Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 18 U 1907/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 U 719/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Auch für die erstmalige Bewilligung einer Verletztenrente muss der Versicherte die Umstände, aus denen eine MdE von wenigstens 20 v.H. folgt, nur für den Beginn des streitigen Zeitraums nachweisen.
2. Verringert sich die MdE während des Zeitraums einer noch insgesamt streitigen Rente, so muss diese Einwendung der Versicherungsträger geltend machen, der insoweit auch die materielle Beweislast trägt.
3. Ist die Verringerung einer MdE auf weniger als 20 v.H. inmitten eines Monats nachgewiesen, so ist die Verletztenrente nach dem Rechtsgedanken des § 73 Abs. 2 SGB VII bis zum Ende dieses Monats zuzusprechen.
2. Verringert sich die MdE während des Zeitraums einer noch insgesamt streitigen Rente, so muss diese Einwendung der Versicherungsträger geltend machen, der insoweit auch die materielle Beweislast trägt.
3. Ist die Verringerung einer MdE auf weniger als 20 v.H. inmitten eines Monats nachgewiesen, so ist die Verletztenrente nach dem Rechtsgedanken des § 73 Abs. 2 SGB VII bis zum Ende dieses Monats zuzusprechen.
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 28. Januar 2016 und der Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Mai 2014 abgeändert.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. (zwanzig vom Hundert) über den 31. Januar 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2011 zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte erstattet der Klägerin ein Sechstel der außergerichtlichen Kosten beider Instanzen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die weitere Gewährung einer Verletztenrente.
Die Klägerin ist 1968 geboren. Sie war ab 2002 bei der D. P. AG als Briefzustellerin beschäftigt und in diesem Rahmen bei einer der Rechtsvorgängerinnen der Beklagten (im Folgenden einheitlich: Beklagte) gesetzlich unfallversichert. Am 14. Februar 2008 stürzte sie beim Zustellen von Briefpost eine Treppe hinab und erlitt eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes sowie Prellungen am rechten Knie. Die Klägerin wurde mit einer Kreuzbandplastik versorgt. Insgesamt wurden die Verletzungen dreimal operiert, zuletzt am 13. Juni 2009 in der BG-Klinik L. (Entlassungsbericht vom 26. Juni 2009). Die Klägerin war durchgängig als Briefzustellerin arbeitsunfähig und bezog bis zum 17. Januar 2010 Verletztengeld von der Beklagten (vgl. Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 29. Januar 2014, S 2 U 2939/11).
Prof. Dr. W. diagnostizierte in dem Untersuchungsbericht vom 21. Dezember 2009 eine regelhaft eingebrachte Kreuzbandplastik mit einer latent verbleibenden sagittalen Instabilität (von vorn nach hinten) und eine Schrumpfung der dorsalen Kapsel mit einer Beuge- und Streckhemmung im Kniegelenk sowie einen belastungsabhängigen vorderen Kniegelenksschmerz. Die Beweglichkeit habe 0/5/120° (gegenüber links 0/0/140°) betragen. Die Muskelminderung des rechten Oberschenkels habe bei 2,5 cm gegenüber links gelegen. Die Klägerin sei als Postzustellerin weiterhin arbeitsfähig, werde aber demnächst umgesetzt. Die Klägerin arbeitete ab dem 18. Januar 2010 in einem unternehmensinternen Call-Center.
In dem Ersten Rentengutachten vom 2. Juli 2010 beschrieb Prof. Dr. W. ein flüssiges Gangbild, die Wirbelsäule im Lot, Kniegelenke ohne Erguss mit geringgradiger Schwellung rechts und lokalem Druckschmerz bei festen Bändern ohne vordere Schublade und maß eine Restbeweglichkeit von nunmehr 0/15/115°. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 20 v.H. ab dem 27. April 2009 "bis auf Weiteres". Der Beratungsarzt der Beklagten, Dr. V., meinte dagegen unter dem 7. Februar 2011, bei einem nicht allzu ausgeprägten Streckdefizit und flüssigem Gangbild sowie unter "RAUZ-Gesichtspunkten, Termin unmittelbar bevorstehend" (gemeint: Rente auf unbestimmte Zeit) liege die MdE ab sofort unter 20 v.H.
Gestützt hierauf erließ die Beklagte den Bescheid vom 10. Februar 2011, mit dem sie den Unfall als Arbeitsunfall anerkannte, eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. "für die vergangene Zeit dem Grunde nach" bis zum 31. Januar 2011 bewilligte und für die anschließende Zeit eine Verletztenrente ablehnte.
Die Umsetzung der Klägerin auf den Arbeitsplatz im Call-Center war Anfang 2011 beendet worden, weil sie den fachlichen Anforderungen dort nicht gewachsen sei (Bericht des Berufshelfers vom 2. Dezember 2010). Das Arbeitsverhältnis mit der D. P. AG endete durch Kündigung - nach Angaben der Klägerin krankheitsbedingt - und anschließender arbeitsgerichtlicher Auseinandersetzung zum 31. März 2012 (Bericht des Berufshelfers vom 17. April 2012). Nach Aktenlage begann die Klägerin ab dem 1. April 2012 zu Lasten der Bundesagentur für Arbeit eine Umschulung.
Den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 10. Februar 2011 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2014 zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 25. Juni 2014 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben und die weitere Gewährung der Rente über den 31. Januar 2011 begehrt.
Das SG hat den H-Arzt-Bericht von Dr. R. vom 28. Dezember 2011 beigezogen, der eine Beweglichkeit des rechten Kniegelenks von 0/10/130° beschrieb.
Sodann hat es von Amts wegen Dr. P. mit einer Begutachtung der Klägerin beauftragt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 1. Oktober 2015 ein angedeutetes rechtshinkendes Gangbild, Belastungsschmerzen, eine eingeschränkte Verschieblichkeit der Kniescheibe und eine Beweglichkeit von 0/10/120° gemessen (links 5/0/135°). Die Muskelminderung und die weiteren Unfallfolgen seien auch nach regelmäßiger Physiotherapie zurückgegangen, jedoch noch nicht vollständig behoben (Muskelminderung 1 cm gegenüber links). Dagegen seien mittlerweile erhebliche degenerative Veränderungen im distalen Anteil der Kniescheibe aufgetreten, die als unfallbedingt anzusehen seien. Die MdE habe seit dem Unfall 20 v.H. betragen und sei auch bis auf Weiteres so einzuschätzen. Hierzu hat Dr. P. ausgeführt, auch wenn die Erfahrungswerte eine solche MdE erst bei einer Restbeweglichkeit von 0/10/90° vorsähen, so wirke sich doch die deutliche Retropatellararthrose mit eingeschränkter Verschiebbarkeit der Patella erschwerend aus. Die Einbußen der Klägerin seien durchaus mit einem Zustand nach Implantation einer regelgerecht funktionierenden Total-Endoprothese (TEP) vergleichbar, der eine MdE um 20 v.H. bedinge.
Die Beklagte ist dieser Einschätzung entgegengetreten, wobei ihr Beratungsarzt Dr. V. auf die Restbeweglichkeit hingewiesen hat, die nach den Erfahrungswerten eine MdE von 10 v.H. bedinge und wonach Dr. P.s Vergleich mit einem Zustand nach TEP "ausgesprochen mutig" sei. Hier¬auf hat dieser in der ergänzenden Stellungnahme vom 10. November 2015 seine Einschätzung verändert und ausgeführt, zwar sei eine MdE um 10 v.H. für die Beschwerden der Klägerin zu gering, jedoch sei die MdE ab dem 1. Februar 2011 und bis auf Weiteres auf unter 20 v.H. einzuschätzen. Die von ihm bislang zusätzlich berücksichtigten Einbußen seien in den Erfahrungswerten enthalten, nach der Implantation einer TEP lägen zusätzliche Bewertungskriterien vor, die hier fehlten.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 28. Januar 2016 - im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung - abgewiesen. Die Bewegungseinschränkungen im Knie der Klägerin rechtfertigten, wie auch Dr. P. zuletzt ausgeführt habe, keine rentenberechtigende MdE von 20 v.H. mehr. Zwar sei die Retropatellararthrose als Unfallfolge hinzugetreten, was auch die Beklagte nicht bestreite. Die daraus folgenden zusätzlichen Beeinträchtigungen könnten die MdE aber nicht erhöhen. Die Klägerin habe durch konsequenten Muskelaufbau ihr Gangbild und ihre Beweglichkeit sehr verbessert und könne die bestehenden Beeinträchtigungen dadurch zum Teil gut ausgleichen. Vor diesem Hintergrund könne auch Prof. Dr. W. - damaliger - Einschätzung einer MdE um 20 v.H. über den 31. Januar 2011 hinaus bis auf Weiteres nicht gefolgt werden.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin am 25. Januar 2016 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg erhoben. Sie trägt vor, es sei der ersten Einschätzung Dr. P.s, die mit der früheren Einschätzung Prof. Dr. W. übereinstimme, zu folgen. Es dürfe ihr nicht zum Nachteil gereichen, dass sie die weiterhin bestehenden Defizite muskulär habe kompensieren können, weil auch die dafür notwendige Krankengymnastik nicht schmerzfrei sei. Sofern das Bewegungsdefizit zurückgegangen seien sollte, seien in gleichem Maße degenerative Veränderungen aufgetreten, die hinsichtlich der MdE ebenfalls zu berücksichtigen seien.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 28. Januar 2016 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Mai 2014 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr auf Grund des Arbeitsunfalls vom 14. Februar 2008 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. über den 31. Januar 2011 hinaus zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des Vortrags der Beteiligten im Einzelnen und der Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, insbesondere nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, da die Klägerin laufende Sozialleistungen für mehr als ein Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, vor allem hat sie die Klägerin form- und fristgerecht nach § 151 Abs. 1 SGG erhoben.
Die Berufung ist auch teilweise begründet. Das SG hat die Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, Abs. 4 SGG) der Klägerin insoweit zu Unrecht abgewiesen, als ein Rentenspruch für die Zeit bis zum 31. Dezember 2011 begehrt war. Für den Zeitraum danach steht der Klägerin dagegen kein Anspruch auf Verletztenrente mehr zu, sodass die angegriffenen Bescheide insoweit rechtmäßig sind.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Rentengewährung ist § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls - hier eines Arbeitsunfalls - über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf Rente. Wenn, wie vorliegend, ein Anspruch auf Verletztengeld entstanden ist, werden gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII Renten an Versicherte von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem dieser Anspruch endet (Urteil des Senats vom 28. Juli 2016 – L 6 U 1013/15 –, juris, Rz. 81).
Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Um das Vorliegen der MdE beurteilen zu können, ist zunächst zu fragen, ob das aktuelle körperliche oder geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt ist. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang dadurch die Arbeitsmöglichkeiten der versicherten Person auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindert werden. Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, die dieses gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (Urteil des Senats vom 28. Juli 2016 – L 6 U 1013/15 –, juris, Rz. 82).
Nach den genannten Erfahrungswerten (z.B. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 654 ff.) bedingt bei einer Schädigung des Kniegelenks eine Beugeeinschränkung auf 120° allein eine MdE um 10 v.H., eine solche auf 90° eine MdE um 15 v.H. Für isolierte Streckdefizite sind keine Erfahrungswerte allgemein anerkannt, weil solche Einschränkungen in aller Regel mit einer Beugehemmung einhergehen. In diesem Rahmen führt ein Streckdefizit um 10°, wenn es mit einer Beugeeinschränkung auf höchstens 90° einhergeht, zu einer MdE um 20 v.H. Aus diesen beiden Erfahrungswerten lässt sich - mit aller Vorsicht - entnehmen, dass eine Streckhemmung um 10° allein etwa eine MdE um 5 v.H. bedingt. Es wäre danach vertretbar, z.B. bei einer Bewegungseinschränkung auf 0/10/110° eine MdE um 15 v.H. anzunehmen. Streckdefizite beeinträchtigen das Gangbild erheblicher als Beugeeinschränkungen, die ihrerseits wiederum eher das Sitzen einschränken. Es wäre daher nicht gerechtfertigt, bei einer Beugehemmung zwischen 90 und 120° mit einem zusätzlichen Streckdefizit unter 10° bei der MdE um 10 v.H. für die Beugehemmung allein zu verbleiben. Mit dieser MdE-Bewertung sind die üblichen Schmerzen der Schädigung mit erfasst. Auch spätere Folgeerkrankungen, z.B. eine posttraumatisch entstandene Arthrose, können solange nicht die MdE erhöhen, wie sie nicht zusätzliche oder höhere Funktionseinbußen verursachen. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Folgeerkrankung als gesonderte Unfallfolge festgestellt ist oder nicht, denn diese Frage ist im Rahmen eines Anspruchs auf Verletztenrente inzident zu beantworten.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist ferner darauf hinzuweisen, dass im Rahmen einer Leistungsklage wie hier das Gericht nicht nur den Sach- und Streitstand zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung in einer Tatsacheninstanz zu Grunde legt, sondern deshalb auch Veränderungen während des streitigen Zeitraums berücksichtigt. Ergibt sich danach, dass für einen Teil des Streitzeitraums ein Rentenanspruch bestand, für einen anderen aber nicht, so ist die Rente entsprechend zuzusprechen. Hierin unterscheidet sich die verfahrensrechtliche Situation von der Entziehung einer bereits bindend bewilligten Rente. Dabei ist unerheblich, ob eine Rente als vorläufige Entschädigung oder als Dauerrente bewilligt wird. Diese Unterscheidung ist ebenfalls erst bei einer Entziehung relevant (vgl. § 62 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 SGB VII).
Hiernach hat die Beklagte der Klägerin in dem angegriffenen Bescheid zu Recht eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. bis Ende Januar 2011 bewilligt. Die Funktionseinbußen, die damals vorlagen und die vor allem Prof. Dr. W. in seinem Untersuchungsbericht vom 21. Dezember 2009 und in dem Ersten Rentengutachten vom 2. Juli 2010 beschrieben hatte, rechtfertigten eine solche MdE. Hiernach war im Juli 2010 eine Restbeweglichkeit 0/15/115° gemessen worden. Diese Beugehemmung allein bedingt eine MdE um 10 v.H. Dafür liegt das Streckdefizit höher als jene 10°, die zu einer Erhöhung der MdE um 5 Prozentpunkte führen würde. Danach war es vertretbar, dass Prof. Dr. W. damals eine MdE um 20 v.H. vorgeschlagen hat.
Dagegen lag bei der Untersuchung bei Dr. P. im erstinstanzlichen Verfahren keine rentenberechtigende MdE mehr vor. Die Beugung betrug nunmehr 120°, führte also - isoliert betrachtet - zu einer MdE von genau 10 v.H. Hinzu kommt das Streckdefizit von 10°. Dieses würde nur dann zu einer MdE um 20 v.H. führen, wenn auch die Beugung auf höchstens 90° limitiert wäre. Es ergibt sich daher jetzt eine MdE um höchstens 15 v.H. Bei dieser Beurteilung bleiben die weiteren Beeinträchtigungen der Klägerin unberücksichtigt. Die Erfahrungswerte pauschalieren naturgegebenermaßen. Insbesondere umfassen sie, wie ausgeführt, die mit den weiteren Funktionseinbußen verbundenen Schmerzen, soweit diese nicht ein ganz außergewöhnliches Ausmaß erreichen und etwa gesondert als Schmerzerkrankung diagnostiziert werden müssten. Generell werden rein individuelle Umstände auf medizinischer Ebene nicht berücksichtigt, die MdE wird nach der Grundregelung in § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach der Erwerbsminderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bemessen. Daher kann es nicht zu Gunsten der Klägerin berücksichtigt werden, dass die eingeschränkte Verschiebbarkeit der Patella Belastungsschmerzen beim Gehen verursacht. Ebenso kann es nicht zu Lasten der Klägerin gehen, dass die ermittelten Bewegungseinschränkungen muskulär gut kompensiert werden, sodass sich im Alltag ein nur wenig hinkendes Gangbild zeigt.
Dieser deutlich verbesserte Zustand besteht bei der Klägerin mindestens seit dem 28. Dezember 2011. Die Beklagte verweist zu Recht darauf, dass Dr. R. an diesem Tage eine Restbeweglichkeit von 0/10/130° gemessen hatte. Dies war - hinsichtlich der Beugehemmung - sogar geringfügig besser als vier Jahre später bei Dr. P ... Es ist daher davon auszugehen, dass nicht nur ab der Begutachtung bei Dr. P., sondern bereits ab Dezember 2011 keine rentenberechtigende MdE bestand.
Schwerer zu entscheiden ist, zu welchem Zeitpunkt zwischen den Untersuchungen bei Prof. Dr. W. und Dr. R. die Bewegungseinschränkung soweit zurückgegangen war, dass eine MdE von 20 v.H. nicht mehr gerechtfertigt werden konnte. Für eine Schätzung dieses Zeitpunktes entsprechend § 202 SGG i.V.m. dem Rechtsgedanken des § 287 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO), die grundsätzlich auch in sozialgerichtlichen Verfahren möglich ist (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rz. 3g m.w.N.), fehlen hier ausreichend deutliche Anknüpfungstatsachen aus der Zeit zwischen Herbst 2010 und dem 28. Dezember 2011. Es ist daher nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu entscheiden. Diese Beweislast liegt hier auf Seiten der Beklagten, auch wenn es um die erstmalige Feststellung einer Rente geht. Der Senat ist, wie ausgeführt, davon überzeugt, dass zu Beginn des hier streitigen Zeitraums Einschränkungen vorlagen, die eine MdE von 20 v.H. bedingten. Wenn jetzt eine Verbesserung während dieses Zeitraums eingetreten ist, dann handelt es sich um eine rechtsvernichtende Einwendung der Beklagten (vgl. zur ähnlichen Konstellation des Wegfalls einer Altersrente wegen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenzen BSG, Urteil vom 04. Mai 1999 – B 4 RA 55/98 R –, SozR 3-2600 § 34 Nr. 1, juris, Rz. 15).
Hiernach betrug die MdE jedenfalls über den 31. Januar 2011 hinaus weiterhin 20 v.H. Die Begründung, die Beratungsarzt Dr. V. in seiner Stellungnahme vom 7. Februar 2011 für eine Abweichung von Prof. Dr. W.s Einschätzung gegeben hat, überzeugt nicht vollends. Dass die Frist von drei Jahren ab dem Unfall, die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 SGB VII relevant war, kurze Zeit später ablaufen sollte, ist keine medizinische Erwägung. Und dass die Klägerin trotz des vorhandenen Defizits relativ geringfügige Einschränkungen im Gangbild zeigte, war - wie schon ausgeführt - nicht zu ihren Lasten zu werten, zumal Prof. Dr. W. diesen Umstand im Ersten Rentengutachten gewürdigt hatte. Die weitere Verbesserung der Schädigungsfolgen, die zu einer Verringerung der MdE unter 20 v.H. geführt haben, kann dann erstmals durch das Attest von Dr. R. vom 28. Dezember 2011 als nachgewiesen gelten. Entsprechend dem Rechtsgedanken des § 73 Abs. 2 Satz 1 SGB VII endete der Rentenanspruch der Klägerin daher mit dem Ende des Monats Dezember 2011.
Über weitere Schädigungsfolgen, etwa eine Retropatellararthrose, hatte der Senat nicht zu entscheiden; einen entsprechenden Antrag hat der Klägerin im Gerichtsverfahren nicht gestellt.
Die Entscheidung über die Kosten beider Instanzen beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. (zwanzig vom Hundert) über den 31. Januar 2011 hinaus bis zum 31. Dezember 2011 zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte erstattet der Klägerin ein Sechstel der außergerichtlichen Kosten beider Instanzen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die weitere Gewährung einer Verletztenrente.
Die Klägerin ist 1968 geboren. Sie war ab 2002 bei der D. P. AG als Briefzustellerin beschäftigt und in diesem Rahmen bei einer der Rechtsvorgängerinnen der Beklagten (im Folgenden einheitlich: Beklagte) gesetzlich unfallversichert. Am 14. Februar 2008 stürzte sie beim Zustellen von Briefpost eine Treppe hinab und erlitt eine Ruptur des vorderen Kreuzbandes sowie Prellungen am rechten Knie. Die Klägerin wurde mit einer Kreuzbandplastik versorgt. Insgesamt wurden die Verletzungen dreimal operiert, zuletzt am 13. Juni 2009 in der BG-Klinik L. (Entlassungsbericht vom 26. Juni 2009). Die Klägerin war durchgängig als Briefzustellerin arbeitsunfähig und bezog bis zum 17. Januar 2010 Verletztengeld von der Beklagten (vgl. Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 29. Januar 2014, S 2 U 2939/11).
Prof. Dr. W. diagnostizierte in dem Untersuchungsbericht vom 21. Dezember 2009 eine regelhaft eingebrachte Kreuzbandplastik mit einer latent verbleibenden sagittalen Instabilität (von vorn nach hinten) und eine Schrumpfung der dorsalen Kapsel mit einer Beuge- und Streckhemmung im Kniegelenk sowie einen belastungsabhängigen vorderen Kniegelenksschmerz. Die Beweglichkeit habe 0/5/120° (gegenüber links 0/0/140°) betragen. Die Muskelminderung des rechten Oberschenkels habe bei 2,5 cm gegenüber links gelegen. Die Klägerin sei als Postzustellerin weiterhin arbeitsfähig, werde aber demnächst umgesetzt. Die Klägerin arbeitete ab dem 18. Januar 2010 in einem unternehmensinternen Call-Center.
In dem Ersten Rentengutachten vom 2. Juli 2010 beschrieb Prof. Dr. W. ein flüssiges Gangbild, die Wirbelsäule im Lot, Kniegelenke ohne Erguss mit geringgradiger Schwellung rechts und lokalem Druckschmerz bei festen Bändern ohne vordere Schublade und maß eine Restbeweglichkeit von nunmehr 0/15/115°. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 20 v.H. ab dem 27. April 2009 "bis auf Weiteres". Der Beratungsarzt der Beklagten, Dr. V., meinte dagegen unter dem 7. Februar 2011, bei einem nicht allzu ausgeprägten Streckdefizit und flüssigem Gangbild sowie unter "RAUZ-Gesichtspunkten, Termin unmittelbar bevorstehend" (gemeint: Rente auf unbestimmte Zeit) liege die MdE ab sofort unter 20 v.H.
Gestützt hierauf erließ die Beklagte den Bescheid vom 10. Februar 2011, mit dem sie den Unfall als Arbeitsunfall anerkannte, eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. "für die vergangene Zeit dem Grunde nach" bis zum 31. Januar 2011 bewilligte und für die anschließende Zeit eine Verletztenrente ablehnte.
Die Umsetzung der Klägerin auf den Arbeitsplatz im Call-Center war Anfang 2011 beendet worden, weil sie den fachlichen Anforderungen dort nicht gewachsen sei (Bericht des Berufshelfers vom 2. Dezember 2010). Das Arbeitsverhältnis mit der D. P. AG endete durch Kündigung - nach Angaben der Klägerin krankheitsbedingt - und anschließender arbeitsgerichtlicher Auseinandersetzung zum 31. März 2012 (Bericht des Berufshelfers vom 17. April 2012). Nach Aktenlage begann die Klägerin ab dem 1. April 2012 zu Lasten der Bundesagentur für Arbeit eine Umschulung.
Den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 10. Februar 2011 wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. Mai 2014 zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 25. Juni 2014 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben und die weitere Gewährung der Rente über den 31. Januar 2011 begehrt.
Das SG hat den H-Arzt-Bericht von Dr. R. vom 28. Dezember 2011 beigezogen, der eine Beweglichkeit des rechten Kniegelenks von 0/10/130° beschrieb.
Sodann hat es von Amts wegen Dr. P. mit einer Begutachtung der Klägerin beauftragt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 1. Oktober 2015 ein angedeutetes rechtshinkendes Gangbild, Belastungsschmerzen, eine eingeschränkte Verschieblichkeit der Kniescheibe und eine Beweglichkeit von 0/10/120° gemessen (links 5/0/135°). Die Muskelminderung und die weiteren Unfallfolgen seien auch nach regelmäßiger Physiotherapie zurückgegangen, jedoch noch nicht vollständig behoben (Muskelminderung 1 cm gegenüber links). Dagegen seien mittlerweile erhebliche degenerative Veränderungen im distalen Anteil der Kniescheibe aufgetreten, die als unfallbedingt anzusehen seien. Die MdE habe seit dem Unfall 20 v.H. betragen und sei auch bis auf Weiteres so einzuschätzen. Hierzu hat Dr. P. ausgeführt, auch wenn die Erfahrungswerte eine solche MdE erst bei einer Restbeweglichkeit von 0/10/90° vorsähen, so wirke sich doch die deutliche Retropatellararthrose mit eingeschränkter Verschiebbarkeit der Patella erschwerend aus. Die Einbußen der Klägerin seien durchaus mit einem Zustand nach Implantation einer regelgerecht funktionierenden Total-Endoprothese (TEP) vergleichbar, der eine MdE um 20 v.H. bedinge.
Die Beklagte ist dieser Einschätzung entgegengetreten, wobei ihr Beratungsarzt Dr. V. auf die Restbeweglichkeit hingewiesen hat, die nach den Erfahrungswerten eine MdE von 10 v.H. bedinge und wonach Dr. P.s Vergleich mit einem Zustand nach TEP "ausgesprochen mutig" sei. Hier¬auf hat dieser in der ergänzenden Stellungnahme vom 10. November 2015 seine Einschätzung verändert und ausgeführt, zwar sei eine MdE um 10 v.H. für die Beschwerden der Klägerin zu gering, jedoch sei die MdE ab dem 1. Februar 2011 und bis auf Weiteres auf unter 20 v.H. einzuschätzen. Die von ihm bislang zusätzlich berücksichtigten Einbußen seien in den Erfahrungswerten enthalten, nach der Implantation einer TEP lägen zusätzliche Bewertungskriterien vor, die hier fehlten.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 28. Januar 2016 - im Einverständnis mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung - abgewiesen. Die Bewegungseinschränkungen im Knie der Klägerin rechtfertigten, wie auch Dr. P. zuletzt ausgeführt habe, keine rentenberechtigende MdE von 20 v.H. mehr. Zwar sei die Retropatellararthrose als Unfallfolge hinzugetreten, was auch die Beklagte nicht bestreite. Die daraus folgenden zusätzlichen Beeinträchtigungen könnten die MdE aber nicht erhöhen. Die Klägerin habe durch konsequenten Muskelaufbau ihr Gangbild und ihre Beweglichkeit sehr verbessert und könne die bestehenden Beeinträchtigungen dadurch zum Teil gut ausgleichen. Vor diesem Hintergrund könne auch Prof. Dr. W. - damaliger - Einschätzung einer MdE um 20 v.H. über den 31. Januar 2011 hinaus bis auf Weiteres nicht gefolgt werden.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin am 25. Januar 2016 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg erhoben. Sie trägt vor, es sei der ersten Einschätzung Dr. P.s, die mit der früheren Einschätzung Prof. Dr. W. übereinstimme, zu folgen. Es dürfe ihr nicht zum Nachteil gereichen, dass sie die weiterhin bestehenden Defizite muskulär habe kompensieren können, weil auch die dafür notwendige Krankengymnastik nicht schmerzfrei sei. Sofern das Bewegungsdefizit zurückgegangen seien sollte, seien in gleichem Maße degenerative Veränderungen aufgetreten, die hinsichtlich der MdE ebenfalls zu berücksichtigen seien.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 28. Januar 2016 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26. Mai 2014 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr auf Grund des Arbeitsunfalls vom 14. Februar 2008 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. über den 31. Januar 2011 hinaus zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen des Vortrags der Beteiligten im Einzelnen und der Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, insbesondere nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, da die Klägerin laufende Sozialleistungen für mehr als ein Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, vor allem hat sie die Klägerin form- und fristgerecht nach § 151 Abs. 1 SGG erhoben.
Die Berufung ist auch teilweise begründet. Das SG hat die Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1, Abs. 4 SGG) der Klägerin insoweit zu Unrecht abgewiesen, als ein Rentenspruch für die Zeit bis zum 31. Dezember 2011 begehrt war. Für den Zeitraum danach steht der Klägerin dagegen kein Anspruch auf Verletztenrente mehr zu, sodass die angegriffenen Bescheide insoweit rechtmäßig sind.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Rentengewährung ist § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII). Danach haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls - hier eines Arbeitsunfalls - über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, Anspruch auf Rente. Wenn, wie vorliegend, ein Anspruch auf Verletztengeld entstanden ist, werden gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII Renten an Versicherte von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem dieser Anspruch endet (Urteil des Senats vom 28. Juli 2016 – L 6 U 1013/15 –, juris, Rz. 81).
Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Um das Vorliegen der MdE beurteilen zu können, ist zunächst zu fragen, ob das aktuelle körperliche oder geistige Leistungsvermögen beeinträchtigt ist. In einem zweiten Schritt ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang dadurch die Arbeitsmöglichkeiten der versicherten Person auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens vermindert werden. Die Bemessung des Grades der MdE erfolgt als Tatsachenfeststellung des Gerichts, die dieses gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Die zur Bemessung der MdE in Rechtsprechung und Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind dabei zu beachten. Sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche und gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen ständigem Wandel (Urteil des Senats vom 28. Juli 2016 – L 6 U 1013/15 –, juris, Rz. 82).
Nach den genannten Erfahrungswerten (z.B. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, S. 654 ff.) bedingt bei einer Schädigung des Kniegelenks eine Beugeeinschränkung auf 120° allein eine MdE um 10 v.H., eine solche auf 90° eine MdE um 15 v.H. Für isolierte Streckdefizite sind keine Erfahrungswerte allgemein anerkannt, weil solche Einschränkungen in aller Regel mit einer Beugehemmung einhergehen. In diesem Rahmen führt ein Streckdefizit um 10°, wenn es mit einer Beugeeinschränkung auf höchstens 90° einhergeht, zu einer MdE um 20 v.H. Aus diesen beiden Erfahrungswerten lässt sich - mit aller Vorsicht - entnehmen, dass eine Streckhemmung um 10° allein etwa eine MdE um 5 v.H. bedingt. Es wäre danach vertretbar, z.B. bei einer Bewegungseinschränkung auf 0/10/110° eine MdE um 15 v.H. anzunehmen. Streckdefizite beeinträchtigen das Gangbild erheblicher als Beugeeinschränkungen, die ihrerseits wiederum eher das Sitzen einschränken. Es wäre daher nicht gerechtfertigt, bei einer Beugehemmung zwischen 90 und 120° mit einem zusätzlichen Streckdefizit unter 10° bei der MdE um 10 v.H. für die Beugehemmung allein zu verbleiben. Mit dieser MdE-Bewertung sind die üblichen Schmerzen der Schädigung mit erfasst. Auch spätere Folgeerkrankungen, z.B. eine posttraumatisch entstandene Arthrose, können solange nicht die MdE erhöhen, wie sie nicht zusätzliche oder höhere Funktionseinbußen verursachen. Dies gilt unabhängig davon, ob diese Folgeerkrankung als gesonderte Unfallfolge festgestellt ist oder nicht, denn diese Frage ist im Rahmen eines Anspruchs auf Verletztenrente inzident zu beantworten.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist ferner darauf hinzuweisen, dass im Rahmen einer Leistungsklage wie hier das Gericht nicht nur den Sach- und Streitstand zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung in einer Tatsacheninstanz zu Grunde legt, sondern deshalb auch Veränderungen während des streitigen Zeitraums berücksichtigt. Ergibt sich danach, dass für einen Teil des Streitzeitraums ein Rentenanspruch bestand, für einen anderen aber nicht, so ist die Rente entsprechend zuzusprechen. Hierin unterscheidet sich die verfahrensrechtliche Situation von der Entziehung einer bereits bindend bewilligten Rente. Dabei ist unerheblich, ob eine Rente als vorläufige Entschädigung oder als Dauerrente bewilligt wird. Diese Unterscheidung ist ebenfalls erst bei einer Entziehung relevant (vgl. § 62 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 2 SGB VII).
Hiernach hat die Beklagte der Klägerin in dem angegriffenen Bescheid zu Recht eine Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. bis Ende Januar 2011 bewilligt. Die Funktionseinbußen, die damals vorlagen und die vor allem Prof. Dr. W. in seinem Untersuchungsbericht vom 21. Dezember 2009 und in dem Ersten Rentengutachten vom 2. Juli 2010 beschrieben hatte, rechtfertigten eine solche MdE. Hiernach war im Juli 2010 eine Restbeweglichkeit 0/15/115° gemessen worden. Diese Beugehemmung allein bedingt eine MdE um 10 v.H. Dafür liegt das Streckdefizit höher als jene 10°, die zu einer Erhöhung der MdE um 5 Prozentpunkte führen würde. Danach war es vertretbar, dass Prof. Dr. W. damals eine MdE um 20 v.H. vorgeschlagen hat.
Dagegen lag bei der Untersuchung bei Dr. P. im erstinstanzlichen Verfahren keine rentenberechtigende MdE mehr vor. Die Beugung betrug nunmehr 120°, führte also - isoliert betrachtet - zu einer MdE von genau 10 v.H. Hinzu kommt das Streckdefizit von 10°. Dieses würde nur dann zu einer MdE um 20 v.H. führen, wenn auch die Beugung auf höchstens 90° limitiert wäre. Es ergibt sich daher jetzt eine MdE um höchstens 15 v.H. Bei dieser Beurteilung bleiben die weiteren Beeinträchtigungen der Klägerin unberücksichtigt. Die Erfahrungswerte pauschalieren naturgegebenermaßen. Insbesondere umfassen sie, wie ausgeführt, die mit den weiteren Funktionseinbußen verbundenen Schmerzen, soweit diese nicht ein ganz außergewöhnliches Ausmaß erreichen und etwa gesondert als Schmerzerkrankung diagnostiziert werden müssten. Generell werden rein individuelle Umstände auf medizinischer Ebene nicht berücksichtigt, die MdE wird nach der Grundregelung in § 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII nach der Erwerbsminderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bemessen. Daher kann es nicht zu Gunsten der Klägerin berücksichtigt werden, dass die eingeschränkte Verschiebbarkeit der Patella Belastungsschmerzen beim Gehen verursacht. Ebenso kann es nicht zu Lasten der Klägerin gehen, dass die ermittelten Bewegungseinschränkungen muskulär gut kompensiert werden, sodass sich im Alltag ein nur wenig hinkendes Gangbild zeigt.
Dieser deutlich verbesserte Zustand besteht bei der Klägerin mindestens seit dem 28. Dezember 2011. Die Beklagte verweist zu Recht darauf, dass Dr. R. an diesem Tage eine Restbeweglichkeit von 0/10/130° gemessen hatte. Dies war - hinsichtlich der Beugehemmung - sogar geringfügig besser als vier Jahre später bei Dr. P ... Es ist daher davon auszugehen, dass nicht nur ab der Begutachtung bei Dr. P., sondern bereits ab Dezember 2011 keine rentenberechtigende MdE bestand.
Schwerer zu entscheiden ist, zu welchem Zeitpunkt zwischen den Untersuchungen bei Prof. Dr. W. und Dr. R. die Bewegungseinschränkung soweit zurückgegangen war, dass eine MdE von 20 v.H. nicht mehr gerechtfertigt werden konnte. Für eine Schätzung dieses Zeitpunktes entsprechend § 202 SGG i.V.m. dem Rechtsgedanken des § 287 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO), die grundsätzlich auch in sozialgerichtlichen Verfahren möglich ist (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 Rz. 3g m.w.N.), fehlen hier ausreichend deutliche Anknüpfungstatsachen aus der Zeit zwischen Herbst 2010 und dem 28. Dezember 2011. Es ist daher nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu entscheiden. Diese Beweislast liegt hier auf Seiten der Beklagten, auch wenn es um die erstmalige Feststellung einer Rente geht. Der Senat ist, wie ausgeführt, davon überzeugt, dass zu Beginn des hier streitigen Zeitraums Einschränkungen vorlagen, die eine MdE von 20 v.H. bedingten. Wenn jetzt eine Verbesserung während dieses Zeitraums eingetreten ist, dann handelt es sich um eine rechtsvernichtende Einwendung der Beklagten (vgl. zur ähnlichen Konstellation des Wegfalls einer Altersrente wegen Überschreitens der Hinzuverdienstgrenzen BSG, Urteil vom 04. Mai 1999 – B 4 RA 55/98 R –, SozR 3-2600 § 34 Nr. 1, juris, Rz. 15).
Hiernach betrug die MdE jedenfalls über den 31. Januar 2011 hinaus weiterhin 20 v.H. Die Begründung, die Beratungsarzt Dr. V. in seiner Stellungnahme vom 7. Februar 2011 für eine Abweichung von Prof. Dr. W.s Einschätzung gegeben hat, überzeugt nicht vollends. Dass die Frist von drei Jahren ab dem Unfall, die für die Anwendung des § 62 Abs. 2 SGB VII relevant war, kurze Zeit später ablaufen sollte, ist keine medizinische Erwägung. Und dass die Klägerin trotz des vorhandenen Defizits relativ geringfügige Einschränkungen im Gangbild zeigte, war - wie schon ausgeführt - nicht zu ihren Lasten zu werten, zumal Prof. Dr. W. diesen Umstand im Ersten Rentengutachten gewürdigt hatte. Die weitere Verbesserung der Schädigungsfolgen, die zu einer Verringerung der MdE unter 20 v.H. geführt haben, kann dann erstmals durch das Attest von Dr. R. vom 28. Dezember 2011 als nachgewiesen gelten. Entsprechend dem Rechtsgedanken des § 73 Abs. 2 Satz 1 SGB VII endete der Rentenanspruch der Klägerin daher mit dem Ende des Monats Dezember 2011.
Über weitere Schädigungsfolgen, etwa eine Retropatellararthrose, hatte der Senat nicht zu entscheiden; einen entsprechenden Antrag hat der Klägerin im Gerichtsverfahren nicht gestellt.
Die Entscheidung über die Kosten beider Instanzen beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
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