L 9 AS 2336/17 ER-B

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
9
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 8 AS 987/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 AS 2336/17 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Ulm vom 19. Mai 2017 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller auch im Beschwerdeverfahren.

Der Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung wird abgelehnt.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Ulm (SG) vom 19.05.2017 ist zulässig, aber nicht begründet.

Das SG hat den Antragsgegner zu Recht verpflichtet, den Antragstellern im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes vorläufig vom 03.04.2017 bis längstens 31.07.2017 Arbeitslosengeld II zu bewilligen.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht der Fall des Absatzes 1 des § 86b SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Vorliegend kommt nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG in Betracht. Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweggenommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz), ist von diesem Grundsatz eine Abweichung nur dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht mehr gutzumachende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Eine solche Fallgestaltung ist anzunehmen, wenn es – wie hier – im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes um die Sicherung des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums während eines Verfahrens geht. Ist während des Hauptsacheverfahrens das Existenzminimum nicht gedeckt, kann diese Beeinträchtigung nachträglich nicht mehr ausgeglichen werden, selbst wenn die im Rechtsbehelfsverfahren erstrittenen Leistungen rückwirkend gewährt werden (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, NVwZ 2005, 927, 928). Die Gerichte müssen in solchen Fällen, wenn sie sich an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren wollen, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29.07.2003, BvR 311/03, Juris). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind nach der Rechtsprechung des BVerfG (Kammerbeschluss vom 12.05.2005, 1 BvR 569/05, Juris) die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen. Dies gilt ganz besonders, wenn es um die Wahrung der Würde des Menschen geht. Eine Verletzung dieser grundgesetzlichen Gewährleistung, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, haben die Gerichte zu verhindern. Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende dienen der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens. Diese Sicherstellung ist eine verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, die aus dem Gebot zum Schutze der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot folgt. Diese Pflicht besteht unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit. Hieraus folgt, dass bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums, soweit es um die Beurteilung der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller geht, nur auf die gegenwärtige Lage abgestellt werden darf. Umstände der Vergangenheit dürfen nur insoweit herangezogen werden, als sie eindeutige Erkenntnisse über die gegenwärtige Lage des Anspruchstellers ermöglichen. Dies gilt sowohl für die Feststellung der Hilfebedürftigkeit selbst als auch für die Überprüfung einer Obliegenheitsverletzung nach §§ 60, 66 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), wenn über den Anspruch anhand eines dieser Kriterien entschieden werden soll. Aus diesen Gründen dürfen existenzsichernde Leistungen nicht auf Grund bloßer Mutmaßungen verweigert werden, insbesondere wenn sich diese auf vergangene Umstände stützen (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 , a. a. O., Juris).

Das SG hat in dem angefochtenen Beschluss den zugrunde liegenden Sachverhalt ausführlich dargelegt, die Grundlagen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zutreffend rechtlich gewürdigt und im Rahmen der Folgenabwägung zu Recht die existenzsichernden Leistungen zugesprochen. Der Senat nimmt auf die Ausführungen des SG vollumfänglich Bezug und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer erneuten Darstellung weitgehend ab (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG).

Lediglich ergänzend und mit Blick auf die Beschwerdebegründung des Antragsgegners weist der Senat darauf hin, dass auch aus seiner Sicht ohne weitere Beweiserhebung nicht zu klären ist, ob den Antragstellern über die ihnen derzeit zustehenden Freibeträge hinaus Vermögen zur Verfügung steht, das den Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II ausschließt. Maßgeblich ist insoweit aufzuklären, ob der Betrag in Höhe von 12.016,53 EUR als verwertbares Vermögen der Antragsteller anzusehen ist. Der am 11.05.2016 sichergestellte Bargeldbetrag von 21.050,00 EUR wurde in zwei Teilbeträgen (4.853,79 EUR und 4.179,68 EUR) im Hinblick auf eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Hauptzollamtes Heilbronn an dieses angewiesen. Der Restbetrag von 12.016,53 EUR wurde zunächst auf das Konto des damaligen Prozessbevollmächtigten angewiesen und von dort auf das Konto des Vaters der Antragstellerin Ziff. 2 überwiesen (vgl. Kontoauszug Bl. 28 der SG-Akte). Es bestehen daher derzeit Zweifel daran, ob oder inwieweit dieser Betrag als Vermögen der Antragsteller anzusehen ist. Der Senat verkennt nicht, dass der Antragsteller Ziff. 1 hinsichtlich der Herkunft des Geldes unterschiedliche Angaben gemacht hat. Nachdem er unmittelbar bei der Hausdurchsuchung und Sicherstellung angegeben hatte, es handle sich um Geldgeschenke anlässlich der Hochzeit, hat er später vorgetragen, 19.000,00 EUR seien für den Schwiegervater während einer Urlaubsabwesenheit im Tresor verwahrt worden, weitere 2.050,00 EUR, die im Kinderbett gefunden worden waren, dienten der Erstausstattung des Kindes. Eine abschließende Klärung wird ohne Einvernahme des Vaters der Antragstellerin Ziff. 2 nicht möglich sein. Auch wird im Rahmen des Hauptsacheverfahrens zu klären sein, ob und inwieweit die Verwandten und Freunde, die den Antragstellern nach ihren Angaben (Bl. 37/40 der SG-Akte) Geld überlassen haben, dieses auch zurückfordern. Weiter ist die Angabe des Antragstellers, er habe die Goldmünzen für 250,00 EUR verkauft, zu prüfen. Kein weiterer Klärungsbedarf dürfte hinsichtlich eines weiteren Kfz bestehen. Soweit der Antragsgegner Nachweise zum Kfz U. verlangt, dürfte dies aus Sicht des Senats nicht erforderlich sein. Die Antragsteller haben zwar auf dem Formular "VM" am 28.02.2017 dieses Kennzeichen für ihr Kraftfahrzeug der Marke Peugeot angegeben; alle anderen vorgelegten Unterlagen hinsichtlich des Kfz (Versicherungsschein, Zulassungsbescheinigung) beziehen sich aber auf ein Fahrzeug mit dem Kennzeichen U., ebenfalls der Marke Peugeot, so dass es sich bei den Angaben im Formular VM um ein Schreibversehen handeln dürfte. Eine vollständige Aufklärung des Sachverhalts ist auch nach Auffassung des Senats im Rahmen des vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahrens und der damit verbundenen zeitlichen Verzögerung nicht möglich. Der Sachverhalt ist nach Überzeugung des Senats auch noch nicht abschließend geklärt, was aber den Ermittlungen im Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss.

Das SG hat daher zu Recht eine Folgenabwägung vorgenommen und im Rahmen derer zutreffend einen (vorläufigen) Leistungsanspruch angenommen.

Die Beschwerde war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Dem hilfsweise gestellten Antrag, die Vollstreckung aus dem angegriffenen Beschluss gemäß § 199 Abs. 2 SGG auszusetzen, über den der Senat entscheiden kann, war vor dem Hintergrund, dass mit diesem Beschluss eine abschließende Entscheidung im Eilverfahren getroffen worden ist, nicht zu entsprechen.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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