L 5 R 895/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 3104/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 5 R 895/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 10.02.2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1956 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Zuletzt war er von Juni 2006 bis 2008 als Hilfsarbeiter (Lagerist) versicherungspflichtig beschäftigt. Der Kläger ist arbeitslos mit Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II).

Am 07.04.2014 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsminderung. Er leide seit ca. 3 Jahren u.a. an Depressionen, chronischer Bronchitis und Wirbelsäulenbeschwerden und könne deswegen nicht mehr arbeiten.

Im (nach Untersuchung des Klägers am 01.09.2014 erstellten) Rentengutachten vom 03.09.2014 diagnostizierte der Facharzt für Innere Medizin, Psychotherapeutische Medizin, Rehabilitationswesen und Sozialmedizin Dr. W. (bei ausgewogener Stimmung ohne Antriebshemmung) eine leichte chronische Anpassungsstörung mit Dysthymie, Ängsten und Somatisierung, außerdem Adipositas Grad III sowie eine unbehandelte essentielle Hypertonie (sonstige Diagnosen: rezidivierende leichte chronische Lumbalgie, bekannte Zwerchfellhernie, vorbeschrieben leichtes Schlafapnoesyndrom, Ausschluss Narkolepsie, Ausschluss Epilepsie, chronische Bronchitis). Die Optionen der normalen Krankenbehandlung seien keinesfalls ausgeschöpft. Der Kläger könne leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts (unter qualitativen Einschränkungen) 6 Stunden täglich und mehr verrichten.

Mit Bescheid vom 21.10.2014 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Da der Kläger noch mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sein könne, liege Erwerbsminderung nicht vor (§ 43 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch, SGB VI).

Am 23.10.2014 erhob der Kläger Widerspruch. Er legte das Attest des Allgemeinarztes Dr. R. (Hausarzt) vom 12.11.2014 vor (beigefügt Attest des Nervenarztes Dr. H. vom 18.02.2014: Angst und depressive Reaktion gemischt; Anpassungsstörung des Sozialverhaltens); der Kläger könne (wegen ausgeprägter Adipositas und vor allem wegen einer gemischt depressiven-ängstlichen Störung) auch leichte Tätigkeiten nicht mehr verrichten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 28.11.2014 wies die Beklagte den Widerspruch zurück (zuvor beratungsärztliche Stellungnahme des Allgemeinarztes und Sozialmediziners Dr. L. vom 25.11.2014: auch Wegefähigkeit gegeben).

Am 08.12.2014 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG). Wegen seiner gesundheitlichen Einschränkungen könne er nicht mehr erwerbstätig sein.

Die Beklagte trat der Klage entgegen.

Das SG befragte behandelnde Ärzte. Dr. H. teilte im Bericht vom 26.03.2015 Diagnosen mit (Angst und depressive Reaktion gemischt, Anpassungsstörung des Sozialverhaltens; Letztbefund am 18.02.2014). Im Bericht vom 21.04.2015 gab Dr. H. ergänzend an, er habe den Kläger zweimal - am 04.09.2012 und (zuletzt) am 18.02.2014 - untersucht. Eine Aussage über die aktuelle Belastbarkeit des Klägers, insbesondere im Hinblick auf die Compliance der empfohlenen antidepressiven Medikation, sei nicht möglich. Vorgelegt wurde das Attest des Dr. R. vom 30.03.2015 (auch bei Stabilisierung der psychischen Situation leichte Tätigkeiten wegen des erheblichen Übergewichts (BMI über 40) nicht über 3 Stunden täglich zumutbar). Die Internistin und Lungenärztin Dr. R. führte im Bericht vom 30.07.2015 aus, der Kläger habe sich zuletzt im August 2012 vorgestellt; es liege (u.a.) ein leichtes (im August 2012 nicht behandlungsbedürftiges) Schlafapnoesyndrom vor.

Nachdem der Kläger ein weiteres Attest des Dr. R. vom 21.09.2015 (geschilderte Beschwerden bzgl. der eingeschränkten Gehstrecke glaubhaft nachvollziehbar) vorgelegt hatte, wies das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 10.02.2016 ab. Zur Begründung führte es aus, der Kläger könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig sei, weshalb Erwerbsminderung nicht vorliege (§ 43 Abs. 3 SGB VI); er sei auch wegefähig. Das gehe insbesondere aus dem Gutachten des Dr. W. schlüssig hervor. Höherfrequente regelmäßige Facharztbehandlungen fänden nicht statt. Auf nervenärztlichem Fachgebiet werde der Kläger neben geringfügiger Medikation und gelegentlichen Arztbesuchen nicht weitergehend behandelt; eine ambulante Psychotherapie oder stationäre Behandlungen fehlten. Mit Erkrankungen des psychiatrischen Fachgebiets sei eine rentenberechtigende (zeitliche) Leistungsminderung daher nicht zu begründen. Die abweichende Auffassung des Hausarztes Dr. R. könne nicht überzeugen. Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) stehe dem auf den allgemeinen Arbeitsmarkt breit verweisbaren Kläger nicht zu.

Am 03.03.2016 hat der Kläger Berufung eingelegt. Er bekräftigt sein bisheriges Vorbringen. Das SG hätte ein Gutachten erheben müssen. Sein Gesundheitszustand habe sich verschlechtert; Dr. R. habe das gegenüber dem SG dargestellt. Nach wie vor bestehe weiterer Aufklärungsbedarf.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 10.02.2016 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 21.10.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28.11.2014 zu verurteilen, ihm Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab 01.04.2014 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Mit Beschluss vom 16.06.2016 (- L 5 R 895/16 -) hat der Senat einen Antrag des Klägers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren abgelehnt.

Der Kläger hat abschließend das Attest des Dr. R. vom 03.08.2016 vorgelegt. Darin heißt es, für die Leistungsfähigkeit des Klägers sei die psychische Erkrankung mit Depression und Angsterkrankung maßgeblich. Der Schwerpunkt liege also auf psychiatrischem Fachgebiet. Mitentscheidend sei die Kombination mit den zusätzlichen Erkrankungen, wie der Adipositas per magna mit Hypoventilation und eines Nabel- und Zwerchfellbruchs. Der Kläger könne auch leichte Tätigkeiten nicht verrichten.

Die Beklagte hat die beratungsärztliche Stellungnahme des Dr. L. vom 18.08.2016 vorgelegt. Dr. R. beziehe sich erneut auf den Nervenarzt Dr. H. bzw. dessen Bericht vom 26.03.2015; der darin erwähnte Letztbefund vom 18.02.2014 sei bereits im Verwaltungsverfahren berücksichtigt worden. Weiterhin gebe es keinen maßgeblichen nervenärztlichen oder psychiatrischen Bericht, der eine höhergradige Leistungseinschränkung oder eine Therapienotwendigkeit belegen könnte. Es bleibe bei der bisherigen Leistungseinschätzung.

Die Beteiligten haben sich mit einer Senatsentscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze sowie die Akten der Beklagten, des SG und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG).

Die gem. §§ 143, 144, 151 SGG statthafte und auch sonst zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Die Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, ihm Rente wegen Erwerbsminderung zu gewähren. Er hat darauf keinen Anspruch.

Das Sozialgericht hat in seinem Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt, nach welchen Rechtsvorschriften (§§ 43, 240 SGB VI) das Rentenbegehren des Klägers zu beurteilen ist, und weshalb ihm danach Rente nicht zusteht. Der Senat nimmt auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Gerichtsbescheids und ergänzend auf die Gründe des Senatsbeschlusses vom 16.06.2016 (- L 5 R 895/16 -) über die Ablehnung des Prozesskostenhilfeantrags des Klägers Bezug (§ 153 Abs. 2 SGG). Ergänzend ist im Hinblick auf das Berufungsvorbringen der Beteiligten anzumerken:

Auch der Senat ist der Auffassung, dass der Kläger leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts (unter qualitativen Einschränkungen) mindestens 6 Stunden täglich verrichten kann, weshalb Erwerbsminderung nicht vorliegt (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Das geht aus dem Verwaltungsgutachten des Dr. W. vom 03.09.2014 überzeugend hervor. Dr. W. hat eine höhergradige psychiatrische Erkrankung (des depressiven Formenkreises) nicht diagnostiziert, vielmehr - bei ausgeglichener Stimmungslage und ohne Antriebshemmung - lediglich eine leichte chronische Anpassungsstörung mit Dysthymie, Ängsten und Somatisierung gefunden. Rentenberechtigende (zeitliche) Leistungseinschränkungen sind damit nicht zu begründen. Die abweichende Auffassung behandelnder Ärzte (Dr. R. und Dr. H., der im Bericht vom 21.04.2015 eine Aussage zur aktuellen Belastbarkeit des Klägers freilich nicht abgegeben hat) kann demgegenüber nicht überzeugen. Die vom Kläger vorgelegten Atteste dieser Ärzte enthalten ärztliche Meinungsäußerungen, jedoch keine aus Befunden nachvollziehbar begründete sozialmedizinische Leistungseinschätzung. Der Beratungsarzt der Beklagten Dr. L. hat außerdem zu Recht darauf hingewiesen, dass der Letztbefund des Dr. H. - der den Kläger auch nur zweimal (am 04.09.2012 und am 18.02.2014) untersucht hat - bei der Begutachtung durch Dr. W. berücksichtigt worden ist. Berichte über fachärztliche Behandlungen, die auf höhergradige Erkrankungen (insbesondere) des psychiatrischen Fachgebiets hinweisen könnten, sind nicht vorgelegt worden. Auch das hat Dr. L. zutreffend dargelegt.

Eine leitliniengerechte Depressionsbehandlung ist danach nicht dokumentiert. Wenn (tatsächlich) eine sozialmedizinisch (rentenrechtlich) beachtliche Erkrankung des depressiven Formenkreises vorliegt, finden - schon wegen des entsprechenden Leidensdrucks - regelmäßig angemessene und multimodale psychopharmakologische, psychotherapeutische bzw. psychiatrische Behandlungen (ambulant bzw. auch teilstationär und stationär) statt. Depressionserkrankungen führen auch nicht unbesehen zur Berentung. Sie sind vielmehr behandelbar und auch zu behandeln, bevor Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI angenommen werden kann (vgl. auch Senatsurteile vom 11.5.2011, - L 5 R 1823/10 -, nicht veröffentlicht, und vom 27.04.2016, - L 5 R 459/15 - und vom 25.05.2016, - L 5 R 4194/13 -, in juris m.w.N.; LSG Bayern, Urteil vom 18.03.2015, - L 19 R 495/11 -, in juris Rdnr. 64). Wie aus den Leitlinien der Beklagten für die sozialmedizinische Begutachtung (Stand August 2012, Leitlinien) hervorgeht, bedingt eine einzelne mittelgradige oder schwere depressive Episode in den meisten Fällen vorübergehende Arbeitsunfähigkeit und erfordert eine Krankenbehandlung, stellt jedoch in Anbetracht der üblicherweise vollständigen Remission keine erhebliche Gefährdung der Erwerbsfähigkeit dar. Eine ungünstige Prognose bezüglich der Erwerbsfähigkeit kommt danach (erst) in Betracht, wenn mehrere der folgenden Faktoren zusammentreffen: Eine mittelschwer bis schwer ausgeprägte depressive Symptomatik, ein qualifizierter Verlauf mit unvollständigen Remissionen, erfolglos ambulante und stationäre, leitliniengerecht durchgeführte Behandlungsversuche, einschließlich medikamentöser Phasenprophylaxe (z.B. Lithium, Carbamazepin, Valproat), eine ungünstige Krankheitsbewältigung, mangelnde soziale Unterstützung, psychische Komorbidität, lange Arbeitsunfähigkeitszeiten und erfolglose Rehabilitationsbehandlung (Leitlinien S. 101 f.). Eine Fallgestaltung dieser Art ist beim Kläger nicht festgestellt. Der Nervenarzt Dr. H. hat den Kläger nur zweimal - im Abstand von etwa 1,5 Jahren - untersucht; Dr. W. hat in seinem Gutachten vom 03.09.2014 dargelegt, dass die Optionen der normalen Krankenbehandlung keinesfalls ausgeschöpft sind. Rentenberechtigende (zeitliche) Leistungseinschränkungen sind schließlich auch mit den übrigen Erkrankungen des Klägers - etwa: Adipositas per magna, Nabel-/Zwerchfellbruch, leichtes Schlafapnoesyndrom - nicht zu begründen; ihnen ist ggf. durch qualitative Leistungseinschränkungen Rechnung zu tragen.

Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) kommt für den auf den allgemeinen Arbeitsmarkt breit verweisbaren Kläger nicht in Betracht.

Bei dieser Sachlage drängen sich dem Senat angesichts der vorliegenden Gutachten und Arztberichte weitere Ermittlungen, insbesondere weitere Begutachtungen, nicht auf.

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, weshalb die Berufung des Klägers erfolglos bleiben muss. Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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