L 6 VG 989/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 2 VG 4154/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 989/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Die negative Feststellung, dass kein Recht auf Beschädigtengrundrente besteht, entfaltet keine Wirkung für die Zukunft und ist daher kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung.
2. Der Ursachenzusammenhang zwischen einem schädigenden Vorgang und einer psychiatrischen Erkrankung kann mittels einer sachkundigen Bewertung wegen der Latenz von Brückensymptomen verneint werden.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 15. Februar 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten insbesondere wegen der Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach dem Opferentschädigungsrecht.

Nach dem Realschulabschluss absolvierte der 1968 geborene Kläger eine Ausbildung zum Maschinenschlosser. Anschließend holte er die Fachhochschulreife nach und wurde zum Fräser für rechnergestützte numerische Steuerung (CNC-Fräser) weitergebildet. Diese Tätigkeit übte er bis 2009 in verschiedenen Betrieben über Unternehmen der Personaldienstleistung aus. Seither ist er beschäftigungslos. Der Kläger ist verheiratet und hat zwei Söhne. Das Landratsamt L. stellte bei ihm aufgrund der versorgungsärztlichen Einschätzung von Dr. V.-M. von Mai 2014, wonach eine Depression und ein chronisches Schmerzsyndrom mit einem Einzel-Grad der Behinderung (GdB) von 20 zu bewerten seien, mit Bescheid vom 3. Juni 2014 den GdB in dieser Höhe seit 30. Dezember 2013 fest. Ein Bandscheibenschaden und eine entzündlich rheumatische Erkrankung sowie eine Hochtonschwerhörigkeit und Ohrgeräusche erreichten jeweils einen Einzel-GdB von 10, welcher nicht zur Erhöhung des Gesamt-GdB führe.

Am 5. April 2004 gegen 22:30 Uhr wollte der Kläger die verbale und körperliche Auseinandersetzung zwischen dem Inhaber eines Chinarestaurants in A. im S. mit einem anderen Gast schlichten. Plötzlich drehte sich Letzterer um und schlug dem Kläger ohne Vorwarnung mit der Faust auf den rechten Unterkiefer. Anschließend flüchtete jener mit dem Fahrrad. Der Kläger hielt sich in der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Klinikums D. stationär vom 7. bis 15. April 2004 auf. Dr. Dr. H., Kommissarischer Direktor der Klinik, diagnostizierte eine doppelte Fraktur des Unterkiefers (Kieferwinkel rechts, paramedian links). Es erfolgte eine Reposition und Osteosynthese, die Versorgung mit einer Kieferbruchschienung sowie eine intermaxilläre Fixation. Postoperativ habe sich ein stadiengerechter Wundheilungsverlauf gezeigt. Während eines dortigen weiteren stationären Aufenthaltes vom 15. bis 18. Dezember 2004 wurde das Osteosynthesematerial von intraoral entfernt. Der mittlerweile eingesetzte Direktor Prof. Dr. Dr. H. führte aus, dass sich der postoperative Verlauf wiederum stadiengerecht gezeigt habe.

Das auf Strafanzeigen des Klägers, der als Tathandlung einen Fausthieb auf seine rechte Kieferseite angab, welcher zu einer Prellung und Rötung geführt habe, und des Gastronoms, welche beide noch am Tatabend stellten, eingeleitete sowie mit dem Aktenzeichen 124 UJs 1586/04 gegen Unbekannt geführte Ermittlungsverfahren stellte die Staatsanwaltschaft Arnsberg Anfang Mai 2004 ein, da sie den Täter, welche nur vage habe beschrieben werden können, nicht habe ermitteln können.

Der Kläger beantragte am 12. Mai 2004 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Dr. W. schlug nach Auswertung der beigezogenen medizinischen Dokumente in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme von Juli 2004 vor, Knochennarben im Bereich des Unterkiefers beidseits als Schädigungsfolgen anzuerkennen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf Dauer erreiche keinen messbaren Wert. Das Versorgungsamt S. stellte daraufhin mit Bescheid vom 23. September 2004 diese Gesundheitsstörungen als Folgen des schädigenden Ereignisses vom 5. April 2004 fest. Diese bedingten jedoch keine MdE von wenigstens 25 vom Hundert (v. H.). Eine Rente sei daher nicht zu gewähren.

Dem Beklagten zeigte der Kläger am 16. November 2009 an, dass sich die als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen verschlimmert hätten, und verfolgte eine "höhere Versorgung". Er habe beim Drehen und Senken des Kopfes Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und der Schulter sowie starke Nackenschmerzen. Richtig hätten sie sich die letzten dreieinhalb bis vier Jahre bemerkbar gemacht. Sie seien von Jahr zu Jahr stärker geworden. Er sei des Öfteren beim Arzt gewesen. Er legte das Vorerkrankungsverzeichnis der Deutschen Betriebskrankenkasse (BKK) vor, bei der er gegen Krankheit gesetzlich versichert war und die zu Januar 2017 mit der Barmer GEK zur Barmer fusionierte. Zudem brachte er verschiedene medizinische Berichte bei.

Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. h.c. St. berichtete im Januar 2009 über ein Zervikobrachialsyndrom, Gelenk- und Rückenschmerzen, ein Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom sowie eine Gastritis. Dr. A.-M., Fachärztin für Allgemeinmedizin, teilte Mitte Dezember 2009 mit, sie habe ein chronisches Wirbelsäulensyndrom bei Skoliose, ein chronisches Iliosakralgelenksyndrom, ein chronisches Halswirbelsäulensyndrom bei Hyperlordose, eine Polyarthrose, den Zustand nach einem Bruch des Unterkiefers sowie eine Achillodynie diagnostiziert. Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule habe der Kläger erstmals im Juni 2004 beklagt, das Syndrom habe sie zwei Jahre später festgestellt.

Dr. F., Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie, diagnostizierte Anfang September 2002 nach einem Auffahrunfall des Klägers wegen eines verkehrsbedingten Staus auf der Autobahn eine Zerrung der Halswirbelsäule nach Schleuderverletzung. Er habe über mäßige Schmerzen in der Nacken- und seitlichen Halsregion mit Ausstrahlung in den Schultergürtel berichtet. Die Dornfortsätze der Halswirbelsäule seien druck- und klopfschmerzhaft gewesen. Dr. B., Facharzt für Chirurgie und Unfallchirurgie, führte in seinem für die Bundesagentur für Arbeit erstatteten Gutachten von August 2009 aus, beim Kläger liege eine Belastungsminderung der Halswirbelsäule im Sinne eines Kranialsyndroms nach stattgehabter Osteosynthese einer Fraktur des Unterkiefers sowie eine Belastungsminderung im Bereich des Unterschenkels und Fußes wegen einer muskulären Instabilität vor.

Dr. S. gab in ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Januar 2010 wieder, die spärlichen Unterlagen bezüglich der Gewalttat im April 2004 zeigten nicht, dass eine erhebliche Verletzung des Halses und des Thorax eingetreten sei. Ein Zusammenhang mit der Gewalttat mit den jetzt beschriebenen, in erster Linie als degenerativ anzusehenden Erkrankungen lasse sich nicht nachweisen. Daraufhin lehnte der Beklagte das Begehren des Klägers mit Bescheid vom 25. Januar 2010 ab. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juli 2010 zurückgewiesen.

Wegen der Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und einer Angststörung, welche beide seit 2004 bestünden, und unter Hinweis auf die Verschlimmerung der als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen stellte der Kläger am 8. Januar 2015 abermals einen Antrag auf "höhere Versorgung". Er legte wiederum verschiedene medizinische Dokumente vor.

Nach der ambulanten Untersuchung des Klägers Ende Juni 2004 diagnostizierte Dr. M., Facharzt für Orthopädie, eine chronische Achillodynie rechts und eine ausgeprägte zervikale Hyperlordose. Er habe sich unter anderem wegen rezidivierender Knackgeräusche vorgestellt, welche nach einem Kieferbruch begonnen hätten. Wesentliche Beschwerden habe er deswegen nicht gehabt. Klinisch habe sich eine deutliche Hyperkyphose und eine diskret linkskonvexe Skoliosierung gezeigt. Die Halswirbelsäule sei in allen Richtungen frei beweglich gewesen. Die Kiefergelenke seien klinisch unauffällig gewesen. Bei der radiologischen Untersuchung der Halswirbelsäule sei eine ausgeprägte Hyperlordose genauso zu erkennen gewesen wie der Zustand nach einer osteosynthetisch versorgten Kieferfraktur. Nach der Magnetresonanztomografie der Halswirbelsäule im Juli 2014 erkannte der Radiologe Dr. Sch. eine diskrete links mediolateral dorsalbetonte Protrusion im Segment C5/6 bei ansonsten unauffälliger Darstellung der untersuchten Wirbelsäulenabschnitte ohne Nachweis einer diskogen bedingten spinalen oder foraminalen Enge beziehungsweise einer intraspinalen Raumforderung. Es hätten sich keine Zeichen einer Myelopathie gefunden. Klinisch sei ein chronisches Zervikalsyndrom erkannt worden. Dr. R., Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, diagnostizierte im August 2014 ein chronisch-rezidivierendes Halswirbelsäulensyndrom. Nach der ganztägig ambulanten Behandlung des Klägers vom 16. Oktober bis 13. November 2014 diagnostizierte Dr. L., Leitender Arzt des Rehazentrums H. in B.-B., eine Zervikozephalgie (ICD-10 M53.0), eine Lumbalgie (ICD-10 M54.1), eine Achillodynie beidseits (ICD-10 M76.6), einen Tennisellenbogen beidseits (ICD-10 M77.9) sowie eine Angst und depressive Störungen (ICD-10 F41.26). Der Kläger habe über seit etwa 2005 bestehende Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule, welche in den Kopf ausstrahlten, berichtet. Die Beschwerdesymptomatik sei anfangs belastungsabhängig gewesen und insbesondere im Liegen aufgetreten. Im Laufe der Jahre habe sie zugenommen. Seit 2010 bestünden permanente Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule ohne Ausstrahlung in die Extremitäten. Nach einem dort Anfang November 2014 erstellten psychologischen Bericht habe sich in den Beratungsgesprächen gezeigt, dass seine aktuelle psychische Situation durch eine traumatische Erfahrung in der Jugend merklich beeinflusst gewesen sei. Darüber hinaus sei ein Gefühl der Verbitterung deutlich geworden.

Nach seinem stationären Aufenthalt in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Krankenhauses B. in B.-B. vom 18. August bis 29. September 2010 diagnostizierte Dr. K., Ärztlicher Direktor, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10 F45.41), eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10 F32.1) sowie Züge einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit (ICD-10 F60.6). Der Kläger sei seit 2002 wiederkehrend arbeitslos und seit Mai 2009 durchgehend keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Die affektive Schwingungsfähigkeit sei reduziert sowie der Antrieb und die Psychomotorik seien gemindert gewesen. Mitte der 1990er-Jahre habe er gemeinsam mit seinem Bruder an das elterliche Haus angebaut. Etwa 2003 habe er seine neun Jahre jüngere, spätere Ehefrau, eine Fremdsprachenkorrespondentin, welche aus R. stamme, über das Internet kennengelernt. Sie hätten 2006 geheiratet und mittlerweile einen acht Monate alten Sohn. Bis 2009 habe er in der Nähe ihrer Familie in Nordrhein-Westfalen gewohnt. Danach seien sie in den Anbau eingezogen. Eine Magnetresonanztomografie der Lendenwirbelsäule im Mai 2010 habe altersentsprechende degenerative Veränderungen gezeigt, jedoch keinen organpathologischen Befund ergeben. Nach stattgehabter Therapie habe er erwähnt, dass seine Körperschmerzen deutlich an Intensität abgenommen hätten. Er habe sich insgesamt belastbarer gefühlt. Gelegentlich habe er noch belastungsabhängige Schmerzen in den Fußgelenken gehabt. Er sei immer mehr nach draußen gegangen, etwa auf den Fußballplatz. Neben dieser deutlichen Abmilderung der vormals beklagten körperlichen Beschwerden habe sich bei der Entlassung die depressive Symptomatik spürbar zurückgebildet. Für die Medikation sei Citalopram, 30 mg (1-0-0-0), mit einer morgendlichen Steigerung auf 40 mg, und Mirtazapin, 30 mg (0-0-1-0) empfohlen worden. Der Facharzt für Neurologie R. diagnostizierte im November 2013 eine Angsterkrankung und eine leichte depressive Störung. Der Kläger sei bisher in nervenärztlicher Behandlung bei Dr. Ruf gewesen. Stationär habe er sich zudem im Krankenhaus B. aufgehalten. Dr. R., Facharzt für Neurologie sowie Psychiatrie und Psychotherapie, berichtete Anfang März 2015, der Kläger befinde sich bei ihm seit Ende April 2010 in Behandlung. Er habe anfangs über seit Jahren bestehende verschiedene Beschwerden berichtet. Nach einer tätlichen Auseinandersetzung habe er eine Fraktur des Kiefers erlitten. Seit 2004 bestünden diffuse Schmerzen in den Beinen und in der Achillessehne. Im Jahre 2010 sei eine somatoforme Störung (ICD-10 F45.8) diagnostiziert worden. Für eine zentrale oder radikuläre Symptomatik habe sich kein Anhalt gefunden. Eine Magnetresonanztomografie der Lendenwirbelsäule Ende Januar 2010 sei weitgehend unauffällig gewesen. Im Folgejahr sei eine Angst und depressive Störung, gemischt (ICD-10 F41.2) hinzugetreten. Für eine hirnorganische habe sich kein Anhalt gefunden. Ansonsten seien noch Schmerzen in den Extremitäten (ICD-10 M79.6) festgestellt worden.

Die Psychotherapeutin Dr. Th.-F., Fachärztin für Allgemeinmedizin mit der Zusatzbezeichnung "Psychotherapie", ging in ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Anfang April 2015 davon aus, dass die beklagten Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule nicht auf das schädigende Ereignis von April 2004 zurückzuführen seien. Die von ihm angeführte Angsterkrankung sei ebenfalls nicht Folge dieses schädigenden Ereignisses. Während des stationären Aufenthaltes im Krankenhaus B. sei ein psychologischer Bericht erstellt worden, in dem auf eine traumatische Erfahrung in der Jugend Bezug genommen worden sei. Es seien keine Beschwerden beschrieben worden, welche eine Verschlimmerung der durch die Tat hervorgerufenen Gesundheitsstörungen belegten.

Mit Bescheid vom 17. April 2015 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab. Nach erhobenem Widerspruch holte das Landratsamt L. im Wege der "Amtshilfe" für den Beklagten ein Gutachten bei Dr. P., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, ein. Nach der ambulanten Untersuchung des Klägers am 2. Oktober 2015, einschließlich elektrophysiologischer Zusatzuntersuchungen, führte dieser aus, alle posttraumatisch festgestellten, dokumentierten Gesundheitsstörungen seien nicht mit Wahrscheinlichkeit in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis von April 2004 zu sehen. Überdauernde Beeinträchtigungen seien, zumal wesentlich, nicht auf das Geschehen zurückzuführen. Nachschäden seien sowohl psychiatrisch als auch neurologisch unabhängig von diesem Ereignis als genetisch bedingt einzuschätzen. Es handele sich um persönlichkeitsbedingte Beeinträchtigungen im Rahmen der Schmerzstörungen. Offensichtlich sei es erst mit großer Latenz 2008/2009 zu einer ersten Behandlung im Krankenhaus B. gekommen. Der Kläger sei alleine mit dem Personenkraftwagen zum gutachtlichen Untersuchungstermin gekommen. Er sei kurz zuvor mit seiner Ehefrau und seinem Kind im Haus seiner Tante in Spanien in Urlaub gewesen. Er habe erwähnt, dass die Nackenschmerzen und die Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule zwei Monate nach dem Faustschlag Anfang April 2004 aufgetreten seien. Wegen Problemen mit dem Kiefer habe er im 13. Lebensjahr längere Zeit eine Kieferspange tragen müssen. Er sei in der damaligen Zeit von einem älteren Mann vor dessen Haus, an dem er öfter vorbeigefahren sei, angesprochen worden. Er habe ihn mit ins Haus genommen und sei übergriffig geworden. Eine Anzeige habe er damals nicht erstattet. Im Rahmen des Traumas im April 2004 sei alles von diesem Geschehen hochgekommen. Die psychischen Probleme hätten sich mittlerweile verschlimmert. Er ziehe sich oft in den Keller zurück und beschäftige sich dort. Seit etwa einem Jahr sei er nicht mehr bei Dr. R. in Behandlung gewesen. Wegen eines erneuten Kinderwunsches habe er alle Medikamente abgesetzt. Zum Tagesablauf habe er angeführt, zwischen 7 Uhr und 8 Uhr aufzustehen. Er bringe dann seinen Sohn in den Kindergarten. Im Keller repariere er sein altes Schlagzeug. Er widme sich auch seinem Sohn und spiele mit ihm. Kleine Einkäufe und Arbeiten um das Haus erledige er selbst. Er beteilige sich an der Hausarbeit. Den Abend verbringe er am Computer oder vor dem Fernseher. Der Kläger habe eine offensichtliche Neigung zu Somatisierungen gezeigt. Psychasthenische Züge hätten sich deutlich offenbart. Er habe auch ängstlich-vermeidende Züge aufgewiesen. Der Antrieb sei wechselnd gewesen. Er habe zu depressiven Verstimmungen geneigt. Eine Selbstwertproblematik sei zu erkennen gewesen. Hinsichtlich des schädigenden Ereignisses bestehe kein messbarer Grad der Schädigungsfolgen (GdS). Die beklagten Gesundheitsstörungen seien nicht schädigungsbedingt. Der Kläger sei bereits im Alter von etwa 13 Jahren in kieferorthopädischer Behandlung gewesen. Dem Vorerkrankungsverzeichnis der B. sei eine Zervikalneuralgie im Oktober 2002 zu entnehmen. In psychiatrischer Hinsicht sei es, allerdings nicht ganz nachvollziehbar und etwas unklar, wohl auch im Alter von 13 Jahren zu einem einmaligen Ereignis mit sexueller Übergriffigkeit eines älteren Mannes aus der Nachbarschaft gekommen. Eine dadurch bedingte psychiatrische Störung lasse sich zumindest nach Aktenlage und nach den vom Kläger gemachten Angaben über den weiteren Verlauf nicht feststellen. Dr. Th.-F. teilte in ihrer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme von Ende Oktober 2015 die Einschätzung von Dr. P ... Daraufhin wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 16. November 2015 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 14. Dezember 2015 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben, welches schriftliche sachverständige Zeugenaussagen bei Dr. S., Facharzt für Allgemeinmedizin, Dr. R. und dem Facharzt für Neurologie R. eingeholt hat, welche im März 2016 vorgelegt worden sind.

Dr. S. hat ausgeführt, die Dauerdiagnosen wie chronische Schmerzstörung, ängstliche Persönlichkeitsstörung und depressive Störung hätten einen chronischen Verlauf mit ständiger Behandlungsintensität und Mitbehandlung durch den Neurologen Dr. R ... Chronisch seien auch eine Spondylarthritis und eine Tendinitis der Achillessehne sowie eine Tenosynovitis der Peroneussehne links.

Dr. R. hat mitgeteilt, er habe den Kläger erstmals Ende April 2010 behandelt. Zuletzt sei er im Februar 2016 vorstellig geworden. Die ganzen körperlichen Beschwerden in der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie im linken Arm und linken Wadenbein hätten wieder zugenommen. Er wolle nichts mehr mit Menschen zu tun haben. Der Antrieb sei leicht vermindert gewesen. Er habe ihm Citalopram, 20 mg (1/2-0-0) verordnet, eventuell sei die Dosis auf eine Tablette zu steigern. Der von ihm erhobene Befund sei im Vergleich zu früheren Untersuchungen im Wesentlichen unverändert gewesen. Der Facharzt für Neurologie R. hat geäußert, mit dem Kläger nur einmalig Mitte November 2013 ein Beratungsgespräch geführt zu haben. Diagnostiziert worden seien eine Angsterkrankung und eine leichte depressive Störung. Er habe keine Behandlung durchgeführt, nur eine Psychotherapie empfohlen.

Nach vorheriger Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15. Februar 2017 abgewiesen. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der doppelte Kieferbruch die auftretenden Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule verursacht oder bereits bestehende verschlimmert habe. Sie beruhten in erster Linie auf degenerativen Abnutzungserscheinungen. Ein Zusammenhang zwischen der Angsterkrankung und der leichten depressiven Störung mit der Gewalttat im April 2004 sei nach dem Gutachten von Dr. P. und den versorgungsärztlichen Stellungnahmen von Dr. Th.-F. unwahrscheinlich. Insbesondere sei eine Behandlung deswegen erstmals 2010, also nach einer größeren Latenzzeit, erfolgt. Die Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und eine Angsterkrankung seien daher keine Schädigungsfolgen. Ein GdS von mindestens 25 sei nicht erreicht, weshalb kein Anspruch auf eine Beschädigtengrundrente bestehe.

Hiergegen hat der Kläger am 14. März 2017 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt und zur Begründung vorgetragen, der Verkehrsunfall im September 2002 habe lediglich aufgrund einer Zerrung der Halswirbelsäule nach einer Schleuderverletzung zu kurz anhaltenden Schmerzzuständen geführt. Arbeitsunfähig erkrankt sei er deswegen jeweils wenige Tage unmittelbar danach und im Folgemonat. Die röntgenologische Untersuchung habe keine Steilstellung in diesem Wirbelsäulenabschnitt sowie weder eine frische knöcherne Läsion, eine Gefügestörung noch eine degenerative Veränderung ergeben. Eine solche sei daher im Zeitpunkt des streitgegenständlichen Ereignisses nicht erwiesen. Nach der stattgehabten Gewalteinwirkung habe er sich wegen Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule immer wieder bei Ärzten vorgestellt, etwa bei Dr. h.c. St. und Dr. M ... Insbesondere Dr. B. habe einen Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis, den Kieferfrakturen und diesen Beeinträchtigungen gesehen. Die kernspintomografische Untersuchung dieses Wirbelsäulenabschnittes Anfang Juli 2014 habe im Gegensatz zu der röntgenologischen Untersuchung von Dr. R. am Ende des Folgemonats nur eine diskrete links mediolateral dorsalbetonte Protrusion im Segment C5/6 gezeigt. Ansonsten sei die Darstellung der untersuchten Segmente der Wirbelsäule unauffällig gewesen. Eine diskogenbedingte spinale oder foraminale Enge beziehungsweise eine intraspinale Raumforderung habe sich nicht gefunden. Zeichen einer Myelopathie seien nicht erkannt worden. Als Jugendlicher habe er eine übliche Zahnspange getragen, weshalb die Schlussfolgerung von Dr. P. insoweit nicht nachvollziehbar sei. Zumindest seien wegen seiner Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule weitere Ermittlungen von Amts wegen veranlasst. Seine psychischen Erkrankungen hätten ihre Ursache ebenfalls in dem Faustschlag von April 2004. Ihm sei es bereits psychisch schlecht gegangen, als die Staatsanwaltschaft Arnsberg das Ermittlungsverfahren eingestellt habe, weil der Täter nicht zu ermitteln gewesen sei. Ihm sei erst 2009/2010 klar geworden, dass er psychische Probleme habe. Die Ausführungen von Dr. P. seien unzureichend.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 15. Februar 2017 und den Bescheid vom 17. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2015 aufzuheben sowie den Beklagten zu verpflichten, Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und eine Angststörung als Folgen des Faustschlages am 5. April 2004 festzustellen sowie ihn zu verurteilen, ihm deswegen eine Beschädigtengrundrente nach dem Opferentschädigungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz ab 8. Januar 2015 zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers zurückweisen.

Er trägt im Wesentlichen vor, dessen Begehren führten nicht zum Erfolg.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakte des Beklagten (2 Bände) verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 i. V. m. § 105 Abs. 1 Satz 3, Abs. 3 Halbsatz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG) eingelegt worden sowie im Übrigen zulässig, insbesondere statthaft (§ 143, § 144 Abs. 1 SGG), aber unbegründet.

Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 15. Februar 2017, mit dem die als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) und kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 und 4 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 1999 - B 9 VS 2/98 R -, SozR 3-3200 § 81 Nr. 16, S. 72 f.) erhobene Klage, mit welcher der Kläger unter Aufhebung des Bescheides vom 17. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2015 die Verpflichtung des Beklagten zu den Feststellungen von Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und einer Angststörung als Folgen des Faustschlages am 5. April 2004 sowie die Verurteilung des beklagten Verwaltungsträgers zur Gewährung einer Beschädigtengrundrente nach dem OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) verfolgt hat, abgewiesen wurde. Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist sowohl für Verpflichtungs- als auch für Leistungsklagen grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 - B 6 KA 34/08 R -, BSGE 104, 116 (124); Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rz. 34), welche am 9. November 2017 stattfand.

Die auf die Verpflichtung zur jeweiligen behördlichen Feststellung von Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und einer Angststörung als Folgen des Faustschlages am 5. April 2004 gerichtete Klage ist unzulässig und die Berufung insoweit unbegründet, da die Ausgangsbehörde mit dem Bescheid vom 17. April 2015 hierüber nicht entschieden hat. Damit liegen die Sachentscheidungsvoraussetzungen nicht vor. Der Kläger ist, bezogen auf die gegen solche Verwaltungsentscheidungen gerichteten Anfechtungsklagen, nicht klagebefugt im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Es reicht zwar aus, dass eine Verletzung in eigenen Rechten möglich ist und Rechtsschutzsuchende die Beseitigung einer in ihre Rechtssphäre eingreifenden Verwaltungsmaßnahme anstreben, von der sie behaupten, sie sei nicht rechtmäßig (vgl. BSG, Urteil vom 5. Juli 2007 - B 9/9a SGB 2/06 R -, SozR 4-3250 § 69 Nr. 5, Rz. 18). An der Klagebefugnis fehlt es demgegenüber, wenn eine Verletzung subjektiver Rechte nicht in Betracht kommt (vgl. BSG, Urteil vom 14. November 2002 - B 13 RJ 19/01 R -, BSGE 90, 127 (130)), weil hinsichtlich des Klagebegehrens keine gerichtlich überprüfbare Verwaltungsentscheidung vorliegt (BSG, Urteil vom 21. September 2010 - B 2 U 25/09 R -, juris, Rz. 12). Solange der zuständige Verwaltungsträger nicht über einen Anspruch auf die jeweilige Feststellung von Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule (ICD-10-GM-2017 M54.82) und einer Angststörung (ICD-10-GM-2017 F41.-) als Folgen des Faustschlages am 5. April 2004 entschieden hat, können Betroffene, außer bei rechtswidriger Untätigkeit der Behörde (§ 88 SGG), welche vorliegend mangels eines entsprechenden Begehrens im Verwaltungsverfahren nicht ersichtlich ist, kein berechtigtes Interesse an einer gerichtlichen Feststellung haben. Die Unzulässigkeit der jeweiligen Anfechtungsklage zieht die Unzulässigkeit der mit ihr jeweils kombinierten Verpflichtungsklage nach sich.

Die Berufung ist mangels Begründetheit der Klage ebenfalls unbegründet, soweit der Kläger aufgrund seines Antrages auf Gewährung einer "höheren Versorgung" vom 8. Januar 2015 die Bewilligung einer Beschädigtengrundrente erstrebt hat. Der Bescheid vom 17. April 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2015 ist rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG), da er diese Leistung nicht beanspruchen kann.

Dabei war der Senat nicht an den jeweiligen Inhalt der bestandskräftigen Bescheide vom 23. September 2004 und 25. Januar 2010 gebunden. Diese betrafen nur die durch die Anträge vom 12. Mai 2004 und 16. November 2009 eingeleiteten Verwaltungsverfahren, welche mit diesen Bescheiden der Ausgangsbehörde beziehungsweise nach eingelegtem Rechtsbehelf demjenigen der Widerspruchsbehörde abgeschlossen worden sind. Entschieden wurde jeweils, dass der Kläger wegen der Folgen des schädigenden Ereignisses vom 5. April 2004 kein Recht auf Beschädigtengrundrente hat. Eine der materiellen Bestandskraft (§ 77 SGG) fähige Feststellung ist jeweils nur insoweit getroffen worden, als das Begehren nach dem maßgeblichen Sach- und Rechtsstand bis zum Abschluss der damaligen Verwaltungsverfahren beurteilt worden ist. Eine solche negative Feststellung schließt diese ab, entfaltet jedoch keine Wirkung für die Zukunft. Wäre es anders, so käme dem Verwaltungsakt Dauerwirkung zu (vgl. BSG, Urteil vom 20. Oktober 1999 - B 9 SB 4/98 R -, SozR 3-1500 § 77 Nr. 3), was nicht der Fall ist, da seine Regelungswirkung nach dem zu Grunde liegenden materiellen Recht nicht über die punktuelle Gestaltung des Rechtsverhältnisses der Beteiligten hinausreicht (vgl. Schütze, in von Wulffen/Schütze, Kommentar zum Zehnten Buch Sozialgesetzbuch (SGB X), 8. Aufl. 2014, § 48 Rz. 3 mit § 45 Rz. 64). Aus diesem Grund findet vorliegend auch § 48 SGB X keine Anwendung.

Rechtsgrundlage für den vom Kläger geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG in Verbindung mit § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS - bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als MdE bezeichnet - nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG). Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Urteil des Senats vom 18. Dezember 2014 - L 6 VS 413/13 -, juris, Rz. 42; Dau, in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, § 31 BVG, Rz. 2).

Für einen Anspruch des Klägers auf Beschädigtengrundrente nach dem OEG in Verbindung mit dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 V 1/12 R -, BSGE 113, 205 (208 ff.)):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 - B 9 VG 1/08 R -, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person ("wer"), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind. In Altfällen, also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 und dem Inkrafttreten des OEG am 16. Mai 1976 (BGBl I S. 1181), müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 Satz 2 OEG in Verbindung mit § 10a Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in diesem Zeitraum geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind sowie im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben. Eine Schwerbeschädigung liegt nach §&8201;31 Abs.&8201;2 BVG vor, wenn ein GdS von mindestens 50 festgestellt ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes "vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff" im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 - B 9 VG 2/10 R -, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffes hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer - jedenfalls versuchten - vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 - B 9 VG 1/09 R -, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 - B 9 VG 2/10 R -, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 1/13 R -, juris, Rz. 23 ff.).

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010 - B 11 AL 35/09 R -, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 - B 9 V 23/01 B -, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 6/13 R -, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein "deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Bei dem "Glaubhafterscheinen" im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 - B 9 V 23/01 B -, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 - B 9 V 23/01 B -, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15). Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend - seit Juli 2004 - den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (Teil C, Nrn. 1 bis 3 und 12 der Anlage zu § 2 VersMedV - "Versorgungsmedizinische Grundsätze" - VG); vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 - B 9 V 6/13 R -, juris, Rz. 17).

Die Folgen des schädigenden Ereignisses vom 5. April 2004 sind nicht mit Funktionsbeeinträchtigungen verbunden, welche ab der streitgegenständlichen Antragstellung am 8. Januar 2015 als materiell-rechtlicher Voraussetzung (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008 - B 9/9a VG 1/07 R -, SozR 4-3100 § 60 Nr. 5, Rz. 17) nach den VG einen GdS von wenigstens 25 bedingen, sie erreichen nicht einmal einen messbaren Grad.

Die mit Bescheid vom 23. September 2004 bindend (§ 77 SGG) als Schädigungsfolgen des Faustschlages auf den rechten Unterkiefer anerkannten Knochennarben beidseits, also das nach der Heilung der doppelten Fraktur mit einem Kieferwinkel rechts und paramedian links entstandene Knochengewebe, haben keinen höheren GdS als 0 zur Folge, wie von Dr. W. bereits im Juli 2004 aus versorgungsärztlicher Sicht nachvollziehbar angenommen worden ist. Eine Verschlimmerung ist nicht eingetreten. Diese in der GdS-Tabelle nicht aufgeführten Gesundheitsstörungen sind gemäß den VG, Teil B, Nr. 1 b in Analogie zu den zum Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" zählenden Narben nach Warzenfortsatzaufmeißelung (VG, Teil B, Nr. 2.1) als damit vergleichbar zu beurteilen. Solche sind ohne Komplikationen im Heilverlauf mit einem GdS von 0 sowie bei kleineren Knochenlücken und auch größeren gedeckten Substanzverlusten am knöchernen Schädel mit einem GdS zwischen 0 und 10 zu bewerten. Wegen der doppelten Fraktur des Unterkiefers erfolgte in der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Klinikums D. noch im April 2004 eine Reposition und Osteosynthese, eine Versorgung mit einer Kieferbruchschienung sowie eine intermaxilläre Fixation. Postoperativ zeigte sich ein stadiengerechter Wundheilungsverlauf, wie Dr. Dr. H. aufgezeigt hat. Während des dortigen weiteren, wenige Tage dauernden stationären Aufenthaltes im Dezember 2004 wurde das Osteosynthesematerial entfernt. Der postoperative Verlauf war wiederum stadiengerecht, worauf Prof. Dr. Dr. H. hinwies. Ob des komplikationslosen Heilverlaufes, nicht vorhandener Knochenlücken und eines nicht gegebenen Substanzverlustes bedingen die beidseitigen Knochennarben als Schädigungsfolgen (VG, Teil A, Nr. 1 c) einen GdS von 0. Hiervon ist zuletzt auch die Versorgungsärztin Dr. Th.-F. nachvollziehbar ausgegangen, indem sie in den vom Kläger beschriebenen Beschwerden keinen Beleg für eine Verschlimmerung dieser durch die Tat hervorgerufenen Gesundheitsstörungen erkannt hat. Wegen der bindenden Feststellung war nicht zu prüfen, ob eine schädigungsunabhängige Ursache darin besteht, dass er im 13. Lebensjahr über längere Zeit eine Kieferspange trug.

Weitere Gesundheitsbeeinträchtigungen, an denen der Kläger seit Januar 2015 leidet, sind demgegenüber nicht auf das Ereignis vom 5. April 2004 zurückzuführen.

Der Kläger erhielt ausweislich seiner Angaben in der noch am Tatabend gestellten Strafanzeige ausschließlich einen Fausthieb auf den rechten Unterkiefer, welcher neben der doppelten Fraktur eine Prellung und Rötung in diesem Bereich herbeiführte. Ein schädigender Vorgang mit einer Einwirkung auf sonstige Körperteile, insbesondere die Halswirbelsäule, steht demgegenüber nicht mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit fest, weshalb der Kläger im Tatzeitpunkt keine sonstige - unmittelbare - gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Dr. S. führte in ihrer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Januar 2010 schlüssig aus, dass sich den medizinischen Befunddokumenten keine erhebliche Verletzung des Halses und des Thorax entnehmen lässt, welche aus der Gewalttat im April 2004 herrührte. Dies trägt der Kläger auch nicht vor, weshalb der Anwendungsbereich von § 15 Satz 1 KOVVfG, der ein Glaubhafterscheinen genügen lasst, nicht eröffnet ist (vgl. BSG, Urteil vom 30. November 2006 - B 9a VS 1/05 R -, juris, Rz. 24; Bayerisches LSG, Urteil vom 12. April 2016 - L 15 VU 2/13 -, juris, Rz. 40; Urteile des Senats vom 21. April 2015 - L 6 VG 2096/13 -, juris, Rz. 42, vom 22. September 2016 - L 6 VG 1927/15 -, juris, Rz. 85 und vom 3. August 2017 - L 6 VU 4630/16 -, juris, Rz. 48).

Ein Zusammenhang zwischen dem erlittenen Faustschlag auf den rechten Unterkiefer und dem mehrfach diagnostizierten chronischen Halswirbelsäulensyndrom (ICD-10-GM-2017 M54.2), der von Dr. L. festgestellten Zervikozephalgie (ICD-10-GM-2017 M53.0) oder dem von Dr. h.c. St. angeführten Zervikobrachialsyndrom ist nicht wahrscheinlich, denn es spricht nicht mehr für als gegen die Kausalität. Diese Gesundheitsstörungen sind insofern auch keine Schädigungsfolgen.

Der Kläger war zwar unmittelbar vor dem schädigenden Ereignis am 5. April 2004 im Bereich der Halswirbelsäule beschwerdefrei. Der im September 2002 erlittene Auffahrunfall nach einem verkehrsbedingten Stau auf der Autobahn rief als so bezeichnetes "Schleudertrauma" eine Zerrung der Halswirbelsäule hervor, welche im Bereich der Dornfortsätze als druck- und klopfschmerzhaft empfunden wurde, wie Dr. F. damals erhob. Der Kläger berichtete indes lediglich über mäßige Schmerzen in der Nacken- und seitlichen Halsregion mit Ausstrahlung in den Schultergürtel. Zudem erkrankte er deswegen nur jeweils wenige Tage unmittelbar danach und im Folgemonat. Zum Zeitpunkt des streitgegenständlichen Ereignisses war diese Verletzung daher ausgeheilt, zumal das Vorerkrankungsverzeichnis der Trägerin der gesetzlichen Krankenversicherung, bei der er versichert war, nach Oktober 2002 bis dahin weder eine Zeit der Arbeitsunfähigkeit noch eines so bezeichneten "Krankenhausfalles" wegen Gesundheitsstörungen in dieser Körperregion ausweist. Dies Beschwerdefreiheit wird indes dadurch relativiert, dass der Kläger die von ihm beschriebenen Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und die Nackenschmerzen erstmals im Herbst 2005 bemerkte. Hiervon ist der Senat nach der Beweisaufnahme überzeugt, wobei auch insoweit § 15 Satz 1 KOVVfG nicht anwendbar ist, da Unterlagen in Form von ärztlichen Dokumenten in hinreichendem Umfang vorhanden sind. Diese ermöglichen eine sachgerechte Beurteilung. Eine Beweisnot, auf die sich die Norm bezieht (BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 V 1/12 R -, BSGE 113, 205 (213)), hat nicht vorgelegen. Weitere Ermittlungen von Amts wegen (§ 103 Satz 1 SGG) sind daher überdies nicht geboten, insbesondere ist kein Sachverständigenbeweis auf orthopädischem Fachgebiet zu erheben gewesen, wie der Kläger angeregt hat. Bei seiner Antragstellung Mitte November 2009 teilte er mit, die Beeinträchtigungen hätten sich in den letzten dreieinhalb bis vier Jahre richtig bemerkbar gemacht, also frühestens ab Herbst 2005. Dies steht in Einklang mit seiner Darlegung gegenüber Dr. L. während der ganztägigen ambulanten Behandlungsmaßnahme im Herbst 2014, wonach anhaltende Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule etwa 2005 aufgetreten sind. Hierzu passt auch, dass er Dr. M. bei der ambulanten Untersuchung Ende Juni 2004 über rezidivierende Knackgeräusche im oberen Wirbelsäulenabschnitt berichtete, hingegen wesentliche Beschwerden verneinte. Die von Dr. A.-M. für diesen Monat angeführten unspezifischen Schmerzen waren demzufolge allenfalls kurzzeitig aufgetreten, ohne dass hierdurch bereits eine die Halswirbelsäule betreffende Krankheit erkennbar war, also klinisch manifest geworden ist; zumal sie keine Befunde erhob, welche dies hätten untermauern können, und ein Halswirbelsäulensyndrom erst im Juni 2006, also zwei Jahre später, annahm. Dem widersprechend gab der Kläger ausweislich der im Wege des Urkundenbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. §§ 415 ff. Zivilprozessordnung - ZPO) verwerteten Expertise von Dr. P. bei dessen gutachtlicher Untersuchung Anfang Oktober 2015 an, dass Nackenschmerzen und Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule, an welchen er immer noch leide, bereits zwei Monate nach dem Faustschlag Anfang April 2004 aufgetreten sind. Weder nach dem SGG noch nach der ZPO gibt es zwar eine Beweisregel in dem Sinne, dass frühere Aussagen oder Angaben grundsätzlich einen höheren Beweiswert besitzen als spätere; im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 286 ZPO) sind vielmehr alle Aussagen, Angaben und sonstigen Einlassungen zu würdigen. Gleichwohl kann das Gericht im Rahmen der Gesamtwürdigung den zeitlich früheren aufgrund der Gesichtspunkte, dass die Erinnerung hierbei noch frischer war oder sie von irgendwelchen Überlegungen, die darauf abzielen, das Klagebegehren zu begünstigen, noch unbeeinflusst waren, einen höheren Beweiswert als den späteren zumessen (vgl. BSG, Urteil vom 11. November 2003 - B 2 U 41/02 R -, SozR 4-2700 § 4 Nr. 1, Rz. 12; Urteile des Senats vom 12. August 2014 - L 6 VH 5821/10 ZVW - juris, Rz. 144 und vom 21. Mai 2015 - L 6 U 1053/15 -, juris, Rz. 34). Von Letzterem geht der Senat aus, zumal sich der Kläger gegenüber Dr. M. noch vor einer die maßgeblichen Rechtsgrundsätze aufzeigenden behördlichen Entscheidung, welche erstmals im September 2004 getroffen wurde, sowie Dr. L. während einer therapeutischen Maßnahme und außerhalb eines mit dem Ziel der Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörung als Schädigungsfolge angestrengten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens erklärte. Der Antrag vom 16. November 2009 war beschieden, das nächste Verwaltungsverfahren veranlasste er erst im Januar 2015.

Ferner sprechen die von Dr. M. Ende Juni 2004 erhobenen klinischen und radiologischen Befunde gegen einen Zusammenhang. Schädigungsunabhängig zeigte sich neben einer diskreten linkskonvexen Skoliosierung eine deutlich Hyperkyphose und eine bereits damals ausgeprägte Hyperlordose. Demgegenüber waren die Kiefergelenke unauffällig, weshalb der Ursachenbeitrag der erlittenen Frakturen fernliegt. Die Annahme der Versorgungsärztin Dr. Th.-Fresse, wonach die beklagten Funktionsstörungen im Bereich der Halswirbelsäule nicht auf das Ereignis vom 5. April 2004 zurückzuführen sind, überzeugt daher. Dr. B. hat sich, entgegen der Meinung des Klägers, in seinem für die Bundesagentur für Arbeit erstatteten Gutachten von August 2009 zur (Wirk-)Ursache nicht gegenteilig geäußert, sondern lediglich die zeitliche Abfolge beschrieben, dass nach stattgehabter, also erfolgter Osteosynthese der Frakturen des Unterkiefers eine Belastungsminderung der Halswirbelsäule im Sinne eines Kranialsyndroms auftrat. Selbst ein unmittelbarer zeitlicher Zusammenhang reichte indes nicht aus, die Kausalität zu begründen (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 19. Juli 2011 - L 15 VG 20/10 -, juris, Rz. 58).

Die von Dr. K. Mitte 2010 diagnostizierten Gesundheitsstörungen in Form einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10-GM-2017 F45.41), einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10-GM-2017 F32.1) sowie von Zügen einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit (ICD-10-GM-2017 F60.6), welche der sachverständige Zeuge R. nach einem einmaligen Beratungsgespräch im November 2013, ohne Diagnoseschlüssel und als Facharzt für Neurologie ohnehin fachfremd als Angsterkrankung und leichte depressive Störung sowie Dr. L. ebenfalls ohne hinreichende fachliche Qualifikation als Angst und depressive Störungen eingeordnet haben, haben ihre Ursache ebenfalls nicht in dem schädigenden Vorgang vom 5. April 2004. Hierfür stützt sich der Senat auf die überzeugenden und insoweit keineswegs unzureichenden Ausführungen von Dr. P. nach der Begutachtung des Klägers im Oktober 2015. Alle diese posttraumatisch festgestellten Gesundheitsstörungen sind nicht mit Wahrscheinlichkeit auf den erlittenen Faustschlag auf den rechten Unterkiefer zurückzuführen, sondern genetisch bedingt. Ihm genügte für diese Einschätzung bereits eine Latenz von vier Jahren, da er den Beginn der ersten Behandlung in der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Krankenhauses B. im Jahr 2008 sah. Demgegenüber erfolgte sie dort erst Mitte August 2010. Die erste fachärztliche Konsultation fand bei dem sachverständigen Zeugen Dr. R. Ende April 2010 statt, also sogar sechs Jahre nach der stattgehabten Gewalteinwirkung, weshalb ein Ursachenzusammenhang mangels eines zuvor behandlungsbedürftigen psychischen Leidens, etwa ob der Kenntnisnahme von der Einstellung des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens, umso mehr ausgeschlossen ist, ohne dass es darauf ankommt, ob der sexuelle Übergriff, dem der Kläger in seiner Jugend einmalig ausgesetzt war und der nach seinen Angaben gegenüber Dr. P. bei dem streitgegenständlichen Ereignis hochkam, einen Beitrag zu der Entstehung einer der Krankheiten geleistet hat.

Eine Kausalität zwischen dem schädigenden Vorgang und den sonstigen Krankheiten, an denen der Kläger leidet, wie insbesondere ein Tennisellenbogen beidseits, ein Lenden- und Iliosakralgelenksyndrom, eine Lumbalgie, eine Achillodynie beidseits, eine entzündlich rheumatische Erkrankung, eine Hochtonschwerhörigkeit sowie einen Tinnitus wird von ihm nicht angeführt und liegt mangels Anhaltspunkt zudem fern.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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