L 4 R 5260/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 2694/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 5260/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Dezember 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung einer höheren Rente wegen Erwerbsminderung ohne Absenkung des Zugangsfaktors.

Der Kläger ist am 1955 geboren und bei der Beklagten rentenversichert.

Auf seinen Antrag vom 25. Oktober 2013 bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 29. Januar 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer ab dem 1. Mai 2014. Sie legte der Rentenberechnung einen Zugangsfaktor von 0,892 zugrunde (1,0 abzüglich 36 Monaten à 0,003). Für die Zeit ab 1. März 2015 zahlt die Beklagte monatlich EUR 629,38. Für den Zeitraum vom 1. Mai 2014 bis 28. Februar 2015 betrug die Nachzahlung EUR 6.282,96.

Am 9. Februar 2015 erhob der Kläger Widerspruch. Zu Unrecht habe die Beklagte die Rentenberechnung mit versicherungsmathematischem Abschlag vorgenommen. Die Rente sei mit dem Zugangsfaktor 1,0 zu berechnen. § 77 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) sei verfassungswidrig und verstoße gegen Artikel 14 Grundgesetz (GG). Zudem behalte er sich vor, gegen den Rentenbeginn vorzugehen. Ein Ruhen des Verfahrens werde insoweit angeregt.

Die Widerspruchsstelle der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 29. Januar 2015 mit Widerspruchsbescheid vom 13. Mai 2015 zurück. Unter Bezugnahme auf die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09) seien Rentenabschläge bei Erwerbsminderungsrenten mit dem Grundgesetz vereinbar, auch bei Rentenbezug vor Vollendung des 60. Lebensjahres. Zudem sei der 1. April 2014 zu Recht als maßgeblicher Tag des Eintritts der Leistungsminderung angenommen worden. Ein Ruhen des Verfahrens sei nicht sinnvoll.

Hiergegen erhob der Kläger am 15. Juni 2015 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG). Er stellte klar, dass die Frage des Eintritts des Leistungsfalles nicht in diesem Verfahren geltend gemacht werde. Er wende sich ausschließlich gegen die Berechnung der Rentenhöhe mit vermindertem Zugangsfaktor. Die Entscheidungen des BVerfG hätten keine Gültigkeit mehr. Das BVerfG habe die versicherungsmathematischen Abschläge mit dem Grundgesetz nur für vereinbar erklärt, weil eine Notlage gegeben gewesen sei und damit ein weiter Gestaltungsspielraum für den Gesetzgeber. Durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz sei zum 1. Juli 2014 eine veränderte Situation eingetreten. Es sei keine Notlage mehr gegeben. Vor diesem Hintergrund seien Rentenkürzungen verfassungswidrig. Dies ergebe sich bereits aus den von der Beklagten zitierten Urteilen. Die Vorgehensweise des Gesetzgebers, die Abschläge aufrechtzuerhalten und eine andere Personengruppe einer gesonderten Wohltat zuzuführen, was die Frage abschlagsfreier Renten angehe, verstoße im Übrigen auch gegen Art. 3 GG. Diejenigen, die ab 1. Juli 2014 abschlagsfrei in Altersrente gehen könnten, seien versicherungstechnisch betrachtet nicht anders zu behandeln als solche, die bereits in Rente gegangen seien. Im Übrigen weise er darauf hin, dass noch eine Petition beim Deutschen Bundestag bezüglich der Abschläge bei Erwerbsminderungsrente anhängig sei.

Die Beklagte trat der Klage entgegen. Sie wies auf ihre Verpflichtung als Teil der Exekutive hin, die von der Legislative vorgegebenen Gesetze auszuführen und zudem die gefestigte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) umzusetzen.

Mit Gerichtsbescheid vom 15. Dezember 2015 wies das SG die Klage ab. Bescheid und Widerspruchsbescheid seien rechtmäßig. Die Beklagte habe den Zugangsfaktor zutreffend ermittelt. Sofern der Kläger Zweifel an der Vereinbarkeit der gesetzlichen Regelung mit dem Grundgesetz äußere, fehle es insoweit an einer nachvollziehbaren Begründung.

Gegen den ihm am 16. Dezember 2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 22. Dezember 2015 Berufung eingelegt. Unter teilweiser wörtlicher Zitierung aus den Beschlüssen des BVerfG vom 11. Januar 2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 558/09) wiederholte er seine bereits zuvor dargelegte Rechtsauffassung. Die Verfassungswidrigkeit der Aufrechterhaltung der versicherungsmathematischen Abschläge stehe der Regelung "auf die Stirn geschrieben". Die Entscheidungen des BVerfG stützten seine Rechtsauffassung.

Der Kläger beantragt (sachgerecht gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Dezember 2015 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 29. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 2015 zu verurteilen, die ihm ab 1. Mai 2014 bewilligte Rente wegen voller Erwerbsminderung mit einem Zugangsfaktor von 1,0 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verweist auf den angegriffenen Gerichtsbescheid.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogenen Akten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, denn der Kläger begehrt höhere Leistungen für länger als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Der Senat konnte über die Berufung gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

2. Streitgegenstand ist im hiesigen Verfahren der Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 2015 lediglich insoweit, als sich der Kläger ausschließlich gegen die Berechnung der Rentenhöhe mit vermindertem Zugangsfaktor wendet. Nicht Gegenstand des Rechtsstreits nach § 96 SGG ist demgegenüber der Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Februar 2016. Diesem lag ein Überprüfungsantrag des Klägers zugrunde, mit er den im Bescheid vom 29. Januar 2015 festgestellten Eintritt des Leistungsfalls zu einem früheren Zeitpunkt begehrte. Dieses Verfahren ist derzeit beim SG unter dem Aktenzeichen S 15 R 698/16 anhängig.

3. Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 29. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Mai 2015 ist rechtmäßig, soweit er vom Kläger angegriffen wird. Der Kläger wendet sich allein gegen die Rentenhöhe wegen der Absenkung des Zugangsfaktors.

Rechtsgrundlage des Begehrens des Klägers auf höhere Erwerbsminderungsrente sind die Regelungen der §§ 63 ff. Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) über die Rentenhöhe. Der Monatsbetrag einer Rente ergibt sich gemäß § 63 Abs. 6, § 64 Nr. 1 bis 3 SGB VI, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden. Die persönlichen Entgeltpunkte ergeben sich gemäß § 66 Abs. 1 SGB VI, indem die Summe aller Entgeltpunkte unter anderem für Beitragszeiten mit dem Zugangsfaktor vervielfältigt werden.

Die Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 0,892 bei der Rentenberechnung ist rechtmäßig.

Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement der persönlichen Entgeltpunkte. Nach § 77 Abs. 1 SGB VI in der hier anwendbaren, seit dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20. April 2007 (BGBl. I S. 554) richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor ist für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 62. Lebensjahres, so bestimmt § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, dass die Vollendung des 62. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist. Davon abweichend regelt § 264d SGB VI, dass für den Fall des Beginns einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Januar 2024, bei der Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 65. Lebensjahres und des 62. Lebensjahres jeweils das in der Tabelle zu § 264d Satz 1 SGB VI aufgeführte Lebensalter maßgebend ist. Nach dieser Tabelle ist bei Beginn der Rente im Jahr 2014 anstelle des 65. Lebensjahres das 63. Lebensjahr und acht Monate und anstelle des 62. Lebensjahres das 60. Lebensjahr und acht Monate maßgeblich.

Der Kläger bezieht eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des für ihn danach maßgeblichen 63. Lebensjahres und acht Monaten, denn zum Zeitpunkt des Beginns der Rente wegen voller Erwerbsminderung am 1. Mai 2014 hatte der im Februar 1955 geborene Kläger erst das 59. Lebensjahr vollendet.

Die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist als Berechnungsregel zu verstehen, mit der Folge, dass bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 62. Lebensjahres (hier ist anstelle des 62. Lebensjahres das 60. Lebensjahr und acht Monate maßgeblich) der Zugangsfaktor um maximal 0,108 (36 Kalendermonate x 0,003) zu mindern ist. Hierdurch ergibt sich in diesen Fällen ein Zugangsfaktor von 0,892. Diesen hat die Beklagte der Berechnung der Rente in den streitgegenständlichen Bescheiden zugrunde gelegt. Der Auffassung, wonach es sich bei § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI um eine Art Ausschlussregel handele, welche den frühesten Beginn einer "vorzeitigen" Erwerbsminderungsrente auf die Vollendung des 60. Lebensjahres festlege, lässt sich weder aus Wortlaut und Systematik der Norm, noch aus deren Sinn und Zweck, dem systematischen Gesamtzusammenhang oder der Entstehungsgeschichte ableiten. Dies entspricht der inzwischen ständigen Rechtsprechung des BSG (etwa Urteil vom 14. August 2008 – B 5 R 32/07 R – in juris, Rn. 11 ff.; Urteil vom 28. September 2011 – B 5 R 18/11 R – in juris, Rn. 10 ff.; so auch bereits Urteil des Senats vom 17. September 2008 – L 4 R 1500/08 – nicht veröffentlicht). Die so angewandte Regelung ist auch verfassungsgemäß (dazu ausführlich BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 BvR 3588/08, 1 BvR 558/09 – juris, Rn. 33 ff.).

Die Auffassung des Klägers, wonach nunmehr keine finanzielle Notsituation der gesetzlichen Rentenversicherung mehr vorliege, der durch weitere Anwendung des verminderten Zugangsfaktors Rechnung getragen werden müsse, vermag der Senat im Hinblick auf die Ausführungen des BVerfG auch unter Berücksichtigung der mit dem RV-Leistungsverbesserungsgesetz zum 1. Juli 2014 eingeführten Änderungen nicht nachzuvollziehen. Mit der Absenkung des Zugangsfaktors bei Erwerbsminderungsrenten reagiert der Gesetzgeber auf die Verlängerung der Rentenbezugszeit und knüpft damit an einen Faktor an, der für die Finanzsituation kausal ist (BVerfG, a.a.O., Rn. 41). Eine Änderung ist insoweit nicht eingetreten. Soweit der Kläger auf die Ausführungen des BVerfG (a.a.O., Rn. 44) Bezug nimmt, der Gesetzgeber könne nicht darauf verwiesen werden, Einsparungen in anderen Bereichen des Rentenversicherungssystems zu erzielen, wird damit – wie die dortigen Rechtsprechungszitate zeigen – lediglich zum Ausdruck gebracht, dass die Auswahl des Mittels dem Gesetzgeber vorbehalten bleibt und es nicht Aufgabe des BVerfG ist, "bessere" Wege zu finden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

5. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Saved