L 11 KR 763/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 6 KR 2592/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 KR 763/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Versicherte nach § 5 Abs 1 Nr 2 SGB V erhalten nach § 47b Abs 1 Satz 1 SGB V Krankengeld in Höhe des Betrages des Arbeitslosengeldes, den sie zuletzt bezogen haben. Erhöht sich der Betrag des zuletzt bezogenen Arbeitslosengeldes nachträglich, weil die Bundesagentur für Arbeit einem Antrag des Versicherten gemäß § 44 SGB X stattgegeben hat, führt dies auch zu einem höheren Krankengeldanspruch des Versicherten. War das Krankengeld des Versicherten bereits bestandskräftig festgestellt, ist es auf der Grundlage von § 44 SGB X neu festzusetzen.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 08.02.2017 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungsverfahren zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im Wege des Zugunstenverfahrens über die Höhe des dem Kläger zustehenden Krankengelds (Krg) in den Zeiträumen 13.05. bis 01.06.2014 und 30.12.2014 bis 25.09.2015.

Der 1954 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert, zuletzt vor den streitigen Zeiträumen aufgrund des Bezugs von Arbeitslosengeld. Dieses wurde dem Kläger für die Zeit vom 01.04. bis 12.05.2014 und 02.06. bis 29.12.2014 iHv zunächst 63,26 EUR kalendertäglich bewilligt. Auf der Grundlage dieses Leistungssatzes bezog der Kläger Krg für den Zeitraum 13.05. bis 01.06.2014 (Bescheid vom 18.06.2014) und 30.12.2014 bis 25.09.2015 (vgl Hinweisschreiben vom 14.01.2015).

Am 25.05.2016 beantragte der Kläger bei der Bundesagentur für Arbeit die Überprüfung der Bewilligungsentscheidungen auf der Grundlage der Härtefallregelung des § 150 Abs 3 Satz 3 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III). Mit Änderungsbescheiden vom 01.06.2016 bewilligte die Bundesagentur für Arbeit für die Zeiträume 01.04. bis 12.05.2014 und 02.06. bis 29.12.2014 Arbeitslosengeld iHv täglich 71,78 EUR auf der Grundlage eines nach der Härtefallregelung erhöhten Leistungssatzes.

Unter Vorlage der Änderungsbescheide der Bundesagentur für Arbeit bat der Kläger die Beklagte um Neuberechnung des Krg wegen der veränderten Berechnungsgrundlage. Mit Bescheid vom 20.06.2016 lehnte die Beklagte dies ab. Nach § 47b Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) werde Krg in der Höhe gezahlt, wie es vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit als Arbeitslosengeld bezogen worden sei. Veränderungen, die sich im Zuge des Krg-Anspruchs ergäben, regele § 150 Abs 2 SGB III. Solche Veränderungen könnten zB Geburt eines Kindes oder Änderung der Steuerklasse sein. Hier sei die Neuberechnung nach § 150 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB III erfolgt mit Beginn des Arbeitslosengeldbezugs. Die Neuberechnung sei daher nicht aufgrund einer Veränderung während des Krg-Bezugs erfolgt, so dass eine Neuberechnung des Krg nicht erfolgen könne.

Mit seinem Widerspruch vom 28.06.2016 forderte der Kläger erneut, die Krg-Leistungen an die neuen geänderten Arbeitslosengeldbescheide anzupassen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 03.08.2016 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Ergänzend führte sie aus, in § 47b Abs 2 SGB V sei ausdrücklich geregelt, dass die Neuberechnung nur für solche Sachverhalte gelte, die sich während des Bezugs von Krg änderten. Auf die nachträgliche Anpassung des Arbeitslosengelds sei die Bestimmung des § 47b Abs 2 SGB V nicht anwendbar. Für die Berechnung sei jeweils der letzte Zahlbetrag vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit heranzuziehen, hier daher 63,26 EUR.

Hiergegen richtet sich die am 25.08.2016 zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhobene Klage. Der Kläger ist der Auffassung, die Regelung des § 47b Abs 2 SGB V müsse auch dann anwendbar sein, wenn außerhalb des Zeitraums des Krg-Bezugs eine rückwirkende Änderung der Arbeitslosenbewilligung, die unmittelbar dem Krg-Bezug vorausgegangen sei, vorliege. Darüber hinaus sei die Krg-Bewilligung ein Dauerverwaltungsakt, der nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) einer geänderten Sachlage anzupassen sei, wenn die Änderung zugunsten des Betroffenen erfolge.

Mit Urteil vom 08.02.2017 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 20.06.2016 sowie des Widerspruchsbescheids vom 03.08.2016 und Änderung der Bescheide vom 18.06.2014 sowie 14.01.2015 verurteilt, dem Kläger Krg auf der Grundlage eines täglichen Leistungsanspruchs auf Arbeitslosengeld vor dem Krg-Bezug iHv 71,78 EUR täglich für den Zeitraum 13.05. bis 01.06.2014 und 30.12.2014 bis 25.09.2015 zu zahlen. Der dem Grunde nach unstreitige Anspruch auf Krg bestehe auf der Grundlage des zuletzt bezogenen Arbeitslosengelds von 71,78 EUR täglich. Zwar seien dem Kläger unmittelbar vor der Gewährung von Krg Leistungen der Bundesagentur für Arbeit lediglich auf der Grundlage eines täglichen Leistungssatzes von 63,26 EUR gewährt und ausgezahlt worden. Mit rückwirkender Änderung des täglichen Leistungsbetrags durch die Änderungsbescheide der Bundesagentur für Arbeit vom 01.06.2016 habe der Kläger aber mit Wirkung ex tunc einen täglichen Leistungssatz von 71,78 EUR bezogen. Zwar sei der Beklagten zuzustimmen, dass die Regelung des § 47b Abs 2 SGB V nicht zu einer Erhöhung des Krg-Anspruchs führe, denn die maßgebliche Änderung sei nicht während des Krg-Bezugs eingetreten. Allerdings sei die Regelung des § 47b Abs 2 SGB V lediglich eine Spezialregelung zu den allgemeinen Vorschriften der §§ 44, 45 und 48 SGB X. Die Voraussetzungen des § 44 SGB X lägen hier vor, da die Beklagte – unverschuldet – bei Zuerkennung des Krg auf Grundlage eines täglichen Leistungsentgelts von 63,26 EUR von einem falschen Sachverhalt ausgegangen und deshalb zu Unrecht zu niedriges Krg gewährt habe. Das zuletzt bezogene Arbeitslosengeld sei dasjenige, das der Berechtigte unmittelbar vor dem Krg-Bezug erhalten habe, das aufgrund eines bindend gewordenen Bewilligungsbescheids tatsächlich geflossen sei. Etwas anderes gelte nur dann, wenn eine bindend gewordene Bewilligungsentscheidung vor Krg-Bewilligung nachträglich nach den §§ 44 ff SGB X abgeändert werde. Dem werde für den konkreten Einzelfall zugestimmt. Zwar deute der Wortlaut ("zuletzt bezogen") darauf hin, dass es auf die konkret ausbezahlte Leistung ankomme. Sinn und Zweck der Regelung sei es, zugunsten des Versicherten eine unkomplizierte Weitergewährung von Leistungen in Form von Krg sicherzustellen, ohne eine umfangreiche Prüfung zuvor ergangener Bewilligungsbescheide der Bundesagentur für Arbeit vornehmen zu müssen. Abzuwägen sei demgegenüber die Durchbrechung der Bestandskraft von Verwaltungsakten auf der Grundlage der Regelungen der §§ 44, 45 und 48 SGB X. Tatsächlich habe der Kläger von vornherein materiell-rechtlich einen höheren Anspruch auf Arbeitslosengeld auf Grundlage der Härtefallregelung des § 150 Abs 3 Satz 1 Nr 3 SGB III gehabt. Diese Härtefallregelung sei nur anzuwenden, wenn der Arbeitslose dies vor Eintritt der Bestandskraft des Bewilligungsbescheids verlange und die hierzu erforderlichen Unterlagen vorlege. Die einschränkende Auslegung des Antragsrechts greife jedoch nur, wenn der Arbeitslose auch über die Möglichkeit des Härtefallantrags unterrichtet worden sei. Vorliegend sei die Änderung jedoch erst im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens nach § 44 SGB X erfolgt, was erkennen lasse, dass die Agentur für Arbeit wohl das Bestehen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zugunsten des Klägers bejaht habe. Der Kläger habe im Erörterungstermin angegeben, dass er von der Härtefallregelung und der Möglichkeit, diesen Antrag zu stellen, bis zum Frühjahr 2016 keine Kenntnis gehabt und erst durch einen ehemaligen Kollegen davon erfahren habe, den er auf dem Parkplatz eines Discounters getroffen habe. Auch dies spreche dafür, dass auf der Grundlage eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs ein höherer Anspruch auf Arbeitslosengeld mit Wirkung ex tunc zuerkannt worden sei. Vor dem Hintergrund der besonderen Instrumente des Sozialrechts, des Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X und des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sei der Begriff des "zuletzt bezogenen" Arbeitslosengelds dahin auszulegen, dass auch eine Änderung nach Ablauf des Krg-Bezugs, die ex tunc wirke, für den tatsächlichen Bezug von Arbeitslosengeld relevant sei. Insoweit bestehe auch keine Divergenz zur Behandlung von Beschäftigten, die aufgrund einer Änderung des Tarifvertrags höheres Arbeitsentgelt mit Wirkung ex tunc erhielten (unter Hinweis auf SG Potsdam 20.10.2009, S 3 KR 43/09).

Gegen das ihr am 13.02.2017 zugestellte Urteil richtet sich die am 28.02.2017 eingelegte Berufung der Beklagten. Zuletzt vor Beginn der jeweiligen Arbeitsunfähigkeit habe der Kläger ein kalendertägliches Arbeitslosengeld von 63,26 EUR bezogen. Dieses bleibe auch für die weitere Dauer des Krg-Anspruchs maßgeblich. Ob die Unterstellung des SG, der Kläger habe höheres Arbeitslosengeld aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bezogen, zutreffe, könne dahinstehen. Eine Fallkonstellation des § 47b Abs 2 SGB V sei nicht gegeben, da keine Änderung während des Krg-Bezugs eingetreten sei. Es komme entgegen der Auffassung des SG auch keine Korrektur nach § 44 SGB X in Betracht, denn zum Zeitpunkt der Berechnung des Krg sei der Ausgangsbetrag zutreffend gewesen. Die Korrektur des Arbeitslosengelds habe keine Auswirkungen auf das Krg, denn den neu ermittelten Leistungsbetrag habe der Kläger nicht zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit bezogen. Eine andere Betrachtungsweise würde auch die Bezieher von Arbeitslosengeld gegenüber den Arbeitnehmern bevorzugen. Das Bundessozialgericht (BSG) habe bereits am 22.06.1973 (3 RK 105/71) entschieden, dass bei der Berechnung des Regelentgelts auch dann von den Verhältnissen vor Eintritt der Arbeitsunfähigkeit auszugehen sei, wenn nach diesem Zeitpunkt, aber noch vor Beginn der Krg-Zahlung eine Entgeltänderung eingetreten sei. Nichts anderes könne für Bezieher von Arbeitslosengeld gelten. Zu berücksichtigen sei auch, dass § 150 Abs 3 SGB III besondere Sachverhalte aufführe, in denen der Bemessungsrahmen für die Berechnung des Arbeitslosengelds von einem auf zwei Jahre erweitert werde. In den Fällen der Nrn 1 und 2 sei von einem Automatismus auszugehen, bei Nr 3 erfolge dagegen eine Erweiterung des Bemessungsrahmens nur auf Antrag. Einen solchen Antrag habe der Kläger erst gestellt, als die Arbeitsunfähigkeitszeiten bereits beendet gewesen seien.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 08.02.2017 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Da die Korrektur des Anspruchs auf Arbeitslosengeld rückwirkend vorgenommen worden sei, sei der Kläger so zu stellen, als habe er von Anfang an Arbeitslosengeld iHv 71,78 EUR bezogen. Die Beklagte übersehe die Rückwirkung, die dazu führe, dass der Kläger zuletzt vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit den neu ermittelten Leistungsbetrag bezogen habe. Wäre dies anders, käme die Rückwirkung überhaupt nicht zum Tragen, was so nicht richtig und vom Gesetzgeber nicht gewollt sein könne.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte beider Rechtszüge und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten, über die der Senat mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)), hat keinen Erfolg.

Das SG hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, dem Kläger höheres Krg in den Zeiträumen vom 13.05. bis 01.06.2014 und 30.12.2014 bis 25.09.2015 zu gewähren. Der Überprüfungsbescheid vom 20.06.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.08.2016 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Krg auf der Grundlage des zuvor bezogenen Arbeitslosengeldes iHv 71,89 EUR täglich.

Anspruchsgrundlage für die Gewährung höheren Krg ist § 44 SGB X. Der Rückgriff auf diese Vorschrift ist durch § 47b Abs 2 SGB V nicht ausgeschlossen, denn hierbei handelt es sich lediglich um eine Spezialvorschrift für den Fall, dass Änderungen der für den Anspruch auf Arbeitslosengeld maßgeblichen Verhältnisse des Versicherten während des Bezugs von Krg eintreten. Dieser Fall liegt hier nicht vor, da die Änderung nicht während des Bezugs, sondern rückwirkend mit Wirkung ex tunc erst durch die Änderungsbescheide der Bundesagentur für Arbeit vom 01.06.2016 und damit nach dem Leistungsbezug eingetreten ist. Die allgemeinen Vorschriften der §§ 44 ff SGB X werden durch § 47b Abs 2 SGB V außerhalb seines Anwendungsbereichs nicht verdrängt (vgl Bohlken in jurisPK-SGB V, 3. Aufl 2016, § 47b RdNr 7f; Schifferdecker in Kasseler Kommentar, Stand September 2016, § 47b SGB V RdNr 25 f; Tischler in BeckOK, Stand 6/17, § 47b SGB V RdNr 8). Es ist auch ansonsten keine Spezialregelung ersichtlich, welche die Anwendung von § 44 SGB X vorliegend ausschließen könnte (vgl BSG 14.12.2006, B 1 KR 5/06 R, SozR 4-2500 § 47 Nr 5 zu §23b SGB IV - aufgelöste Wertguthaben; LSG Nordrhein-Westfalen 29.05.2006, L 11 KR 2/06, juris zu § 47a Abs 2 Satz 2 SGB V).

Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen (vgl etwa BSG 04.02.1998, B 9 V 16/96 R, SozR 3-1300 § 44 Nr 24).

Vorliegend ist bei den jeweiligen zeitabschnittsweisen Bewilligungen von Krg durch Verwaltungsakt (dazu BSG 22.03.2005, B 1 KR 22/04 R, SozR 4-2500 § 44 Nr 6 = BSGE 94, 247; BSG 13.07.2004, B 1 KR 39/02 R, SozR 4-2500 § 44 Nr 2) von einem Sachverhalt ausgegangen worden, der sich im Nachhinein als unrichtig erweist.

Ausreichend ist die einfache Rechtswidrigkeit, dh ein objektiver Rechtsverstoß (Merten in Hauck/Noftz, SGB X, Stand 8/17, § 44 RdNr 15). Ein unrichtiger Sachverhalt beurteilt sich im Vergleich der Sachlage, wie sie dem zu überprüfenden Verwaltungsakt zu Grunde gelegt worden ist und wie sie sich bei Erlass des Verwaltungsaktes bei nachträglicher Betrachtung im Zeitpunkt der Überprüfung rückschauend tatsächlich darstellt (vgl Schütze in v. Wulffen, SGB X, 8. Aufl 2014, § 44 RdNr 6). Festzustellen ist, von welchem Sachverhalt die Behörde bei ihrer Entscheidung ausgegangen ist und welcher Sachverhalt tatsächlich bei Erlass bestanden hat. Dabei stellt sich die Frage, wie mit rückwirkenden Änderungen umzugehen ist.

In Abgrenzung zum Anwendungsbereich des § 48 SGB X ist die Anwendung des § 44 SGB X auf rechtswidrig erlassene Verwaltungsakte beschränkt. Bei Änderungen der Sach- und Rechtslage nach Erlass des Verwaltungsakts mit Wirkung ex nunc ist daher unzweifelhaft der Anwendungsbereich des § 48 SGB X eröffnet. Schwieriger ist jedoch die Abgrenzung in Fällen nachträglicher Änderungen der Verhältnisse mit Wirkung ex tunc. Zur Frage, ob eine Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung lediglich für die Zukunft gilt und damit einer Änderung der rechtlichen Verhältnisse gleichsteht (§ 48 Abs 2 SGB X) oder ob sie auch auf die davorliegende Zeit zurückwirkt und zur Rechtswidrigkeit auch der früheren Verwaltungsakte führt (§ 44 SGB X), hat das BSG ausgeführt: Die Unrichtigkeit erstreckt sich auf die vor der Entscheidung liegenden Zeiträume und führt zur Rechtswidrigkeit eines aufgrund der früheren Rechtsprechung ergangenen Verwaltungsakts iS von § 44 Abs 1 SGB X, wenn ohne eine zwischenzeitliche Änderung der maßgeblichen Rechtsgrundlagen und der ihnen zugrundeliegenden rechtlichen und sozialen Erwägungen eine andere Auslegung der einschlägigen Vorschriften auf der Erkenntnis beruht, die bisherige Rechtsprechung sei unzutreffend gewesen. Beruht hingegen die nachträgliche Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf einer Änderung ihrer rechtlichen Grundlagen oder der bei ihrer Schaffung geltenden sozialen, soziologischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und Anschauungen, so kann ihr Wirkung nur für die Zukunft beigemessen werden (vgl hierzu BSG 25.10.1984, 11 RAz 3/83, SozR 1300 § 44 Nr 13 = BSGE 57, 209; BSG 30.01.1985, 1 RJ 2/84, SozR 1300 § 44 Nr 16 = BSGE 58, 27, 33; BSG 28.04.1999, B 9 V 16/98, juris). Entsprechend sind auch Rechtsänderungen, die nach Erlass des Ausgangsbescheids eintreten, aber auf diesen Zeitpunkt zurückwirken, zu beachten (BSG 21.06.2005, B 8 KN 9/04 R, SozR 4-1300 § 44 Nr 5; aA noch BSG 28.05.1997, 8 RKn 27/95, SozR 3-2600 § 93 Nr 3 RdNr 50 und BSG 26.08.1994, 13 RJ 29/93, juris).

In gleicher Weise ist die rückwirkende Änderung der Sach- und Rechtslage zu beurteilen, die hier durch die Änderungsbescheide der Agentur für Arbeit vom 01.06.2016 mit Wirkung ex tunc zu der Fiktion führt, dass im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsakts (Bewilligung von Krg) eine andere Rechtslage bestand, nämlich Arbeitslosengeldbezug mit einem Leistungssatz von 71,78 EUR (vgl Baumeister in jurisPK-SGB X, Stand 02/17, § 44 RdNr 46; Heße in BeckOK, SGB X, Stand 6/17, § 44 RdNr 14; Siewert/Waschull in Diering/Timme, SGB X, 4. Aufl 2016, § 44 RdNr 29; Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) 16.11.1989, 2 C 43/87, BVerwGE 84, 111; BSG 19.05.2004, B 13 RJ 25/03 R, SozR 4-2600 § 99 Nr 2 = BSGE 93, 10; BSG 29.11.2007, B 13 R 44/07 R, SozR 4-2600 § 236a Nr 2; BSG 20.07.2011, B 13 R 41/10, juris). Für den streitigen Anspruch bedeutet dies Folgendes.

Der Kläger hat dem Grunde nach Anspruch auf Krg für die Zeiten vom 13.05. bis 01.06.2014 und 30.12.2014 bis 25.09.2015, denn er war wegen des Bezugs von Arbeitslosengeld bei der Beklagten mit Anspruch auf Krg versichert (§ 5 Abs 1 Nr 2 SGB V), in den genannten Zeiträumen wegen Krankheit arbeitsunfähig und hat die Arbeitsunfähigkeit jeweils rechtzeitig ärztlich feststellen lassen. Dies entnimmt der Senat der Verwaltungsakte der Beklagten; die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen ist zwischen den Beteiligten auch nicht umstritten.

Nach § 47b Abs 1 Satz 1 SGB V wird das Krg für Versicherte nach § 5 Abs 1 Nr 2, wie den Kläger, in Höhe des Betrags des Arbeitslosengelds oder des Unterhaltsgelds gewährt, den der Versicherte zuletzt bezogen hat. Zuletzt bezogen ist die Leistung, die der Versicherte unmittelbar vor dem tatsächlichen Bezug des Krg erhalten hat; für die Höhe ist der Leistungsbetrag des letzten bindend gewordenen Bewilligungsbescheids maßgeblich (BSG 18.10.1991, 9b RAr 18/90, SozR 3-1400 § 4 Nr 7).

Ändert sich jedoch der "bezogene" Betrag durch eine rückwirkende Änderung des täglichen Leistungssatzes durch die Bundesagentur für Arbeit, wie hier von 63,26 EUR auf 71,78 EUR mit Bescheiden vom 01.06.2016, ist der Senat mit dem SG der Auffassung, dass der Kläger den höheren Leistungssatz bezogen iSv § 47b Abs 1 Satz 1 SGB V hat, obschon zum Zeitpunkt der Bewilligung des Krg durch die Beklagte noch der niedrigere Leistungssatz ausgezahlt worden war. Die maßgebliche Höhe des Bezugs lässt sich insoweit auch rückwirkend ändern, da das Gesetz nicht auf einen Tatbestand abstellt, der rückwirkend nicht mehr eingeräumt werden kann (vgl insoweit BSG 10.11.2011, B 8 SO 12/10 R, SozR 4-3500 § 30 Nr 4 zum "Besitz" des Merkzeichens "G" iSv § 3 Abs 1 Nr 4 GSiG). Dies entspricht auch dem Grundgedanken des § 47b Abs 1 Satz 1 SGB V, der eine "Lohnersatzfortzahlung" regelt (vgl Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung – Krg – Mutterschaftsgeld, Stand 5/17, § 47b RdNr 2). Erst recht gilt dies, wenn – wie hier – die rückwirkende Erhöhung des Leistungssatzes durch die Bundesagentur für Arbeit erst im Wege eines Überprüfungsantrags nach § 44 SGB X durchgesetzt worden ist. Denn ansonsten würde man entgegen dem Grundgedanken des § 44 SGB X (Restitution) diejenigen benachteiligen, die ihre Ansprüche infolge einer falschen Verwaltungsentscheidung nicht bereits "im ersten Anlauf" durchsetzen konnten (so ausdrücklich BSG 29.11.2007, B 13 R 44/07 R, SozR 4-2600 § 236a Nr 2 RdNr 189). Aus welchen Gründen im Einzelnen die Bundesagentur für Arbeit ihre früheren Bescheide zugunsten des Klägers rückwirkend geändert hat, spielt dabei keine Rolle.

Nichts anderes ergibt sich aus der von der Beklagten zitierten Entscheidung des BSG (22.06.1973, 3 RK 105/71, SozR Nr 60 zu § 182 RVO = BSGE 36, 59). Diese Entscheidung befasst sich allein mit der Berechnung des Krg für Beschäftigte nach der vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit liegenden Lohnperiode auf der Grundlage von § 182 Abs 6 RVO. Zum damaligen Zeitpunkt war § 44 SGB X noch nicht in Kraft, der erst mWv 01.01.1981 eingeführt worden ist (G vom 18.08.1980, BGBl I 1469). Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung allerdings daran festgehalten, dass nachträgliche Änderungen des dem Versicherten gewährten Arbeitsentgelts für die Krg-Höhe grundsätzlich ohne Belang sind (BSG 30.05.2006, B 1 KR 19/05 R, SozR 4-2500 § 47 Nr 4 = BSGE 96, 246 RdNr 20 ff mwN). Ausnahmen vom strengen Zuflussprinzip hat es nur anerkannt, wenn der Arbeitgeber dem Versicherten Arbeitsentgelt rechtwidrig vorenthält und es im Rahmen nachträglicher Vertragserfüllung später nachzahlt (BSG 16.02.2005, B 1 KR 19/03 R, SozR 4-2500 § 47 Nr 2). In Fortentwicklung dieser Rechtsprechung hat das BSG bei Wanderarbeitnehmern dasjenige (höhere) Nettoarbeitsentgelt iSv § 47 SGB V als "erzielt" und "abgerechnet" angesehen, das aufgrund einer nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit erreichten rückwirkenden Änderung der Steuerklasse erzielt worden war (BSG 24.05.2007, B 1 KR 3/07 R, SozR 4-2500 § 47 Nr 8). Abgesehen davon, dass dieser Fall (Änderung der persönlichen Verhältnisse während des Bezugs von Krg) von § 47b Abs 2 SGB V erfasst würde, betrifft die Frage, wann Arbeitsentgelt "erzielt" wurde bzw zugeflossen ist, einen rein tatsächlichen Vorgang. Wird später zugeflossenes Arbeitsentgelt noch dem Abrechnungszeitraum zugerechnet, handelt es sich um eine Ausnahme vom ansonsten geltenden (tatsächlichen) Zuflussprinzip. In diesem Fall wird der Begriff "erzielt" (ausnahmsweise) so definiert, dass es nicht auf den (tatsächlichen) Zufluss des Arbeitsentgelts, sondern auf den materiell-rechtlichen Anspruch auf Arbeitsentgelt ankommt. Im Unterschied dazu nimmt § 47b Abs 1 SGB V von vornherein nicht auf das tatsächlich zugeflossene Alg Bezug, sondern auf die im Bewilligungsbescheid der Bundesagentur für Arbeit getroffene Regelung iSd § 31 SGB X. Die in einem Verwaltungsakt getroffene Regelung ist jedoch eine Maßnahme, die auf Setzung einer Rechtsfolge (hier: Höhe des Alg-Anspruchs) gerichtet ist und daher unproblematisch auch rückwirkend geändert werden kann. In einem solchen Fall, der hier vorliegt, ist bei der Bemessung des Krg nach § 47b Abs 1 SGB V davon auszugehen, dass die geänderte Alg-Bewilligung von Anfang gegolten hat und die Beklagte damit (wenn auch unbeabsichtigt) von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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