L 10 R 3714/16

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 13 R 1527/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 3714/16
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 15.09.2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Gewährung höherer Altersrente für schwerbehinderte Menschen im sogenannten Zugunstenverfahren auch für die Zeit von Januar 2003 bis Dezember 2011.

Die am 27.02.1943 in R. geborene Klägerin wurde im Oktober 1945 verschleppt und am 18.11.1980 aus der Verschleppung entlassen. Noch an diesem Tag reiste sie in die Bundesrepublik Deutschland ein.

Auf ihren Antrag gewährte die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 31.03.2003 ab 01.03.2003 Altersrente für schwerbehinderte Menschen. Dabei wurden - entgegen dem Vormerkungsbescheid vom 17.07.1987 (Bl. 104 VA) - die Zeiten vom 01.01.1983 bis 22.06.1983 und vom 01.09.1984 bis 15.02.1986 als Anrechnungszeiten (Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug) und nicht als Ersatzzeiten (Vertreibung/Flucht) gewertet.

Auf einen Überprüfungsantrag der Klägerin stellte die Beklagte mit Bescheid vom 20.12.2011 die Altersrente ab 01.03.2003 neu fest und gewährte unter Anwendung des § 44 Abs. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) ab 01.01.2007 höhere Rente. Die genannten Ersatzzeiten blieben weiterhin unberücksichtigt.

Am 22.01.2016 wandte sich die Klägerin wegen der Rentenhöhe erneut an die Beklagte. Im Zuge der Überprüfung des Versicherungskontos nahm die Beklage mit Bescheid vom 04.02.2016 den Bescheid vom 20.12.2011 hinsichtlich der Rentenhöhe ab 01.03.2003 nach § 44 Abs. 1 SGB X zurück. Sie stellte die Altersrente neu fest und gewährte nunmehr unter Berücksichtigung der Zeiten vom 01.01.1983 bis 22.06.1983 und vom 01.09.1984 bis 15.02.1986 als Ersatzzeiten (erst) ab 01.01.2012 höhere Rente. Den auf eine Nachzahlung ab März 2003 gerichteten Widerspruch, weil ein Verschulden der Beklagten vorliege, wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 12.04.2016 zurück.

Am 12.05.2016 hat die Klägerin hiergegen Klage vor dem Sozialgericht Ulm erhoben. Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 15.09.2016 abgewiesen. Nach Rücknahme eines bestandskräftigen Bescheides bestehe Anspruch auf höhere Rentenleistungen für die Vergangenheit nur für einen Zeitraum bis zu vier Jahren. Dabei sei - entgegen der Meinung der Klägerin - unerheblich, in welchem Maß der Bescheid rechtswidrig sei und ob den Versicherungsträger an der Rechtswidrigkeit ein Verschulden treffe.

Gegen das am 27.09.2016 ihr zugestellte Urteil hat die Klägerin am 19.10.2016 Berufung eingelegt. Sie verfolgt ihr Begehren weiter.

Die Klägerin beantragt (sachdienlich gefasst),

unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Ulm vom 15.09.2016 den Bescheid der Beklagten vom 04.02.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.04.2016 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr höhere Altersrente für schwerbehinderte Menschen auch für den Zeitraum vom 01.03.2003 bis 31.12.2011 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten erster und zweiter Instanz und die vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 143, 144, 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Berufung, über die der Senat auf Grund des in Einverständnisses der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet.

Streitgegenständlich ist der Bescheid vom 04.02.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2016. Mit diesem stellte die Beklagte - insoweit bestandskräftig (vgl. § 77 SGG) - unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 20.12.2011 hinsichtlich der Rentenhöhe ab März 2003 die Altersrente für schwerbehinderte Menschen neu fest. Sie gewährte der Klägerin ferner - insoweit ebenfalls bestandskräftig - neben einer höheren laufenden Rente ab 01.03.2016 eine Nachzahlung für die Zeit vom 01.01.2012 bis 29.02.2016. Die Klägerin wendet sich gegen den Bescheid vom 04.02.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.04.2016 vielmehr nur insoweit, als die Beklagte eine Nachzahlung für die Zeit vom 01.03.2003 bis 31.12.2011 ablehnte. Zu Recht hat das Sozialgericht die hiergegen erhobene und statthafte kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage abgewiesen, weil ein Anspruch auf Zahlung höherer Rente für diesen Zeitraum nicht besteht.

Gemäß § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Die Bestimmung ermöglicht eine Abweichung von der Bindungswirkung sozialrechtlicher Verwaltungsakte. Nach § 44 Abs. 4 SGB X werden im Falle der Aufhebung eines Verwaltungsakts mit Wirkung für die Vergangenheit Sozialleistungen längstens für einen Zeitraum von vier Jahren vor der Rücknahme bzw. Antragstellung erbracht. Der Zeitpunkt der Rücknahme wird dabei von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird (§ 44 Abs. 4 S. 2 SGB X). Bei einer Rücknahme auf Antrag tritt bei der Berechnung des Zeitraums, für den die Leistungen rückwirkend zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag (§ 44 Abs. 4 S. 3 SGB X).

Zwar ergibt sich unter Berücksichtigung der Ersatzzeiten ab Rentenbeginn eine höhere Altersrente. Diese ist jedoch nach § 44 Abs. 4 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit nur für die Zeit vom 01.01.2012 bis 29.02.2016 zu gewähren.

Für die Berechnung der Vierjahresfrist ist nach § 44 Abs. 4 S. 3 SGB X vom Datum der Antragstellung der Klägerin am 22.01.2016 auszugehen. Die Frist beginnt nach § 44 Abs. 4 S. 2, 3 SGB X i.V.m. §§ 26 Abs. 1 SGB X, 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit dem letzten Tag des Vorjahres, also dem 31.12.2015. Sie endet vier Jahre vor diesem Zeitpunkt gemäß §§ 26 Abs. 1 SGB X, 188 Abs. 2 BGB mit dem ersten Tag des Jahres, also hier dem 01.01.2012. Die Berechnung der Vierjahresfrist durch die Beklagte war damit zutreffend.

Über die zeitliche Grenze des § 44 Abs. 4 SGB X hinaus kommt die rückwirkende Bewilligung einer höheren Rente nicht in Betracht. Insbesondere unterscheidet die zeitliche Beschränkung nicht danach, ob die Behörde ein Verschulden an der zunächst rechtswidrig zu niedrig gewährten Sozialleistung trifft oder nicht (BSG, Urteil vom 15.12.1992, 10 RKg 11/92 in SozR 3-5870 § 1 Nr. 2; BSG, Urteil vom 11.04.1985, 4b/9a RV 5/84 in SozR 1300 § 44 Nr. 17, auch zum Nachfolgenden), denn maßgebend ist alleine der Zeitpunkt des Antrags auf Rücknahme des rechtswidrigen Bescheides bzw. in Ermangelung eines Antrags der Rücknahmebescheid selbst. Schon dem Wortlaut der Vorschrift ist eine solche Einschränkung nicht zu entnehmen. Aus dem Umstand, dass das Verschulden des im Verwaltungsverfahren Beteiligten zwar nach § 44 Abs. 1 S. 2 SGB X rechtserheblich ist, im Rahmen des § 44 Abs. 4 SGB X jedoch nicht genannt ist, stellt damit kein Versehen, sondern eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers dar. Es handelt sich um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, deren erklärter einziger Sinn und Zweck es ist sicherzustellen, dass nach einer Zugunstenentscheidung Leistungen nicht über vier Jahre hinaus rückwirkend gewährt werden (BSG, Urteil vom 11.04.1985 a.a.O.).

Soweit die Klägerin auf ihren früheren Überprüfungsantrag Bezug nimmt, wurde dieser durch den Bescheid vom 20.12.2011 bestandskräftig erledigt. Auch für die Berechnung der Vierjahresfrist ist dieses frühere Zugunstenverfahren ohne Bedeutung. Denn die Frist des § 44 Abs. 4 SGB X ist ausschließlich nach dem Zeitpunkt des Rücknahmebescheides bzw. des hierzu führenden Antrags und nicht nach einem früheren, erledigten Zugunstenverfahren zu berechnen (BSG, Urteil vom 15.12.1992, 10 RKg 11/92 in SozR 3-5870 § 1 Nr. 2).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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