L 8 SB 1592/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 SB 3839/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 1592/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 23.03.2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Klägers sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) erfüllt.

Bei dem1955 geborenen Kläger ist ein GdB von 80 seit 08.11.2011 sowie das Merkzeichen G festgestellt [Bescheid vom 10.01.2013, Bl. 128/130 der Verwaltungsakten des Beklagten (VA)]. Dem lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde (versorgungsärztliche Stellungnahme der Dr. M.-T. vom 03.01.2013, Bl. 126/127 VA): - Hauterkrankung, entzündliche Erkrankung der Gelenke, Polyarthrose, Funktionsbehinderung beider Kniegelenke, Teil-GdB 50, - Verdauungsstörung bei Zöliakie, Teil-GdB 30, - Schwerhörigkeit beidseitig, Teil-GdB 30, - Depression, chronisches Schmerzsyndrom, Schwindel, Migräne, Teil-GdB 30, - Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Kalksalzminderung des Knochens (Osteoporose), Schulter-Arm-Syndrom, Fibromyalgiesyndrom, Teil-GdB 20, - Bronchialasthma, Teil-GdB 20, - Bluthochdruck, Bluterkrankung, Teil-GdB 10.

Am 20.09.2013 beantragte der Kläger beim Landratsamt Böblingen – Versorgungsamt in S. – (LRA) die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG. Dazu berief er sich auf Rheuma, Sprue, extrem starke Gelenk- und Knochenschmerzen sowie Schuppenflechte.

Das LRA zog von der Pflegekasse des Klägers das Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) über die Feststellung der Pflegestufe I vom 04.07.2013 (Bl. 137/147 VA) sowie den Befundbericht des Internisten Dr. M. vom 16.12.2013 (Bl. 151/152 VA) bei.

Der Versorgungsarzt Dr. U. bewertete die Funktionsbeeinträchtigungen nach Auswertung der Unterlagen wie bisher. Eine wesentliche Änderung sei nicht eingetreten. Das Merkzeichen B sei vertretbar, Merkzeichen aG könne durch die Befunde nicht begründet werden.

Mit Bescheid vom 07.02.2014 (Bl. 156/157 VA) stellte das LRA das Merkzeichen B ab 20.09.2013 fest und lehnte die Feststellung des Merkzeichens aG ab.

Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Zur Begründung verwies er auf den im Gutachten des MDK vom 04.07.2013 aufgeführten Hilfebedarf und auf die von Dr. M. angegebene akute Schmerzsymptomatik, Arthritis sowie auf 10 bis 20 Meter eingeschränkte Gehstrecke. Er legte das ärztliche Attest des Dr. M. vom 15.04.2014 (Bl. 170/172 VA) vor.

Die Versorgungsärztin Dr. R. S. erachtete die strengen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG als nicht objektiviert (Stellungnahme vom 14.05.2014, Bl. 174/175 VA).

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.06.2014 (Bl. 177/178 VA) wies der Beklagte den Widerspruch zurück.

Am 14.07.2014 erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG). Der Beklagte habe den Sachverhalt nicht vollständig aufgeklärt, insbesondere die festgestellten gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers nicht hinreichend berücksichtigt. Dazu verwies er auf das Attest des Dr. M. vom 15.04.2014.

Das SG befragte die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. D. teilte unter dem 12.10.2014 (Bl. 32/33 SG-Akte) mit, aufgrund eine rheumatoiden Arthritis und Psoriasisarthritis mit starken Schmerzen sei die Gehstrecke auf maximal 50 Meter eingeschränkt, was jedoch auf rheumatologischem Fachgebiet abschließend zu beurteilen sei. Der Internist Dr. M. gab unter dem 04.11.2014 (Bl. 34/37 SG-Akte) an, der Kläger könne praktisch nur 20 bis 30 Meter schmerzfrei gehen. Er halte den Kläger für außergewöhnlich gehbehindert. Der Rheumatologe Dr. R. führte unter dem 21.11.2014 (Bl. 40/42 SG-Akten) aus, die Psoriasisarthritis sei derzeit nicht aktiv. Auf die Gehfähigkeit des Klägers wirke sich eine Fibromyalgie direkt aus. Die Gehfähigkeit des Klägers sei in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt.

Das SG holte das internistisch-rheumatologische Schmerzgutachten des Dr. M. vom 22.07.2015 (Bl. 58/77 SG-Akte) ein. Die vorliegenden Erkrankungen hätten beim Kläger die Auswirkung, dass er davon ausgehe, schmerzbedingt größere Wegstrecken nicht zurücklegen zu können, und auch eine schmerzbedingte Bewegungseinschränkung von Gelenken angegeben werde, die sich allerdings nicht habe objektivieren lassen. Auf die Gehfähigkeit wirkten sich die Gelenkschmerzen aus, wobei geschwollene Gelenke nicht erkennbar gewesen seien. Eine außerordentliche Gehbehinderung, aufgrund der sich der Kläger wegen der Schwere der Leiden dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen könne, sei jetzt nicht festzustellen gewesen.

Mit Gerichtsbescheid vom 23.03.2016 wies das SG die Klage ab.

Am 28.04.2016 hat der Kläger gegen den seinem Prozessbevollmächtigten am 29.03.2016 zugestellten Gerichtsbescheid Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Die Schmerzerkrankung sowie die psychologisch-neurologische Erkrankung sei nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 23.03.2016 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 07.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2014 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Das Sach- und Streitverhältnis ist durch die Berichterstatterin in der nicht-öffentlichen Sitzung am 29.07.2016 erörtert worden. Der Kläger hat den Befundbericht des Dr. M. vom 07.07.2016 (Bl. 20/21 der Senatsakte) vorgelegt. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie einen Band Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers, über die der Senat gemäß § 124 Abs. 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig, aber unbegründet.

Der angefochtene Bescheid des LRA vom 07.02.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.06.2014 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Dem Kläger steht gegen den Beklagten kein Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens aG zu. Das angefochtene Gerichtsbescheid des SG ist nicht zu beanstanden.

Maßgebliche Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens aG ist § 69 Abs. 4 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) i.V.m. §§ 1 Abs. 4 und 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung vom 25.07.1991, zuletzt geändert durch zuletzt geändert durch Art. 1 Verordnung vom 07.06.2012 (BGBl. I, 1275). Danach ist das Merkzeichen aG festzustellen, wenn der behinderte Mensch außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften ist.

Eine derartige straßenverkehrsrechtliche Vorschrift ist die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) vom 26.01.2001 (BAnz S. 1419, berichtigt S. 5206, zuletzt in der ab 26.09.2015 geltenden Fassung vom 22.09.2015 (BAnz 2015, AT 25.09.2015 B5). Nach Art. 1 zu § 46 StVO, Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 VwV-StVO sind als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung insbesondere solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können, oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem zuvor genannten Personenkreis gleichzustellen sind.

Der Kläger gehört unstreitig nicht zu dem ausdrücklich genannten Personenkreis der außergewöhnlich Gehbehinderten. Er kann dem genannten Personenkreis auch nicht gleichgestellt werden. Für den Senat steht fest, dass seine Gehfähigkeit nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nicht nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in der VwV genannten Personen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann.

Bis zum 31.12.2008 waren die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (Teil 2 SGB IX), Ausgabe 2008 (AHP) heranzuziehen (BSG, Urteil vom 23.06.1993 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285; BSG, Urteil vom 09.04.1997 - 9 RVs 4/95 - SozR 3-3870 § 4 Nr. 19; BSG, Urteil vom 18.09.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 190, 205; BSG, Urteil vom 29.08.1990 - 9a/9 RVs 7/89 - BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 1). Seit 01.01.2009 ist an die Stelle der AHP die Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung; VersMedV) getreten.

Bislang konnte sich der Beklagte hinsichtlich der Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichen aG nach ständiger Rechtsprechung des Senats nicht auf die VG (Teil D Ziff. 3) berufen. Eine gesetzliche Ermächtigung für den Verordnungsgeber, die Grundsätze für die nach dem Schwerbehindertenrecht zu beurteilenden Nachteilsausgleiche durch Verordnung regeln zu können, enthielten nach Auffassung des Senats weder § 30 Abs. 17 BVG in der Fassung bis 30.06.2011 bzw. § 30 Abs. 16 BVG in der ab 01.07.2011 gültigen Fassung, der nicht auf die im Schwerbehindertenrecht im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche verweist (vgl. Dau, jurisPR SozR 4/2009), noch andere Regelungen des BVG. Eine Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche war bislang auch nicht in den einschlägigen Vorschriften des SGB IX vorhanden. Die Regelungen der VG zum Nachteilsausgleich aG (und G) waren damit nach ständiger Rechtsprechung des Senats mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig (vgl. Urteile des Senats vom 23.07.2010 – L 8 SB 3119/08 und vom 14.08.2009 – L 8 SB 1691/08, beide veröff. in juris und www.sozialgerichtsbarkeit.de; so auch der ebenfalls für Schwerbehindertenrecht zuständige 6. Senat des LSG Baden-Württemberg, vgl. stellvertretend Urteil vom 04.11.2010 – L 6 SB 2556/09, unveröffentlicht; offen lassend der 3. Senat, vgl. Urteil vom 17.07.2012 – L 3 SB 523/12 unveröffentlicht). Rechtsgrundlage waren daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu nach ständiger Rechtsprechung zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften.

Ein Betroffener ist danach gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 1. Halbsatz VwV-StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Hierbei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschrift nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG SozR 3-3250 § 69 Nr. 1 und Urteil vom 29.03.2007 – B 9a SB 1/06 R, juris).

Maßgebend ist nur die Beeinträchtigung des Gehvermögens. Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, sind nicht geeignet, eine außergewöhnliche Gehbehinderung zu begründen. Dies folgt unmittelbar aus den aufgeführten schwerwiegenden Gehbehinderungen der in Abschnitt II Nr. 1 der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO genannten Personen, mit denen eine Gleichstellung zu prüfen ist. Für die vorzunehmende Beurteilung sind folglich nur die Funktionsbeeinträchtigungen von Belang, die sich auf das Gehvermögen selbst auswirken (Urteil des erkennenden Senats vom 23.07.2010 – L 8 SB 3119/08, veröffentlicht in juris und www.sozialgerichtsbarkeit.de).

Zwischenzeitlich hat jedoch der Gesetzgeber mit Wirkung zum 15.01.2015 in § 70 Abs. 2 SGB IX eine Verordnungsermächtigung eingeführt und in § 159 Abs. 7 SGB IX eine Übergangsregelung getroffen (eingefügt durch Art. 1a des am 15.01.2015 in Kraft getretenen Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG vom 07.01.2015; BGBl. II S. 15).

§ 70 Abs. 2 SGB IX in der Fassung vom 07.01.2015 lautet nunmehr: Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des Grades der Behinderung und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Von der Verordnungsermächtigung ist bislang kein Gebrauch gemacht worden.

Nach der ebenfalls am 15.01.2015 in Kraft getretenen Übergangsregelung des § 159 Abs. 7 SGB IX in der Fassung vom 07.01.2015 gelten, soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 erlassen ist, die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes und der aufgrund des § 30 Abs. 16 des Bundesversorgungsgesetzes erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend.

Nach Auffassung des Senats hat der Gesetzgeber mit der Übergangsregelung des § 159 Abs. 7 SGB IX ab dem 15.01.2015 wirksam und mit hinreichend bestimmtem Gesetzeswortlaut eine ausreichende Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens aG geschaffen. Die so geschaffene Rechtsgrundlage für die Feststellung des Merkzeichens aG entfaltet jedoch keine Rückwirkung, sondern ist erst ab dem Datum des Inkrafttretens am 15.01.2015 wirksam (Urteil des Senats vom 22.05.2015 – L 8 SB 70/13, juris, www.sozialgerichtsbarkeit.de). Folglich stellt der Senat für die Zeit bis 14.01.2015 auf die von der Rechtsprechung für die Feststellung des Merkzeichens aG entwickelten Kriterien und für die Zeit ab dem 15.01.2015 auf die in den VG geregelten Kriterien ab.

Vorliegend führt ein Abstellen auf die VG oder die für die Feststellung des Merkzeichens aG entwickelten Rechtsprechungskriterien jedoch zu keinen anderem Ergebnis für den Kläger. Denn bei Anlegung dieser Maßstäbe kann nicht festgestellt werden, dass das Gehvermögen des Klägers außergewöhnlich herabgesetzt ist und er dem genannten Personenkreis gleichgestellt werden kann.

Darauf, dass der Kläger nach dem Befundbericht des Dr. M. vom 07.07.2016 lediglich eine Strecke von 20 Metern ohne Hilfsmittel und ohne Pause bewältigen kann, lässt sich das Merkzeichen aG nicht begründen. Auf die Gehstrecke ohne Hilfsmittel kommt es nicht an. Maßgeblich ist, ob ein Fortbewegen nur mit Hilfe einer anderen Person oder selbstständig auch unter Zuhilfenahme von Hilfsmitteln nur unter großer körperlicher Anstrengung möglich ist. Nach den Ausführungen des Gutachters Dr. M. war der Kläger jedenfalls in der Lage, den Weg von 250 Metern vom Parkplatz bis zum Untersuchungsraum unter Zuhilfenahme eines Rollators zurückzulegen. Dass er sich nach seinen Angaben während der Bewältigung dieser kurzen Wegstrecke mehr als achtmal hat hinsetzen müssen und die Wegstrecke nicht am Stück bewältigen konnte, begründet nicht die Voraussetzungen des Merkzeichens aG. Denn für die Bejahung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung reicht es nicht aus, dass der Kläger auf Fußwegstrecken nach einer bestimmten Strecke von etwa 20 Metern eine Pause machen muss, dann aber seinen Fußweg fortsetzen kann. Vielmehr kommt es insbesondere darauf an, ob er sich nur unter großen körperlichen Anstrengungen zu Fuß fortbewegen kann (BSG, Urteil vom 29.03.2007 – B 9a SB 1/06 R, juris). Dass die Bewältigung der Streckenabschnitte jeweils nur unter großen körperlichen Anstrengungen möglich wäre, lässt sich jedoch weder den Angaben des Klägers noch denen des Dr. M. entnehmen. Ebenso wenig gehen aus dem Gutachten des Dr. M. Anhaltspunkte für eine große körperliche Erschöpfung des Klägers nach Erreichen des Untersuchungszimmers hervor. Dieser Befund deckt sich mit dem von der Berichterstatterin dem Senat vermittelten Eindruck vom Kläger, den sie im Erörterungstermin gewonnen hatte. Der Kläger hatte auf Aufforderung der Berichterstatterin einen Gang mit Rollator demonstriert, den er nach etwa 5 m abgebrochen hatte, ohne dass hierfür ein Grund erkennbar geworden ist.

Der Senat kann beim Kläger auch keine Gesundheitsstörungen, die dessen Gehvermögen aufs Schwerste einschränken, feststellen.

Die beim Kläger bestehende Psoriasisarthritis wirkt sich auf das Gehvermögen des Klägers nicht aus. Diesbezüglich hat der Gutachter Dr. M. keine klinischen und laborchemischen Zeichen einer Aktivität gefunden. So hat er keine frischen oder älteren synovitischen Schwellungen großer oder kleiner Gelenke festgestellt. Auch typische Deformierungen einer entzündlichen rheumatischen Erkrankung hat der Gutachter nicht erhoben. Die Funktion der Beugesehnen war unauffällig. Auch der sachverständige Zeuge Dr. R. hat eine Aktivität der Psoriasisarthritis verneint und eine Auswirkung der Erkrankung auf das Gehvermögen nicht angegeben. Soweit der sachverständige Zeuge Dr. Daxer eine erhebliche Einschränkung des Gehvermögens aufgrund einer Psoriasisarthritis mitgeteilt hat, kann dem vor dem Hintergrund der fachärztlich rheumatologischen Einschätzungen nicht gefolgt werden, zumal der sachverständige Zeuge insoweit selbst auf seine fehlende medizinischen Sachkunde hingewiesen hat.

Auch sonstige funktionelle Einschränkungen im Bereich von Lendenwirbelsäule und unteren Extremitäten, die eine schwere Einschränkung des Gehvermögens begründen könnten, kann der Senat nicht feststellen. Nach dem Gutachten des Dr. M. waren keine schwerwiegenden Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule und der Beine feststellbar. Die Lendenwirbelsäule war zwar bei der Bewegungsprüfung jeweils auf die Hälfte des alterstypischen Bewegungsausmaßes eingeschränkt, der Finger-Boden-Abstand betrug 25 cm, die Entfaltbarkeit war aber bei einem Schober`schen Zeichen von 10/14 cm nicht wesentlich beeinträchtigt. Selbst, wenn die Bewegungsmaße nach dem Hinweis des Gutachters nur eingeschränkt verwertbar sind, weil der Kläger massiv gegengespannt hat, was für eine bessere Beweglichkeit spricht, genügt eine lediglich mittelgradig eingeschränkte Beweglichkeit nicht zur Begründung der Annahme einer aufs Schwerste eingeschränkten Gehfähigkeit. Auch eine auf Schäden der Lendenwirbelsäule beruhende Schmerzsymptomatik, die sich schwerwiegend auf das Gehvermögen auswirken könnte, kann der Senat nicht feststellen. So hat der Gutachter den Lasègue als eindeutig negativ angegeben, so dass eine radikuläre Ausstrahlung in die unteren Extremitäten nicht nachweisbar war. Auch Hinweise für sensible oder motorische Ausfälle hat der Gutachter bei Prüfung der Kalt-Warm-Unterscheidung, der Spitz-Stumpf-Unterscheidung, von Zahlenlesen sowie unter Berücksichtigung des Reflexstatus nicht festgestellt. Die Beweglichkeit der Beine war bei einer Hüftgelenksbeweglichkeit von 10/0/130° für Extension/Flexion beidseits, 40/0/30° für Abduktion/Adduktion beidseits, 40/0/45° für Außen-/Innenrotation beidseits, Bewegungsmaßen für die Kniegelenke von 5/0/140° für Extension/Flexion und Bewegungsmaßen für die oberen Sprunggelenke von 30/0/50° für Dorsalextension/Plantarflexion nicht eingeschränkt. Im Übrigen spricht auch die normal kräftig ausgeprägte Muskulatur ohne Anhaltspunkte für Atrophien von Muskelgruppen nicht für eine wesentliche Schonung der Beine und ein schwerstgradige eingeschränktes Gehvermögen.

Auch aufgrund einer Schmerzerkrankung kann der Senat die Voraussetzungen des Merkzeichens aG nicht feststellen. Insoweit ist es ohne wesentliche Bedeutung, dass der Gutachter Dr. M. das Vorliegen einer somatisch betonten Form einer Fibromyalgie wegen einer nicht vorhandenen Diskriminierungsfähigkeit verneint hat und vielmehr das Vorliegen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung für gegeben erachtet hat. Auf die genaue Diagnose kommt es insoweit nicht an, da die Beurteilung der Einschränkung des Gehvermögens ausschließlich anhand der feststellbaren Funktionsbeeinträchtigungen erfolgt. Dr. M. hat zwar angegeben, dass sich Gelenkschmerzen auf die Gehfähigkeit auswirkten. Allein das Bestehen von Gelenkschmerzen ohne das gleichzeitige Vorliegen von feststellbaren funktionellen Einschränkungen der Gelenke ist aber nicht geeignet das Merkzeichen aG zu begründen. Denn maßgebend für den Nachteilsausgleich aG sind nur die Beeinträchtigungen des Gehvermögens selbst (die auch auf schweren Herz- und Lungenkrankheiten beruhen können) und nicht Funktionsstörungen, die das Gehvermögen als solches nicht beeinträchtigen. Aus Gesundheitsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken, sondern lediglich bewirken, dass ein tatsächlich vorhandenes Gehvermögen, wie es bei dem Kläger vorliegt, nicht ausgenützt wird, kann eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht abgeleitet werden (vgl. Urteil des Senats vom 24.01.2014 – L 8 SB 2723/13, juris). Organische Gesundheitsstörungen, denen die beim Kläger vorliegenden Schmerzen zugeordnet werden könnten und die das Gehvermögen des Klägers unmittelbar beeinträchtigen, sind wie dargelegt nicht feststellbar. Die losgelöst von körperlichen Gesundheitsstörungen bestehenden Schmerzen sind damit nicht geeignet, die Voraussetzungen des Merkzeichens aG zu begründen. Zudem ist eine schmerzhafte Gehstrecke nicht mit einer außergewöhnlichen Gehbehinderung gleichzusetzen (Urteil des Senats vom 22.05.2015 – L 8 SB 70/13, juris).

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben mit den sachverständigen Zeugenauskünften und dem Gutachten des Dr. M. dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Denn der festgestellte medizinische Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens aG. Der Senat auch nicht gehalten, noch ein psychiatrisches Gutachten einzuholen. Denn wie dargestellt ist maßgeblich das körperliche Gehvermögen. Insbesondere eine psychogene Gangstörung ist nicht geeignet, das Merkzeichen aG zu begründen (Urteil des Senats vom 24.01.2014 a.a.O.), so dass der Sachverhalt insoweit nicht weiter aufzuklären war.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved