dem im Klageverfahren vorgelegten Leitfaden für Bürgerarbeit des Bundesverwaltungsamtes dient die Bürgerarbeit der Integration von Arbeitslosen erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Es handelt sich entgegen der Ansicht des Klägers nicht um eine Tätigkeit im geschützten Arbeitsbereich. Die Bürgerarbeit darf zwar nur zusätzliche und im öffentlichen Interesse liegende Tätigkeiten umfassen und gehört deshalb nicht zum ersten Arbeitsmarkt. Jedoch handelt es sich bei den im Rahmen der Beschäftigungsphase des Modellprojekts "Bürgerarbeit" geschaffenen Arbeitsstellen um reguläre Arbeitsplätze im Sinne des SGB IX (siehe Nr 3.5 Leitfaden zu Bürgerarbeit).

Im Übrigen konnte der Gutachter keine kognitive Beeinträchtigung des Klägers feststellen. Dies deckt sich mit den Feststellungen von Dr. G. bei dessen Untersuchung am 02.02.2010. Zwar ist die Gehfähigkeit des Klägers wegen der vorliegenden Peronaeusparese rechts 4/5 einschließlich Sensibilitätsstörung, der Einsteifung des rechten Fußes im Sprunggelenk und der Beinverkürzung rechts stärker eingeschränkt. Daraus folgt jedoch noch keine aufgehobene Wegefähigkeit im Sinne der Rechtsprechung des BSG, auch weil der Kläger nach seinen eigenen Angaben (bei der Untersuchung durch Dr. L.) im Besitz eines Elektrobikes ist und mit diesem die rentenrelevanten Wegstrecken in angemessener Zeit zurücklegen kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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