L 4 KR 176/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 14 KR 4705/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 KR 176/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 5. Januar 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Kostenerstattung für Zahnersatzbehandlungen im Ausland.

Der Kläger ist am 1939 in S. (Bosnien) geboren und bei der Beklagten krankenversichert. Am 11. März 2014 beantragte er bei der Geschäftsstelle der Beklagten in B. die Erstattung der Kosten von zwischen Juli 2013 und Anfang März 2014 in S. durchgeführten Zahnersatzbehandlungen in Höhe von umgerechnet insgesamt EUR 3.800,00. Die Beklagte lehnte die Kostenerstattung mit Bescheid vom 15. April 2014 ab. Sie übernehme während eines vorübergehenden Aufenthaltes im Ausland die Kosten für Behandlungen, die unverzüglich erforderlich seien, in Höhe der deutschen Kassensätze. Zahnersatz könne in Abkommensstaaten der Europäischen Union mit vorheriger Antragstellung genehmigt werden. Bosnien sei kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union. Eine Kostenerstattung sei nicht möglich.

Am 28. April 2014 beantragte der Kläger erneut die Kostenerstattung, diesmal bei der Geschäftsstelle der Beklagten in L ... Die Beklagte wiederholte mit Bescheid vom 6. Mai 2014, der die Überschrift "Duplikat unserer Ablehnung vom 15.04.2014" trägt, ihre Ausführungen aus dem Bescheid vom 15. April 2014. Gegen die Ablehnung der Kostenerstattung erhob der Kläger am 12. Mai 2014 (Schreiben vom 9. Mai 2014) Widerspruch.

Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 15. April 2014 mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 2014 zurück. Der Widerspruch von 9. Mai 2014 gegen den Bescheid vom 15. April 2014 sei zwar form- und fristgerecht eingegangen, in der Sache jedoch unbegründet. Die Voraussetzungen für eine Erstattung der Kosten des Zahnersatzes lägen nicht vor. Der Widerspruchsbescheid enthielt die Rechtsbehelfsbelehrung, nach der gegen diesen Bescheid innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Klage zum Sozialgericht Stuttgart erhoben werden kann. Die Klagefrist gelte auch als gewahrt, wenn die Klageschrift innerhalb der gleichen Frist bei der Beklagten oder bei einem anderen Träger der Sozialversicherung oder einer anderen inländischen Behörde eingehe.

Am 6. August 2014 erhob der Kläger Klage beim Amtsgericht Böblingen (AG) gegen die Beklagte wegen Verweigerung der Übernahme seiner Zahnersatzkosten (21 C 1527/14). Mit Verfügung vom 8. Oktober 2014 wies das AG die Beteiligten darauf hin, dass es sich um eine sozialrechtliche Angelegenheit handle, für die das Sozialgericht Stuttgart (SG) zuständig sei. Das AG fragte beim Kläger an, ob ein Verweisungsantrag gestellt werde. Der Kläger teilte am 15. Oktober 2014 mit, dass er keinen Verweisungsantrag stellen möchte. In der öffentlichen Sitzung des AG vom 27. November 2014 wies das AG den Kläger erneut darauf hin, dass das SG zuständig sei. Der Kläger erklärte darauf hin, beim SG habe er keine Chance. Dort säßen lauter Ausländer, denen egal sei, ob er gewinne oder verliere; wenn die ihm etwas zusprechen würden, würden sie ihren Job verlieren. Nach erneutem Hinweis des AG, einen Verweisungsantrag zu stellen, erklärte der Kläger mehrfach, dies mache er auf keinen Fall. Nach dem Hinweis des AG, dass es die Klage dann mangels Zuständigkeit als unzulässig abweisen müsste, nahm der Kläger seine Klage in der Sitzung vom 27. November 2014 zurück. Die Beklagte stimmte der Klagerücknahme zu. Am 15. Dezember 2014 teilte der Kläger dem AG mit, dass er die Rücknahme der Klage widerrufe. Das AG wies ihn darauf hin, dass die Rücknahme eine unwiderrufliche Prozesshandlung sei. Der Kläger wandte sich nun an das Oberlandesgericht Stuttgart, das ihm mit Schreiben vom 22. Januar 2015 mitteilte, nicht tätig werden zu können.

Am 24. August 2015 erhob der Kläger Klage beim SG mit dem Ziel der Verurteilung der Beklagten, ihm die Kosten für den Zahnersatz zu erstatten.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG wies die Klage mit Gerichtsbescheid vom 5. Januar 2016 ab. Die Klage sei unzulässig. Der Widerspruchsbescheid vom 22. Juli 2014 gelte als am 25. Juli 2014 bekanntgegeben, so dass die Klagefrist am 25. August 2014 geendet habe. Die Klageschrift sei jedoch erst am 24. August 2015 und damit nach Ablauf der Klagefrist beim SG eingegangen.

Gegen den ihm am 8. Januar 2016 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 14. Januar 2016 Berufung eingelegt. Er sei nicht damit einverstanden, dass über seine Klage ohne mündliche Verhandlung entschieden worden sei. Bei der mündlichen Verhandlung hätte er seine Argumente vorbringen und sein Beweismaterial vorlegen können.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 5. Januar 2016 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 15. April 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juli 2014 zu verurteilen, ihm die Kosten für seine Zahnersatzbehandlung zwischen Juli 2013 und März 2014 in Bosnien in Höhe von EUR 3.800,00 zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist auf den Gerichtsbescheid und den Inhalt ihrer Akte.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge, die vom Senat beigezogene Akte des AG im Verfahren 21 C 1527/14 sowie die von der Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da die Klage eine Geldleistung bzw. einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft und der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 750,00 übertrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG): Der Kläger begehrt von der Beklagten die Zahlung von EUR 3.800,00.

2. Die Berufung ist aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn die Klage ist unzulässig.

a) Die Zulässigkeit der Klage ist als Prozessvoraussetzung auch im Berufungsverfahren von Amts wegen zu prüfen. Bei einer zulässigen Berufung ist, bevor über die sachlich-rechtlichen Voraussetzungen der streitigen Ansprüche entschieden wird, festzustellen, ob die Voraussetzungen erfüllt sind, von denen die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes abhängt. Insbesondere sind solche Mängel zu berücksichtigen, die sich aus dem Fehlen unverzichtbarer Prozessvoraussetzungen ergeben, gleichgültig ob der Mangel nur das Berufungsverfahren oder – wie hier – schon das Klageverfahren betrifft (so zum Revisionsverfahren Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 12. Dezember 2013 – B 4 AS 17/13 R – juris, Rn. 15 m.w.N.; zum Berufungsverfahren Urteil des Senats vom 18. September 2015 – L 4 R 5002/14 – nicht veröffentlicht).

b) Die Klage ist verfristet erhoben worden.

aa) Eine Klage ist gemäß § 87 Abs. 1 Satz 1 SGG binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben. Hat ein Vorverfahren stattgefunden, so beginnt die Frist mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides (§ 87 Abs. 2 SGG). Die Klage ist bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu erheben (§ 90 SGG). Die Frist für die Erhebung der Klage gilt unter anderem auch dann als gewahrt, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit bei einer anderen inländischen Behörde eingegangen ist (§ 91 Abs. 1 SGG). Die Klageschrift ist unverzüglich an das zuständige Gericht der Sozialgerichtsbarkeit abzugeben (§ 91 Abs. 2 SGG).

bb) Ob die Klageerhebung am 6. August 2014 beim AG geeignet war, die Klagefrist zu wahren, kann dahinstehen. Denn diese Klage hat der Kläger am 27. November 2014 in der öffentlichen Sitzung des AG zurückgenommen. Der spätere Widerruf dieser Klagerücknahme (§ 269 Zivilprozessordnung [ZPO]) durch den Kläger ist unbeachtlich, da es sich um eine unwiderrufliche Prozesshandlung handelt (Greger, in: Zöller [Hrsg.], ZPO, 31. Aufl. 2016, § 269 Rn. 12; vgl. für das sozialgerichtliche Verfahren Müller, in: Roos/Wahrendorf [Hrsg.], SGG, 2014, § 102 Rn. 7). Wäre die beim AG erhobene Klage im Übrigen noch anhängig, wäre die hiesige Klage bereits wegen anderweitiger Rechtshängigkeit unzulässig (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz [GVG]).

cc) Die Erhebung der Klage beim SG am 24. August 2015 ist nicht innerhalb der Klagefrist erfolgt. Der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 22. Juli 2014, der mit einer ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung versehen war, ist dem Kläger spätestens am 4. August 2014 bekanntgemacht worden. Dies ergibt sich daraus, dass der Kläger mit Schreiben von diesem Tag Klage hiergegen beim AG erhoben hatte. Die einmonatige Klagefrist wäre daher eigentlich spätestens am 4. September 2014 abgelaufen (§ 64 Abs. 2 Satz 1 SGG). Damit erfolgte die Klageerhebung am SG am 24. August 2015 nicht innerhalb der Monatsfrist.

dd) Dem Kläger ist auch keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Gemäß § 67 Abs. 1 SGG ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Die Tatsachen zur Begründung sollen glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs. 2 Satz 2 SGG). Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen (§ 67 Abs. 2 Satz 3 SGG). Ist dies geschehen, kann die Wiedereinsetzung nach § 67 Abs. 2 Satz 4 SGG auch ohne Antrag gewährt werden.

Gründe für eine Wiedereinsetzung liegen nicht vor. Der Kläger war nicht gehindert, die Klagefrist einzuhalten. Im Gegenteil hat er innerhalb der Klagefrist ausdrücklich Klage beim AG erhoben, weil er nicht Klage beim SG erheben wollte. Er wusste aufgrund der dem Widerspruchsbescheid beigefügten Rechtsmittelbelehrung, dass die Klage binnen eines Monats nach Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides zu erheben ist und dass das SG zuständig ist. Trotz dessen hat er sich entschieden, die Klage beim AG zu erheben. Er hat es auch im amtsgerichtlichen Verfahren ausdrücklich mehrmals abgelehnt, die Verweisung an das SG zu beantragen.

Ein Wiedereinsetzungsgrund liegt auch nicht insofern vor als das AG dem Kläger gegenüber die Auffassung vertreten hat, dass es die Klage als unzulässig abweisen müsste, wenn er keine Verweisungsantrag stellt. Zwar war das AG nicht verpflichtet, den Rechtsstreit nach § 91 Abs. 2 SGG an das SG abzugeben, denn der Kläger hat die Klage gerade nicht beim AG mit dem Zwecke der Weiterleitung an das SG erhoben, sondern er hat das AG bewusst als unzuständiges Gericht zum Zwecke der Entscheidung in Anspruch genommen (vgl. zu diesen beiden Varianten näher Jaritz, in: Roos/Wahrendorf [Hrsg.], SGG, 2014, § 91 Rn. 21 f.). In diesem Fall wäre das AG aber gemäß § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG von Amts wegen verpflichtet gewesen, den Rechtsstreit an das SG zu verweisen, ohne dass es eines Antrages des Klägers bedurft hätte (vgl. Kissel/Mayer, GVG, 7. Aufl. 2013, § 17 GVG Rn. 8, 17, 40). Der Kläger hat die Klage vor dem AG zwar aufgrund der fehlerhaften Hinweise des AG zurückgenommen. Er war aber auch nach der Rücknahme der Klage vor dem AG am 27. November 2014 nicht gehindert, die Klage beim SG jedenfalls in der Wiedereinsetzungsmonatsfrist (§ 67 Abs. 2 Sätze 1 und 3 SGG) zu erheben, dessen Zuständigkeit ihm aufgrund der Rechtsmittelbelehrung im Widerspruchsbescheid bekannt war. Hierzu hat sich der Kläger jedoch erst fast neun Monate nach der Klagerücknahme beim AG entschlossen – nicht weil er vorher beim SG keine Klage erheben konnte, sondern weil er dies – mehrmals bekundet – nicht wollte.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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