L 4 R 5185/15

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 10 R 738/14
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 5185/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 30. November 2015 aufgehoben und die Klage in vollem Umfang abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für die Zeit vom 1. Juni 2013 bis 31. Mai 2016.

Die am 1964 in Bosnien geborene Klägerin lernte in ihrer Heimat den Beruf der Offset-Druckerin. Nach ihrer Übersiedelung in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1992 arbeitete sie zunächst im Betrieb ihres Ehemannes (Erdbeerplantage). Von 2000 bis Ende 2004 war sie als Lagerarbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt. Ab Oktober 2004 war sie arbeitsunfähig erkrankt und im Anschluss – bis zuletzt – arbeitslos. Seit 1. April 2010 beträgt der Grad der Behinderung (GdB) der Klägerin 50.

Vom 18. November bis 16. Dezember 2004 absolvierte sie eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme wegen eines Bandscheibenvorfalls und einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung. Am 9. Januar 2006 beantragte die Klägerin erstmals die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte ließ sie durch Dr. H., Arzt für Allgemeinmedizin, am 26. Juli 2006 begutachten, der ein sechsstündiges Leistungsvermögen für überwiegend leichte Arbeiten annahm. Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag der Klägerin ab (Bescheid vom 23. August 2006). Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte ein Gutachten von Dr. S., Arzt für Innere Medizin, Neurologie und Psychiatrie, vom 12. Dezember 2006 ein. Dieser stellte bei seiner Untersuchung am 7. Dezember 2006 eine somatoforme Schmerzstörung, ein Bandscheibenvorfall und einen histrionischen Persönlichkeitsstiel fest und gelangte zu dem Ergebnis, dass die Klägerin noch leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen vollschichtig ausführen könne. Mit Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2007 wies die Beklagte daraufhin den Widerspruch der Klägerin zurück.

Am 10. November 2011 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte lehnte den Antrag zunächst wegen fehlender Mitwirkung der Klägerin ab (Bescheid vom 3. Januar 2012). Nachdem die Klägerin die geforderten Unterlagen vorgelegte hatte, ließ die Beklagte sie erneut begutachten. Die Gutachterin Dr. W. stellte im Gutachten vom 30. Mai 2012 eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und eine mittelgradige depressive Episode fest. Es liege eine chronische Konfliktsituation mit dem (seit 2005) geschiedenen Ehemann um das Sorgerecht und den Unterhalt für den gemeinsamen Sohn (geboren 1993). Es sei zu ehelicher Gewalt gekommen. Die Traumatisierungen habe sie noch nicht verarbeitet. Derzeit sei sie nicht in der Lage am Erwerbsleben teilzunehmen. Die Einschränkungen bestünden voraussichtlich bis Mai 2013. Die Beklagte bewilligte daraufhin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Dezember 2012 bis 31. Mai 2013 (Bescheid vom 30. Juli 2012).

Am 16. Mai 2013 beantragte die Klägerin die Weitergewährung der Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte ließ sie erneut nervenfachärztlich begutachten. Dr. Br., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, stellte in seinem Gutachten vom 26. August 2013 aufgrund der Untersuchung der Klägerin am 14. August 2013 folgende Diagnosen fest: Ganzkörperschmerz, als sogenannte Fibromyalgie geklagt und vorbeschrieben, ohne neurologische relevante Störungen, anhaltende somatoforme Schmerzstörung mit konversionsneurotischer Färbung, Verdacht auf anklingende agoraphobische Symptomatik, histrionische Persönlichkeitsstörung, unklares und bislang nicht behandeltes "synkopales Ereignis mit Zungenbiss" vor drei bis vier Wochen. Quantitative Leistungseinschränkungen konnte der Gutachter nicht feststellen. Im Gutachten heißt es, die genauere Festlegung etwaiger qualitativer Leistungseinschränkungen werde erst dann sinnvoll möglich sein, wenn eine bessere Mitarbeit der Klägerin vorliege. Soweit dadurch der Klärung Grenzen gesetzt seien, ginge dies zu Lasten der Klägerin, weil das beschriebene Kommunikationsmuster offenkundig in wesentlichen Anteilen nicht der willentlichen Kontrolle entzogen sei.

Mit Bescheid vom 26. September 2013 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag der Klägerin auf Weitergewährung der Rente wegen Erwerbsminderung ab. Nach dem Ergebnis der medizinischen Ermittlungen könne die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich unter den normalen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes erwerbstätig sein.

Den hiergegen von der Klägerin am 21. Oktober 2013 eingelegten Widerspruch wies die Widerspruchsstelle der Beklagten mit Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 2014 zurück.

Am 28. Februar 2014 erhob die Klägerin beim Sozialgericht Karlsruhe (SG) Klage und trug zur Begründung vor, sie leide nicht nur an einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung sowie einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, sondern auch an einer schweren Fibromyalgie und einem Bandscheibenschaden. Dies führe zu einer schmerzbedingten, massiven Bewegungseinschränkung der gesamten Wirbelsäule, insbesondere im Bereich der Lendenwirbelsäule. Ihr Leistungsvermögen liege damit nach wie vor bei unter drei Stunden.

Die Beklagte trat der Klage unter Vorlage der sozialmedizinischen Stellungnahmen der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. M. vom 25. September 2014 und des Nervenarztes Dr. L. vom 18. November 2014 entgegen entgegen.

Das SG befragte die die Klägerin behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen. Allgemeinmediziner Dr. We. übersandte im Juli 2014 Arztbriefe, Laborblätter und eine EKG-Ableitung. Orthopäde Dr. C. berichtete unter dem 6. Juli 2014, er habe im erfragten Zeitraum (seit Mai 2012) die Klägerin von Mai bis November 2013 wegen Schmerzen im Wirbelsäulenbereich behandelt. Die Beschwerden seien seit Jahren gleichbleibend mit zeitweiligen Schmerzspitzen. Die Beschwerden im Rahmen der Fibromyalgie und des autonomen Schmerzsyndroms seien schwer zu objektivieren. Hinzu komme die psychische Komponente, so dass er sich nicht vorstellen könne, dass die Klägerin sechs Stunden täglich arbeiten könne. Dies sei eine subjektive Einschätzung, da er das Problem nicht auf seinem Fachgebiet sehe, sondern eher im Bereich der psychosomatischen Medizin. Psychiater Sc. teilte am 31. Juli 2014 mit, die Klägerin befinde sich seit 2005 wegen ängstlich-depressiver Affekte und einem somatoformen Schmerzsyndrom in seiner Behandlung. Eine leidensgerechte Tätigkeit könne die Klägerin aus seiner Sicht höchstens bis zu fünf Stunden täglich ausüben. Entscheidend sei, dass die strukturelle und chronifizierte Erkrankungsgesamtheit keinen Adaptionsspielraum mehr ergebe.

Das SG beauftragte sodann Dr. N. mit der Erstattung eines neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachtens. Im Gutachten vom 15. Mai 2015 nennt Dr. N. die Diagnosen anhaltende somatoforme Schmerzstörung, mittelgradige depressive Episode bei rezidivierender depressiver Störung auf dem Boden einer dependenten, ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstruktur. Die depressive Episode sei mit einem Antriebsdefizit, Freudlosigkeit, Interessenverlust, sozialem Rückzugsverhalten und einer ausgeprägten depressiven Herabstimmung mit Affektlabilität verbunden. Die somatische Schmerzstörung und die depressive Störung verstärkten sich in ihrem Ausprägungsgrad wechselwirkend. Die Klägerin befinde sich nun alle sechs Wochen in psychiatrischer Behandlung und nehme seit etwa einem Jahr das Antidepressivum Mirtazapin ein. Eine kontinuierliche Psychotherapie sei bislang nicht erfolgt. Ein stationärer Aufenthalt habe nur einmalig in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik G. im Jahr 2011 stattgefunden. Eine stationäre Behandlung sei dingend indiziert. Auch der von der Klägerin geschilderte Tagesablauf zeige, dass die Schmerzen die Alltagsbewältigung einschränkten. Im Rahmen der Plausibilitäts- und Konsistenzprüfung hätten sich keine eindeutigen Hinweise auf ein übertriebenes und nicht authentisches Ausdrucksverhalten bzw. eine histrionische Persönlichkeitsstrukturierung ergeben. Das Leistungsvermögen der Klägerin sei sowohl qualitativ als auch quantitativ eingeschränkt. Leichte Arbeiten könne sie in überwiegend sitzender Körperhaltung und unter Vermeidung von Zwangshaltungen für die Wirbelsäule, häufiges Bücken, Treppensteigen, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, in Kälte und Nässe, unter Zeitdruck und Stress, Akkord-, Fließband-, Schicht- und Nachtschichtarbeiten sowie Arbeiten mit Publikumsverkehr und unter nervlicher Belastung aktuell noch etwa vier Stunden pro Arbeitstag verrichten. Einschränkungen des Durchhaltevermögens, wie sie sich auch in der Tagesbewältigung ausdrückten, ergäben sich insbesondere im Hinblick auf das stärker ausgeprägte Antriebsdefizit im Rahmen der depressiven Störung und auch von Seiten der komorbiden Schmerzstörung. Da Dr. Br. die von Dr. Wi. erstmals diagnostizierte mittelgradige depressive Episode nicht bestätigt habe, sei von einer rezidivierenden depressiven Störung auszugehen. Im Hinblick auf die Schmerzstörung sei davon auszugehen, dass die Gesundheitsstörung seit Antragstellung auf Weitergewährung bestünde. Betriebsunübliche Pausen seien nicht erforderlich. Die Wegefähigkeit der Klägerin sei nicht eingeschränkt. Mit einer Besserung in etwa einem Jahr sei zu rechnen, wenn die Klägerin eine stationäre Behandlung in einer psychosomatisch-schmerztherapeutisch ausgerichteten Klinik durchführe und sich daran eine höherfrequente ambulante Psychotherapie anschließe. Der Leistungsbeurteilung von Dr. Br. könne er sich nicht anschließen, da er zusätzlich eine stärker ausgeprägte depressive Episode diagnostiziert habe, die im Zusammenhang mit der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung eine quantitative Leistungseinschränkung bzw. Einschränkung des Durchhaltevermögens nach sich ziehe.

Zum Sachverständigengutachten von Dr. N. legte die Beklagte die sozialmedizinische Stellungnahme von Internist Dr. Gä. vom 23. Juni 2015 vor. Der Leistungseinschätzung des Sachverständigen könne nicht zugestimmt werden. Im Gutachten fehle die Objektivierung der angenommenen schweren somatoformen Schmerzstörung. Die subjektive Darstellung der Klägerin sei überproportional in die gutachterlichen Schlussfolgerungen eingeflossen. Die Schmerzmedikation (regelmäßig eine Tablette Ibuprofen 800 pro Tag) spreche nicht für eine schwere Schmerzstörung. Die Behandlung in einer Schmerzambulanz habe bislang nicht stattgefunden. Auf das Gutachten von Dr. Br. gehe der Sachverständige nur unzureichend ein. Psychometrische Untersuchungen seien nicht zum Einsatz gekommen, weil der Sachverständige Dr. N. eine Überforderung der Klägerin angenommen habe. Vor dem Hintergrund der Ausführungen im Gutachten von Dr. Br. sei aber auch eine mangelnde Mitarbeit denkbar.

Mit Gerichtsbescheid vom 30. November 2015 hob das SG den Bescheid der Beklagten vom 26. September 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Januar 2014 auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin für die Zeit vom 1. Juni 2013 bis 31. Mai 2016 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren. Im Übrigen wies es die Klage ab. Zur Begründung stützte sich das SG auf das Sachverständigengutachten von Dr. N ... Aufgrund der überzeugenden Ausführungen von Dr. N. sei die Leistungseinschätzung von Dr. Br. nicht nachvollziehbar. Unter Berücksichtigung des Gutachtens von Dr. W. sei vom Bestehen der Gesundheitsstörungen auch zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Weiterzahlung der Rente auszugehen. Gestützt werde das Ergebnis von den sachverständigen Zeugenaussagen des Dr. C. und des Psychiaters Sc ... Aufgrund der im Sachverständigengutachten von Dr. N. geschilderten Besserungsaussicht sei die Erwerbsminderungsrente bis zum 31. Mai 2016 zu befristen.

Gegen den ihr am 4. Dezember 2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 16. Dezember 2015 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt und unter Vorlage der sozialmedizinischen Stellungnahme des Dr. Gä. vom 9. Dezember 2015 zur Begründung vorgetragen, das SG habe sich nicht mit den Einwendungen des Dr. Gä. gegen das Sachverständigengutachten von Dr. N. auseinandergesetzt.

Die Beklagte beantragt (sachgerecht gefasst),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 30. November 2015 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des SG für zutreffend und das Sachverständigengutachten von Dr. N. für überzeugend.

Der Senat hat von Amts wegen Prof. Dr. Sch., Chefarzt der Klinik Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Psychiatrischen Zentrum Nordbaden, mit der Erstattung eines Sachverständigengutachten beauftragt. Im Gutachten vom 12. April 2017 stellt der Sachverständige die Diagnosen Dysthymia und anhaltende somatoforme Schmerzstörung. Darüber hinaus sei eine nicht-krankheitswerte histrionische Persönlichkeitsakzentuierung festzustellen. Es hätten sich Hinweise auf nicht unerhebliche negative Antwortverzerrungen im Sinne der Darstellung von Beschwerden, die so nicht oder nicht in dem demonstrierten Ausmaß vorlägen, ergeben. Hinsichtlich der angegebenen Gedächtnisstörung hätten sich Hinweise auf unplausible Beschwerdeangaben und in einem spezifischen Test der Nachweis von Antwortmanipulation ergeben. Es sei nicht grundsätzlich auszuschließen, dass bei der Klägerin gewisse kognitive Funktionsdefizite bestünden. Vor dem Hintergrund der sozialmedizinisch relevanten Verdeutlichungstendenz und der Antwortmanipulation sei der Nachweis solcher Defizite aber nicht zu erbringen. Die Gesundheitsstörungen der Klägerin führten zu einer Minderung der psychovegetativen Stressbelastbarkeit. Vor diesem Hintergrund seien Tätigkeiten mit erhöhtem Zeitdruck – etwa Akkordarbeit – oder Tätigkeiten mit unphysiologischen vegetativen Belastungen (z.B. Nachtarbeit) zu vermeiden. Aufgrund der durch die somatoforme Schmerzstörung erhöhten Schmerzsensitivität seien Tätigkeiten mit besonderen körperlichen Belastungen zu vermeiden, somit körperlich schwere Arbeiten mit Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten von mehr als 10 kg, ebenso Tätigkeiten mit Zwangshaltungen der Wirbelsäule, auch Überkopfarbeiten. Auch seien Tätigkeiten mit erhöhter kognitiver Beanspruchung – etwa Tätigkeiten mit erhöhter Verantwortung für Personen oder Sachwerte, Tätigkeiten mit Kontrollfunktion und Notwendigkeit der Intervention im Indikationsfall, Tätigkeiten an gefährlichen laufenden Maschinen etc. – zu vermeiden. Eine Minderung des zeitlichen Leistungsvermögens lasse sich mit den Gesundheitsstörungen der Klägerin dagegen nicht begründen. Ein geminderter Antrieb oder eine pathologisch erhöhte Ermüdbarkeit hätten sich im Rahmen der mehrstündigen Explorationssitzung nicht gezeigt. Weiterhin seien keine solchen Erkrankungen festzustellen gewesen, die die Ausdauerleistungsfähigkeit signifikant beeinträchtigten. Die Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt. Besondere Arbeitspausen seien nicht erforderlich. Die Leistungseinschränkungen ließen sich mehrjährig zurückverfolgen. Die Leistungsbeurteilung von Dr. S. werde geteilt. Die Gesundheitsstörungen der Klägerin seien grundsätzlich einer Behandlung zugänglich. Es lägen auch Hinweise dafür vor, dass die Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft seien. Allerdings sei die Eigenmotivation und Mitwirkungsbereitschaft der Klägerin – jedenfalls während des laufenden Rentenverfahrens – fraglich. Ob begründete Therapieaussichten für eine mehrdimensionale Behandlung bestünden, könne schließlich erst nach Abschluss der rechtlichen Auseinandersetzung beurteilt werden. Der Leistungseinschätzung von Dr. N. könne nicht gefolgt werden. Zwar sei die Feststellung einer mittelgradigen depressiven Episode im Sachverständigengutachten von Dr. N. im Wesentlichen in Einklang zu bringen mit den erhobenen psychischen Befunden. Es habe aber keine kritische Auseinandersetzung mit den von der Klägerin vorgebrachten Beschwerden stattgefunden, obwohl dies erforderlich gewesen sei. Dies sei essentieller Bestandteil von Begutachtungen der Leistungsfähigkeit.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, weil die Berufung laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG). Der Senat konnte über die Berufung gemäß § 124 Abs. 2 SGG durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben.

2. Die Berufung der Beklagten ist begründet. Das SG hat die Beklagte zu Unrecht unter Aufhebung des Bescheids vom 26. September 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Januar 2014 verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Juni 2013 bis zum 31. Mai 2016 zu gewähren. Denn der Bescheid der Beklagten vom 26. September 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Januar 2014 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller (oder teilweiser) Erwerbsminderung im streitgegenständlichen Zeitraum.

Soweit die Klägerin ursprünglich die Gewährung einer Erwerbminderungsrente unbefristet und damit über den 31. Mai 2016 hinaus beantragt hat, ist der erstinstanzliche Gerichtsbescheid, mit dem die Klage im Übrigen abgewiesen wurde, rechtskräftig geworden, weil die Klägerin den Gerichtsbescheid nicht mit der Berufung angegriffen hat.

a) Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch ( SGB VI) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze (insoweit mit Wirkung vom 1. Januar 2008 geändert durch Artikel 1 Nr. 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20. April 2007 (BGBl. I, 554), wenn sie voll bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

Bei einem Antrag, eine befristet bewilligte Rente wegen Erwerbsminderung weiterzuzahlen, bedarf es keines Nachweises, dass eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen im Sinne von § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gegenüber denen, die der Bewilligung zugrundelagen, eingetreten ist. Die Entscheidung, ob dem Versicherten nach Ablauf des Bewilligungszeitraums der Rente wegen Erwerbsminderung auf Zeit zusteht, ist nicht bloß die Verlängerung einer früher bereits dem Grunde nach anerkannten Sozialleistung, sondern stellt die eigenständige und vollinhaltlich erneute ("wiederholte") Bewilligung der beantragten Rente dar. Bei der Zuerkennung einer Rente auf Zeit richtet sich der Wille des Versicherungsträgers von vornherein nur auf die Gewährung von Rente für diese Zeit und es fehlt infolgedessen für die darüber hinausreichende Zeit an jeder für den Versicherten positiven Regelung durch den Versicherungsträger (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 26. Juni 1990 – 5 RJ 62/89 – juris, Rn. 17).

b) Ausgehend davon kann die Klägerin für die Zeit vom 1. Juni 2013 bis zum 31. Mai 2016 keine Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI beanspruchen.

(1) Die Klägerin litt im streitgegenständlichen Zeitraum an einer somatoformen Schmerzstörung, einer Dysthymia und einer nicht-krankheitswerten histrionischen Persönlichkeitsakzentuierung. Dies entnimmt der Senat dem schlüssigen und nachvollziehbaren Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Sch ...

Dass darüber hinaus eine (zumindest) mittelgradige depressive Episode vorlag, ist nicht nachgewiesen. Einen entsprechenden psychischen Befund, der eine depressive Episode begründen könnte, hat der Sachverständige Prof. Dr. Sch. nicht feststellen können. Bei der Begutachtung der Klägerin zeigte sich eine etwas herabgeminderte Stimmungslage. Der Antrieb war situationsadäquat, es zeigte sich weder eine Antriebshemmung noch motorische Unruhe. Eine formalgedankliche Störung ergab sich ebenso wenig wie belastbare Befunde für kognitive Defizite. Die von der Klägerin angegebenen schwersten Gedächtnisstörungen waren nicht plausibel. Zwar konnte der Sachverständige nicht ausschließen, dass tatsächlich gewisse kognitive Defizite vorliegen. Aufgrund der ausgeprägten Beschwerdeverdeutlichung der Klägerin und der nachgewiesenen Antwortmanipulation bei der testpsychologischen Beschwerdevalidierung fehlt es aber an einem entsprechenden Nachweis solcher Defizite. Zweifel gehen nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast zu Lasten der Klägerin.

Vor diesem Hintergrund überzeugen die Ausführungen des Sachverständigen Dr. N. nicht. Er diagnostizierte eine mittelgradige depressive Episode, ohne sich mit den von der Klägerin vorgebrachten Beschwerden kritisch auseinanderzusetzen. Er führt zwar aus, dass im Rahmen einer Plausibilitäts- und Konsistenzprüfung sich keine eindeutigen Hinweise auf ein übertriebenes und nicht authentisches Ausdrucksverhalten ergeben hätten. Wie und anhand welcher Kriterien er diese Prüfung durchgeführt hat, wird jedoch nicht dargelegt. Psychometrische Untersuchungen – wie sie von Prof. Dr. Sch. vorgenommen wurde – hat Dr. N. nicht durchgeführt. Die von der Klägerin mitgeteilten Gedächtnisstörungen werden ohne explizite Auseinandersetzung mit der fraglichen Authentizität der Angaben in den Befund übernommen. Aus der Aktenlage ergaben sich aber eindeutige Hinweise auf eine unzureichende Mitarbeit der Klägerin in der Begutachtungssituation. Der Gutachter im Verwaltungsverfahren Dr. Br. wies in seinem Gutachten explizit darauf hin. Die Notwendigkeit einer eingehenden Validierung der Angaben der Klägerin musste sich Dr. N. deshalb aufdrängen. Ohne entsprechende Prüfung sind die Ausführungen von Dr. N. für den Senat nicht in sich schlüssig und nachvollziehbar.

(2) Die festgestellten Gesundheitsstörungen schränken das berufliche Leistungsvermögen der Klägerin nur in qualitativer, nicht aber in zeitlicher Hinsicht ein.

Körperlich schwere Arbeiten mit Heben, Tragen oder Bewegen von Lasten von mehr als 10 kg, Tätigkeiten mit Zwangshaltungen der Wirbelsäule, Überkopfarbeiten, Tätigkeiten mit erhöhtem Zeitdruck, etwa Akkordarbeit, oder Tätigkeiten mit unphysiologischen vegetativen Belastungen (z.B. Nachtarbeit), Tätigkeiten mit erhöhter kognitiver Beanspruchung, etwa Tätigkeiten mit erhöhter Verantwortung für Personen oder Sachwerte, Tätigkeiten mit Kontrollfunktion und Notwendigkeit der Intervention im Indikationsfall, Tätigkeiten an gefährlichen laufenden Maschinen etc. sind zu vermeiden. Dies entnimmt der Senat dem schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. Sch ...

Der Senat konnte sich dagegen nicht die Überzeugung verschaffen, dass eine quantitative Leistungseinschränkung von unter sechs Stunden arbeitstäglich vorliegt. Auch insoweit folgt der Senat dem Sachverständigengutachten von Prof. Dr. Sch., der nachvollziehbar darlegt, dass sich eine relevante Antriebsminderung oder eine erhöhte Ermüdbarkeit im Rahmen der mehrstündigen Begutachtung nicht zeigten. Die von ihm festgestellten Erkrankungen lassen insgesamt nicht auf eine signifikante Beeinträchtigung der Ausdauerleistungsfähigkeit der Klägerin im streitigen Zeitraum schließen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Dysthymia als auch in Bezug auf die somatoforme Schmerzstörung, zumal die therapeutischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft waren. Die Klägerin befand sich weder in schmerztherapeutischer noch in psychotherapeutischer Behandlung. Auch die damals angegebene Schmerzmedikation spricht nicht für das Vorliegen einer schweren Schmerzstörung.

Bestätigt wird die Leistungseinschätzung vom Gutachter im Verwaltungsverfahren Dr. Br ... Die abweichende Beurteilung von Dr. N. überzeugt vor dem Hintergrund der unkritischen Übernahme der Angaben der Klägerin nicht (s.o.). Auch die Einschätzungen der behandelnden Ärzte der Klägerin überzeugen den Senat nicht, weil nicht erkennbar ist, dass die Aggravationstendenzen der Klägerin berücksichtigt wurden. Insgesamt ist damit eine zeitliche Leistungseinschränkung im fraglichen Zeitraum nicht nachgewiesen.

(3) Ob der Klägerin ein Arbeitsplatz vermittelt werden kann oder nicht, ist für den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nicht erheblich. Die jeweilige Arbeitsmarktlage ist nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Maßgebend ist, ob die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Restleistungsvermögen – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – in der Lage ist, zumindest körperlich leichte Tätigkeiten arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten, sie also in diesem zeitlichen Umfang unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein kann, wovon im Regelfall ausgegangen werden kann (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 – B 13 R 78/09 R – juris, Rn. 31). Dies bejaht der Senat wie zuvor dargelegt.

(4) Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegen nicht vor. In einem solchen Fall kann der Arbeitsmarkt selbst bei einem noch vorhandenen sechsstündigen Leistungsvermögen ausnahmsweise als verschlossen gelten (siehe – auch zum Folgenden – etwa Urteil des Senats vom 21. November 2014 – L 4 R 4797/13 – nicht veröffentlicht). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass eine Verweisung auf noch vorhandenes Restleistungsvermögen nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten.

Dies ist hier nicht der Fall. Die qualitativen Leistungseinschränkungen der Klägerin (siehe oben) sind nicht als ungewöhnlich zu bezeichnen. Darin ist weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zu sehen. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegt nur vor, wenn bereits eine erhebliche (krankheitsbedingte) Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt. Hierzu können – unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände – beispielsweise Einäugigkeit, Einarmigkeit und Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit sowie besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz zählen (vgl. BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – juris, Rn. 28 m.w.N.). Keine dieser Fallkonstellationen ist hier gegeben, insbesondere besteht keine Notwendigkeit zusätzlicher, betriebsunüblicher Pausen. Entsprechendes ergibt sich aus keinem Gutachten.

(5) Auch die Wegefähigkeit der Klägerin ist gegeben. Neben der zeitlich ausreichenden Einsetzbarkeit eines Versicherten am Arbeitsplatz gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle in zumutbarer Zeit aufsuchen zu können. Das BSG hat dieses Vermögen nur dann für gegeben erachtet, wenn es dem Versicherten möglich ist, Entfernungen von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, weil davon auszugehen ist, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen (zum Ganzen z.B. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1991 – 13/5 RJ 73/90 – juris, Rn. 16 ff.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 21/10 R – juris, Rn. 21 f.; Urteil vom 12. Dezember 2011 – B 13 R 79/11 R – juris, Rn. 19 f.). Die Klägerin ist in der Lage, eine Gehstrecke von 500 Metern viermal in weniger als 20 Minuten täglich zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Aus den ärztlichen Äußerungen ergeben sich keine Befunde, die für eine unter den genannten Maßstäben eingeschränkte Gehfähigkeit der Klägerin sprechen. Keiner der Gutachter und Sachverständigen schildert eine relevante Beeinträchtigung der Wegefähigkeit der Klägerin.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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