L 2 R 284/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 3073/15
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 284/18
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 8. Januar 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt eine höhere Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 statt 0,892.

Mit Ausführungsbescheid vom 19. Mai 2015 gewährte die Beklagte der am 19. Mai 1963 geborenen Klägerin ausgehend von einem Leistungsfall am 1. Dezember 2011 bis zum 31. März 2030 (Monat des Erreichens der Regelaltersgrenze) eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, beruhend auf dem Prozessvergleich vor dem Landessozialgericht vom 26. Februar 2015 (Az.: L 9 R 4506/13). Bei der Rentengewährung legte die Beklagte wegen Inanspruchnahme der Rente vor Vollendung des 63. Lebensjahres einen verminderten Zugangsfaktor von 0,892 zu Grunde (Anlage 6 zum Bescheid).

Hiergegen erhob die Klägerin am 26. Mai 2015 Widerspruch. Die Kürzung des Zugangsfaktors nach § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) sei verfassungswidrig.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Juni 2015 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 9. Juli 2015 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der von der Beklagten zitierte Beschluss des BVerfG spreche auf Grund des RV - Leistungsverbesserungsgesetzes nicht gegen, sondern für ihre Auffassung. Die Kürzung des Zugangsfaktors auch noch nach Inkrafttreten des RV - Leistungsverbesserungsgesetzes verstoße gegen die Eigentumsgarantie aus Artikel 14 Grundgesetz (GG).

Die Beklagte ist der Klage entgegen getreten. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Minderung des Zugangsfaktors beruhe auf § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI in der Fassung vom 20. Dezember 2000. Diese Minderung sei bereits vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als vereinbar mit dem Grundgesetz betrachtet worden (Beschluss vom 11. Januar 2011, Az.: 1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09). Demnach sei die Minderung geeignet und erforderlich, um die Finanzierung der gesetzlichen Rentenversicherung sicher zu stellen und sie belaste die Betroffenen nicht übermäßig, zumal im Gegenzug die Zurechnungszeit aufgewertet werde. Von den Neuregelungen des zum 1. Juli 2014 in Kraft getretenen RV-Leistungsverbesserungsgesetzes sei die Klägerin bei ihrem Rentenbeginn zum 1. Dezember 2011 nicht betroffen. Diese Neuregelung gelte nur für alle neuen Renten ab 1. Juli 2014.

Mit Gerichtsbescheid vom 8. Januar 2018 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen auf die zutreffenden Gründe des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 2015 Bezug genommen. Weiter hat es ausgeführt, dass § 77 SGB VI auch seit Inkrafttreten des RV - Leistungsverbesserungsgesetzes keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken begegne. Einen Anspruch auf abweichend von § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI abschlagsfreie Rente wegen Erwerbsminderung könne die Klägerin insbesondere nicht aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den RV-Leistungsverbesserungsgesetz vom 1. Juli 2014 ableiten. Denn insoweit lägen keine gleichgelagerten Sachverhalte vor, deren gleiche Behandlung verfassungsrechtlich geboten wäre. Der Gesetzgeber habe im Übrigen auch unter Beachtung der grundrechtlichen Eigentumsgarantie, deren Inhalt und Schranken er selbst bestimme, bzgl. seiner Pflicht zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einen breiten Gestaltungsspielraum bei Einführung, Einschränkung oder Erweiterung sozialversicherungsrechtlicher Leistungsansprüche. Auch fiskalische Erwägungen seien hierbei grundsätzlich zulässig. Solche könne der Gesetzgeber entsprechend seiner jeweiligen Zielvorstellungen im Laufe der Zeit unterschiedlich stark gewichten, ohne gleich mit der Verfassung in Konflikt zu geraten.

Gegen das dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 11. Januar 2018 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser für die Klägerin am 19. Januar 2018 schriftlich beim Landessozialgericht Berufung eingelegt. Diese begründet er damit, dass die Beschlüsse des BVerfG vom 11. Januar 2011 die Auffassung der Klägerin stützten. Das BVerfG habe klar hergeleitet, wann ein Eingriff in von Art. 14 GG gestützten Rentenanwartschaften und Rentenansprüche zulässig sei und wann nicht. Nur die finanzielle Notsituation der gesetzlichen Rentenversicherung rechtfertige einen Eingriff in Rentenanwartschaften. Durch das RV - Leistungsverbesserungsgesetz vom 1. Juli 2014 sei jedoch bewiesen, dass die Rentenversicherung keine Notlage mehr aufweise. Die Vorgehensweise des Gesetzgebers sei verfassungswidrig, denn es könne nicht sein, dass die eine Hälfte der Versichertengemeinschaft mit Belastungen versehen weiter existiere und damit die Wohltat gegenüber der anderen Versichertengemeinschaft, z.B. Verdoppelung der Kindererziehungszeiten für die Zeit vor 1992 und Rente mit 63 ohne Abschläge für bestimmte Jahrgänge, bei nicht bestehenden Notlage finanziere. Insoweit sei Art. 3 GG betroffen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 8. Januar 2018 aufzuheben und ihr unter Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 19. Mai 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 2015 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 1. Juli 2014 unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten sowie die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG - ).

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Die gemäß §§ 143, 144 Abs. 1 SGG statthafte Berufung ist zulässig; sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0.

Das SG hat insoweit zutreffend unter Darstellung der hier maßgeblichen gesetzlichen Normen in nicht zu beanstandender Weise einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors von 1,0 verneint. Auf die Begründung des SG nimmt der Senat Bezug und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Unter Berücksichtigung der Berufungsbegründung ist noch zu ergänzen, dass sich der Zugangsfaktor gemäß § 77 Abs. 1 SGB VI nach dem Alter des Versicherten bei Rentenbeginn richtet und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrages der Rente als persönlichen Entgeltpunkt zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor liegt für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rentengewährung waren gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Die Kürzung des Zugangsfaktors als solches und für die gesamte Dauer des Rentenbezuges ist mit dem GG vereinbar (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 11. November 2008, 1 BvR 3/05 veröffentlicht in Juris; Nichtannahmebeschluss vom 5. Februar 2009, 1 BvR 1631/04 u.a. in Juris), da es sich hierbei um eine zum Schutz der Funktions- und Leistungsfähigkeit der Rentenversicherung zulässige gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG) handelt und diese den angewandten Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht verletzt. Dies gilt auch nach Inkrafttreten des Rentenversicherungsleistungsverbesserungsgesetzes vom 1. Juli 2014 (vgl. Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 23. März 2017 – L 10 R 3893/16 – zu einer Altersrente, veröffentlicht in Juris).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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