L 7 R 4543/17

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
7
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 15 R 539/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 7 R 4543/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 23. November 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach dem Zehnten Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) streitig.

Die 1963 in Izmir (Türkei) geborene Klägerin übersiedelte während ihrer Kindheit in die Bundesrepublik Deutschland und besuchte bis zum Schuljahr 1980/1981 die Schule. In der Zeit von Januar 1982 bis März 1986 war sie - mit Unterbrechungen - versicherungspflichtig beschäftigt. Für den 1986 geborenen Sohn D. erkannte die Beklagte die Zeit vom 1. November 1986 bis zum 31. Oktober 1988 als Kindererziehungszeit an. Für den 1989 geborenen Sohn E. lehnte Beklagte die Feststellung von Kindererziehungszeiten ab, weil eine andere Person das Kind erzogen habe. Für den 1993 geborenen Sohn K. erkannte sie die Zeit vom 1. November 1993 bis zum 31. Oktober 1996 als Kindererziehungszeit an. Im Versicherungsverlauf sind wegen der Kinderziehung die Zeiten vom 14. Oktober 1986 bis 31. Oktober 1988, vom 1. September 1991 bis 31. Oktober 1991, vom 1. November 1993 bis 31. Oktober 1996 sowie vom 1. Januar 1999 bis zum 31. Dezember 1999 als Berücksichtigungszeiten vorgemerkt und eine Pflichtbeitragszeit vom 1. September 1991 bis zum 31. Oktober 1991 verzeichnet. Nach ihren Angaben übte die Klägerin von Mai 1991 bis 1994/1995 eine selbständige Tätigkeit als Spediteurin aus, für die sie keine Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtete.

In der Zeit vom 5. Dezember 1998 bis zum 28. Dezember 1998 wurde die Klägerin im Zentrum für Psychiatrie (ZfP) W. stationär behandelt (Diagnosen: akute psychotische Episode bei Verdacht auf Erstmanifestation einer paranoid-halluzinativen Schizophrenie), aus der sie auf eigenen Wunsch und bei fehlender akuter Selbst- oder Fremdgefährdung entlassen wurde. Im Januar 1999 zog die Klägerin aus der Ehewohnung aus; die Kinder lebten seitdem bei ihrem (zwischenzeitlich geschiedenen) Ehemann.

Das Versorgungsamt H. stellte bei der Klägerin einen Grad der Behinderung in Höhe von 60 seit 14. September 2000 fest.

Die Landesversicherungsanstalt Württemberg, die Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden einheitlich Beklagte), lehnte durch Bescheid vom 4. Dezember 2000 einen Antrag der seinerzeitigen Betreuerin (das Betreuungsverfahren wurde 2002 eingestellt) der Klägerin vom 21. August 2000 auf Rente wegen Erwerbsminderung ab, weil in den letzten fünf Jahren drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht vorhanden seien. Nach den getroffenen Feststellungen bestehe Erwerbsunfähigkeit seit 21. August 2000.

Der Arzt für Neurologie und Psychiatrie M. attestierte der Klägerin unter dem 10. September 2002, dass sich im Rahmen der Vorstellung am 10. September 2002 keine Hinweise für eine schizophrene Störung gezeigt hätten, die Klägerin über Schwierigkeiten mit dem inzwischen geschiedenen Ehemann berichtet habe und von einer reaktiven Störung auszugehen sei.

Am 22. Januar 2015 beantragte die Klägerin bei der Beklagten eine Rente wegen Erwerbsminderung. In dem Antrag verneinte sie u.a. die Fragen nach weiteren, im bisherigen Versicherungsverlauf nicht aufgeführten Beitrags- und Beschäftigungszeiten, Zeiten der Berufsausbildung, Beiträge zu einem anderen Versicherungsträger bzw. Versorgungsträger im Ausland und bisher nicht angerechneten Zeiten der Kindererziehung. Sie gab an, Leistungen vom Sozialhilfeträger zu beziehen. Die Beklagte lehnte diesen Rentenantrag durch Bescheid vom 3. Februar 2015 ab, weil die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erfüllt seien. Zwar sei die Klägerin seit dem 21. August 2000 dauerhaft voll erwerbsgemindert, jedoch lägen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht vor. Eine Rente wegen Erwerbsminderung könne nur gewährt werden, wenn das Versicherungskonto der Klägerin innerhalb der letzten fünf Jahre vor Eintritt der Erwerbsminderung mindestens 36 Monate Pflichtbeiträge enthalte. In dem Zeitraum vom 21. August 1995 bis zum 20. August 2000 seien jedoch nur 15 Monate mit Pflichtbeiträgen belegt. Dagegen legte die Klägerin am 12. Februar 2015 Widerspruch ein und machte geltend, das Datum ihrer Erwerbsminderung im August 2000 sei von ihrer früheren Betreuerin in die Wege geleitet worden. Bereits seit 1994 sei sie zur Gesprächstherapie bei Dr. S. in H. gewesen, weil sie die Ehe mit einem "ausländerfeindlichen Deutschen" nicht mehr ertragen habe. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2015 zurück. Bei der Klägerin liege seit dem 21. August 2000 eine volle Erwerbsminderung auf Dauer vor. Auch sei die allgemeine Wartezeit zum 21. August 2000 erfüllt. Allerdings habe die Klägerin in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung keine drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet. Im maßgeblichen Zeitraum vom 21. August 1995 bis zum 20. August 2000 seien nach dem seit 1. Juli 2014 geltenden Recht nur 21 Monate mit Pflichtbeiträgen anstelle der vom Gesetzgeber geforderten 36 Monate vorhanden. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen wären nur erfüllt, wenn der Leistungsfall der Erwerbminderung spätestens am 30. November 1998 eingetreten wäre.

Am 21. Oktober 2015 (Schreiben vom 20. Oktober 2015) wandte sich die Klägerin erneut an die Beklagte und beantragte die Gewährung einer Rente, damit sie so schnell wie möglich ihr neues Leben im Ausland beginnen könne. Sie nahm insbesondere Bezug auf Auseinandersetzungen anlässlich der Trennung und Scheidung von ihrem Ehemann in den Jahren 1998 bis 2000. Die Beklagte wertete dieses Schreiben als Überprüfungsantrag betreffend ihren Bescheid vom 3. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2015 und lehnte diesen durch Bescheid vom 16. November 2015 ab. Seit dem 21. August 2000 liege volle Erwerbsminderung auf Dauer vor. Die Berücksichtigung eines früheren Leistungsfalles komme nicht in Betracht. Dagegen legte die Klägerin am 25. November 2015 Widerspruch ein und machte geltend, dass der Eintrittstermin der Erwerbsunfähigkeit willkürlich falsch erfasst worden sei. Auch sei das Rentenkonto willkürlich falsch erfasst worden. Seit Februar 1994 sei sie als Mutter und Frau "im Erziehungsurlaub der Selbständigen". Die Beklagte wies den klägerischen Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 2016 zurück. Nach den im Versicherungskonto gespeicherten Daten habe die Klägerin im Zeitraum 1982 bis 1991 mit Unterbrechungen Pflichtbeiträge auf Grund von versicherungspflichtigen Beschäftigungen entrichtet. Ferner liege bis Oktober 1996 eine Pflichtbeitragszeit auf Grund von Kindererziehung vor. Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung seien dem Grunde nach für die Zeit vom 14. Oktober 1986 bis zum 31. Dezember 1999 vorgemerkt. Nach den gespeicherten Daten habe die Klägerin vom 10. Dezember 1986 bis zum 31. Dezember 1998 eine mehr als geringfügige selbständige Tätigkeit ausgeübt. Volle Erwerbsminderung auf Dauer sei seit 21. August 2000 gegeben. Der zur Überprüfung gestellte Bescheid vom 3. Februar 2015 sei rechtmäßig und daher nicht nach § 44 SGB X zurückzunehmen.

Dagegen hat die Klägerin am 19. Februar 2016 Klage zum Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben und insbesondere Ausführungen zu ihrer Trennung und Scheidung von ihrem Ehemann sowie zu den stationären Aufenthalten im ZfP W. gemacht. Der 21. August 2000 sei als Datum des Eintritts ihrer Erwerbsunfähigkeit falsch erfasst. Erwerbsminderung liege seit der Therapie bei Dr. S. vor. Auch lägen anrechenbare "Ersatzzeiten" nach der Erziehungszeit ihres Sohnes K. 1996 vor. Sie habe seit der Niederkunft ihres Sohnes K. im Oktober 1993 ihre selbständige Tätigkeit als Transportunternehmerin vorerst stillgelegt. Seit ca. 1994 bis 1999 habe sie eine Gesprächstherapie bei Dr. S. durchgeführt, da ihre Ehe mit einem cholerischen gewaltbereiten Deutschen unerträglich geworden sei. Grund, weshalb sie so schwer traumatisiert sei, sei wohl der Tod ihrer Mutter im Februar 2001, als auch der Scheidungskrieg und der "deutsche staatliche Terror" in der Zeit von Herbst 1998 bis April 2002. Über viele Jahre, ca. 1995 bis Januar 1999, habe sie bei Dr. S. in H. eine reine Gesprächstherapie ohne Medikamente absolviert. Seit Herbst 2014 befinde sie sich bei dem Diplom-Psychologen G. in Behandlung. Jetzt könne sie versuchen, die Traumata zu verarbeiten, wenn diese nicht bereits chronisch verschleppt worden seien. Weiter gab die Klägerin an, dass sie seit 2000 Leistungen der Sozialhilfe beziehe und keine Berufstätigkeit verrichte. Seit ca. Herbst 2014 leide sie an Depressionen, Angstzuständen, Panikattacken und an Zusammenbrüchen. Auslöser sei eine "Zwangsunterschrift" auf dem türkischen Konsulat, die sie mit ihrem Ehenamen habe unterschreiben müssen. Seither sei sie in die Jahre 1998 bis 2002 "zurückgeworfen".

Auf Anfrage des SG hat der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. mit Schreiben vom 31. März 2016 mitgeteilt, dass sich die Klägerin 2002 einmalig zu einer psychiatrischen Untersuchung bei ihm befunden habe. Er habe das Attest vom 10. September 2002 ausgestellt (Blatt 77/78 der SG-Akten). Die Krankenkasse der Klägerin übersandte auf Anfrage des SG einen Auszug der gespeicherten Daten (Schreiben vom 8. April 2016, Blatt 133/141 der SG-Akten). Die von der Klägerin als behandelnde Ärzte benannten Dres. S./B. (Praxisnachfolger Dr. R.) und Dres. W./G. haben jeweils mitgeteilt, dass sie über keinerlei Unterlagen über die Klägerin verfügten. Dr. H. (Praxisnachfolger Dr. S.) hat mitgeteilt, dass die Klägerin in seiner Praxis nicht bekannt sei. Das ZfP W. übersandte mit Schreiben vom 10. Mai 2016 den Bericht über die stationäre Behandlung vom 8. September 2000 bis zum 15. Dezember 2000 (Blatt 148/150 der SG-Akten) sowie mit Schreiben vom 30. Juni 2016 den Bericht über den stationären Aufenthalt vom 5. Dezember 1998 bis zum 28. Dezember 1998 (Blatt 156/159 der SG-Akten).

Die Beklagte hat zu den beigezogenen medizinischen Unterlagen die sozialmedizinischen Stellungnahmen des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, Sozialmedizin, Suchtmedizin N. vom 20. Juni 2016 und 22. Juli 2016 (Blatt 153, 171 der SG-Akten) vorgelegt.

Die Klägerin hat eine Vielzahl von Unterlagen eingereicht, u.a. das Gutachten des Facharztes für Chirurgie, Notfall-, Sucht- und Verkehrsmedizin Dr. H. vom 29. April 2009 (keine Einschränkungen des psychisch-funktionalen Leistungsniveaus, Empfehlung einer psychiatrischen Begutachtung) und des Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. A. vom 20. Juni 2009 (Diagnosen: Restsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung, Zustand nach Verdacht auf reaktive psychotische Entgleisung in den Jahren 1998 bis 2000).

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens. Prof. Dr. S., Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Psychiatrischen Zentrums N. W., hat in seinem nach Aktenlage erstellten Gutachten vom 14. Mai 2017 (Blatt 272/296 der SG-Akten) zusammenfassend ausgeführt, dass in der Vergangenheit, zuletzt im Rahmen der stationären Behandlung bis zum 15. Dezember 2000, eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis vorgelegen habe. Bei kritischer Würdigung der aktenkundigen Dokumentationen sei rückblickend für die Behandlungsepisoden 1998 und 2000 eine paranoide Schizophrenie zu diagnostizieren. Es sei davon auszugehen, dass in der Phase der stationären Behandlung im Dezember 1998 insgesamt die Kriterien für eine paranoide Schizophrenie bereits erfüllt gewesen seien. Auf diese Gesundheitsstörung zurückführende, gravierende Leistungsbeeinträchtigungen hätten mit praktischer Sicherheit in den Tagen, mindestens wenige Wochen vor der stationären Aufnahme am 5. Dezember 1998 vorgelegen. Bei der Schizophrenie handele es sich in der Regel um eine schwerwiegende, zumeist chronisch verlaufende Erkrankung, die bei einem Großteil der Betroffenen zu deutlichen und längerfristigen Funktionseinbußen in den Bereichen kognitive Leistung, emotionale Stabilität und Kommunikationsfähigkeit führe. Passend finde sich im Leistungsverzeichnis der Krankenkasse für das Jahr 1999 eine Krankschreibungsepisode vom 5. August 1999 bis zum 30. August 1999 wegen einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in die stationäre Behandlung im September 2000 habe eine schwer ausgeprägte Psychopathologie vorgelegen, die sich nach klinischer Erfahrung nicht von heute auf morgen entwickelt habe. Ob die Klägerin überhaupt nach der ersten stationär-psychiatrischen Behandlung eine Vollremission erzielt habe, sei nicht überprüfbar. Ob es im Zusammenhang mit der zweiten stationären Aufnahme zu einem eigentlichen Krankheitsrezidiv oder aber nur zu einer Akzentuierung einer Symptomatik, die vorher gar nicht vollständig abgeklungen gewesen sei, gekommen sei, könne nach den vorliegenden Behandlungsdokumenten nicht entschieden werden. Grundsätzlich könnten schizophrene Erkrankungen episodisch verlaufen mit voller Remission und fehlender Beeinträchtigung zwischen den Krankheitsepisoden. Es könnten aber sehr wohl mehr oder minder stark ausgeprägte Restsyndrome bestehen bleiben. Es ließen sich durchaus Faktoren identifizieren, die für einen günstigen Krankheitsverlauf zwischen beiden Behandlungsepisoden sprächen (Geschlecht, hohes Alter bei Ersterkrankung, Vorliegen von affektiven Symptomen bei der ersten und zweiten stationären Behandlung, das Bestehen situativer Auslöser). Nach der ersten stationären Behandlung wegen einer psychotischen Störung hätten zumindest gravierende qualitative Leistungsdefizite in den folgenden Monaten bestanden. Auch die quantitative Arbeitsbelastung sei - selbst bei Vollremission nach einer psychotischen Episode - zumindest für eine Übergangsphase nicht gegeben. Bei bester Remission und optimalen sozialen Rahmenbedingungen würde die Wiedereingliederung in eine Berufstätigkeit kleinschrittig durchgeführt. Ob aber überhaupt bei der Klägerin zwischen der ersten und zweiten stationären Behandlung für einen längeren Zeitraum eine vollschichtige Belastung, selbst bei Berücksichtigung qualitativer Leistungsdefizite gegeben gewesen sei, sei mit den vorliegenden Informationen nicht zu belegen. Die mehrwöchige Krankschreibung im August 1999 wegen Schizophrenie spreche gegen eine uneingeschränkte Erwerbsfähigkeit zwischen den stationär-psychiatrischen Behandlungsepisoden. Weiterhin sei zu beachten, dass die zweite stationäre Behandlung auf Veranlassung der seinerzeitigen Betreuerin mit richterlichem Beschluss durchgeführt worden sei. Von Interesse sei, welche Umstände zur Bestellung einer gesetzlichen Betreuung sowie zur Einweisung in die psychiatrische Klinik geführt hätten. Die relevante Frage nach einer gesundheitlich bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit vor dem 21. August 2000 lasse sich mit den vorhandenen Unterlagen nicht beurteilen.

Zu dem Gutachten des Prof. Dr. S. hat die Beklagte eine weitere sozialmedizinische Stellungnahme des Psychiaters N. vom 1. Juli 2017 (Blatt 302/303 der SG-Akten) vorgelegt.

Auf Anfrage des SG hat das Amtsgericht Heilbronn - Abteilung für Betreuungssachen - mitgeteilt, dass keine Unterlagen über die Klägerin vorhanden seien (Blatt 393 der SG-Akten). Das Amtsgericht K. hat mit Schreiben vom 19. September 2017 (Blatt 416 der SG-Akten) ausgeführt, dass zwar Anträge im Betreuungsregister gefunden worden seien, jedoch keine Akten. Es könne nicht nachvollzogen werden, was mit den Akten geschehen sei. Die damals betrauten Mitarbeiter seien nicht mehr beim Amtsgericht K. tätig. Anhand der Registereintragungen könnten keinerlei Aussagen getroffen werden. Das Amtsgericht Heilbronn teilte mit Schreiben vom 9. Oktober 2017 auf erneute Anfrage des SG mit, dass kein Betreuungs- bzw. Unterbringungsverfahren bezüglich der Klägerin dort anhängig gewesen seien (Blatt 447 der SG-Akten).

Das SG hat - nach Anhörung der Beteiligten - durch Gerichtsbescheid vom 23. November 2017 die Klage abgewiesen. Die zulässige Klage sei nicht begründet. Der Bescheid vom 16. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Januar 2016 sei rechtmäßig und verletze die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente unter Rücknahme des Bescheids vom 3. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juli 2015. Verfahrensrechtlich sei der Anspruch an § 44 SGB X zu messen. Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X sei ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden sei, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergebe, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden sei, der sich als unrichtig erweise, und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden seien. Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI hätten Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie 1. teilweise erwerbsgemindert seien, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung hätten und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert seien gemäß § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande seien, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden erwerbstätig zu sein. § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI bestimme, dass Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung hätten, wenn sie 1. voll erwerbsgemindert seien, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit hätten und 3. vor dem Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt hätten. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI seien voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande seien, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die Beklagte habe in ihrem Bescheid vom 3. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juli 2015 weder das Recht unrichtig angewandt, noch sei sie von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unzutreffend erweise. Vielmehr habe die Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2015 zu Recht darauf hingewiesen, dass die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente letztmalig bei einem Leistungsfall am 30. November 1998 erfüllt seien. Unter Berücksichtigung des im Rahmen des Klageverfahrens ergangenen Feststellungsbescheids der Beklagten vom 1. Juli 2016 und des darin enthaltenen Versicherungsverlaufs lägen in den letzten fünf Jahren vor dem Monat des Eintritts der hier streitigen Erwerbsminderung letztmalig im Monat November 1998 noch drei Jahre Pflichtbeiträge vor. Es sei jedoch nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen, dass die Klägerin bereits im November 1998 dauerhaft erwerbsgemindert gewesen sei. Die Klägerin leide unter einer paranoiden Schizophrenie. Dies entnehme das Gericht dem von Amts wegen eingeholten Gutachten nach Aktenlage von Prof. Dr. S. vom 14. Mai 2017. Auf Grund dieser Erkrankung habe sich die Klägerin erstmals am 5. Dezember 1998 bis zum 28. Dezember 1998 und dann vom 8. September 2000 bis 15. Dezember 2000 in stationärer Behandlung im ZfP W. befunden. Prof. Dr. S. führe für das Gericht nachvollziehbar aus, dass bei der Klägerin mit praktischer Sicherheit in den Tagen, mindestens wenige Wochen vor der ersten stationären Aufnahme am 5. Dezember 1998 gravierende Leistungsbeeinträchtigungen vorgelegen hätten, jedoch ergebe sich aus dem Gutachten nicht, dass die Klägerin bereits im November 1998 dauerhaft voll erwerbsgemindert gewesen sei. Prof. Dr. S. gebe weder eine genaue zeitliche Einschätzung des Leistungsvermögens der Klägerin an noch führe er aus, dass die Klägerin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bereits im November 1998 dauerhaft voll erwerbsgemindert gewesen sein. Vielmehr diskutiere Prof. Dr. S. lediglich die Möglichkeit einer Remission zwischen der ersten und zweiten stationären Behandlung der Klägerin. Aus diesen Ausführungen des Gutachters gehe für das Gericht nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hervor, dass die Klägerin bereits im November 1998 dauerhaft erwerbsgemindert gewesen sein, was jedoch Voraussetzung für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente sei. Weitere medizinische Unterlagen habe das Gericht erfolglos beizuziehen versucht. Nach alledem lasse sich eine bereits im November 1998 vorliegende dauerhafte Erwerbsminderung nicht sicher nachweisen. Dies gehe zu Lasten der Klägerin, da sie für den Nachweis einer zeitlichen Einschränkung ihres Leistungsvermögens auf Grund der bei ihr vorliegenden paranoiden Schizophrenie spätestens im Zeitpunkt der letztmöglichen Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzung im November 1998 beweisbelastet sei. Grundsätzlich trage derjenige, der einen Anspruch auf Rente geltend mache, die objektive Beweislast für die funktionellen Auswirkungen seiner psychischen Störung auf die Erwerbsfähigkeit (unter Hinweis auf Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 20. Oktober 2004 - B 5 RJ 48/03 R -).

Gegen diesen Gerichtsbescheid wendet sich die Klägerin - unter Wiederholung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens - mit ihrer am 29. November 2017 beim SG eingelegten Berufung. Die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie sei falsch. Die Erkrankung einer Schizophrenie sei eine "willkürlich und tollkühne Erfindung", um die rechtswidrigen Aufenthalte im ZfP W. im Dezember 1998 sowie von September bis Dezember 2000 zu verdunkeln. Auch sei es nicht richtig, dass sie keinen Beruf erlernt habe. Sie sei seit 1982 als qualifizierte Berufskraftfahrerin im elterlichen Transportunternehmen tätig gewesen. Sodann habe sie bis ca. Februar 1994, bis zur Stilllegung ihres Betriebes als selbständige Transportunternehmerin, gearbeitet. Ihre Fahrerlaubnis sei ihr im Jahr 2012 von den Verkehrsbehörden K. widerrechtlich entzogen worden. Auch sei zu berücksichtigen, dass sie seit ca. Sommer 1971 für ihre weiteren fünf Geschwister eine Art Ersatzmutter gewesen sei, weil ihre Mutter schwer erkrankt gewesen sei. In der Zeit vom 20. Januar 1982 bis zum 16. November 1982 habe sie als Springerin bei der Firma Mustang in K. gearbeitet. Laut Versicherungsverlauf der Beklagten seien für die Zeit vom 1. Juni 1983 bis zum 30. Juni 1983 Beiträge entrichtet worden, tatsächlich habe sie ca. zehn Monate diverse Tätigkeiten bzw. Praktika in Büros bei einer türkischen Import-/Exportfirma verrichtet. In der Zeit vom 23. Januar 1984 bis zum 23. März 1984 sei sie bei einer Firma Keller tätig gewesen. Ab 7. April 1984 bis März 1986 sei sie im elterlichen Betrieb tätig gewesen. Ab Oktober 1987 habe sie ihre eigene selbständige Tätigkeit als Transportunternehmerin vorbereitet. Im September und Oktober 1991 habe sie als Aushilfe bei ihrem Bruder, ebenso Transportunternehmer, zusätzlich zu ihrer eigenen Selbständigkeit als Aushilfe gearbeitet. Im Februar 1994 habe sie ihren selbständigen Betrieb wegen der Schwangerschaft mit ihrem dritten Sohn stillgelegt. Ihre Lebensplanung, ihre Selbständigkeit in den Jahren 2000 bis 2003 wiederaufzunehmen, sei durch den "erpresserischen Kindesraub" zerstört worden.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 23. November 2017 aufzuheben und die Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 16. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Januar 2016 zu verurteilen, ihr unter Rücknahme des Bescheids vom 3. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juli 2015 auf ihren Antrag vom 22. Januar 2015 hin unter Annahme eines Leistungsfalls spätestens am 30. November 1998 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, höchst hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit ab dem 1. Januar 2015 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hat mitgeteilt, dass die Rentenakten aus dem Jahr 2000 im Jahr 2014 vernichtet worden seien.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Verfahrensakten des SG und des Senats Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

1. Die Berufung ist zulässig, sie ist gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegt worden sowie statthaft (§143 SGG), weil die Berufung wiederkehrende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).

2. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 16. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Januar 2016 (§ 95 SGG), mit dem die Beklagte die Korrektur des Bescheids vom 3. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juli 2015 sowie die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung rückwirkend ab 1. Januar 2015 (entsprechend ihrem Antrag vom 22. Januar 2015) abgelehnt hat. Zwar ist im Zweifel davon auszugehen, dass ein Antragsteller alles zugesprochen haben möchte, was ihm aufgrund des Sachverhalts zusteht (vgl. BSG, Urteil vom 17. Februar 2005 - B 13 RJ 1/04 R - juris Rdnr. 15; Urteil vom 11. November 1987 - 9 a RV 22/85 - juris Rdnr. 11), jedoch ist die gerichtliche Entscheidung vorliegend auf die Prüfung begrenzt, ob der im Zugunstenverfahren angegriffene Bescheid vom 3. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juli 2015 fehlerhaft war, weil vorliegend zwischen den Beteiligten in erster Linie streitig ist, ob eine Erwerbsminderung im Zeitpunkt des letztmaligen Vorliegens der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (nach Auffassung der Beklagten am 30. November 1998) bestanden hat und zwischenzeitlich im Hinblick auf den seit 2000 ununterbrochenen Bezug von Sozialhilfeleistungen keine Änderung in den Versicherungszeiten der Klägerin eingetreten sind. Nachdem die Klägerin wiederholt eine berufliche Qualifikation geltend gemacht hat, macht sie in der Sache eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, höchst hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit geltend. Dieses Begehren verfolgt die Klägerin zulässigerweise im Wege der kombinierten Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 4, 56 SGG; vgl. BSG, Urteil vom 28. Februar 2013 - B 8 SO 4/12 R - juris Rdnr. 9).

Nicht Gegenstand des Verfahrens sind Ansprüche der Klägerin nach dem Opferentschädigungsgesetz wegen des ihr aus ihrer Sicht anlässlich der Trennung und Scheidung von ihrem Ehemann zugefügten Unrechts. Weiterhin sind auch (rentenrechtliche) Ansprüche der (verstorbenen) Mutter der Klägerin nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens.

3. Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg. Der Bescheid vom 16. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Januar 2016 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung ab 1. Januar 2015.

a. Verfahrensrechtliche Grundlage für das Überprüfungsbegehren der Klägerin ist die Bestimmung des § 44 SGB X. Hiernach ist, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind, der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheids vom 3. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 1. Juli 2015 liegen nicht vor. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab 1. Januar 2015.

b. Nach § 43 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI) in der ab 1. Januar 2002 geltenden Fassung (Gesetz vom 19. Februar 2002, BGBl. I, S. 754), die auf den im Januar 2015 gestellten Rentenantrag Anwendung findet, haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres (in der ab 1. Januar 2008 geltenden Fassung gemäß Gesetz vom 20. April 2007 [BGBl. I, S. 554] bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze) Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können, und Versicherte, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren, in der Zeit eine nicht erfolgreichen Eingliederung in den allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI). Versicherte haben nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres bzw. bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn neben den oben genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen eine teilweise Erwerbsminderung vorliegt. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).

c. Die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit von fünf Jahren (§ 50 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI), auf die Kalendermonate mit Beitragszeiten angerechnet werden (§ 51 Abs. 1 SGB VI), erfüllt. Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bzw. Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB VI lagen letztmalig im November 1998 vor, da ausweislich des Versicherungsverlaufs vom 1. Juli 2016 in dem um einen Monat aufgrund der Anrechnungszeit wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft (§ 58 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI) verlängerten Zeitraum vom 1. November 1993 bis zum 30. November 1998 letztmalig 36 Kalendermonate mit Pflichtbeiträgen belegt sind. Der Versicherungsverlauf der Klägerin weist letztmalig im Oktober 1996 eine Pflichtbeitragszeit wegen Kindererziehung auf. Sie hat nach ihrem eigenen Vorbringen weder eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt noch entsprechende Pflichtbeiträge an die Beklagte abgeführt, sondern ihre - im Übrigen - nicht versicherungspflichtige (vgl. § 2 SGB VI) - selbständige Tätigkeit als Spediteurin 1994 oder 1995 aufgegeben und auch in der Folgezeit nicht mehr aufgenommen. Seit 2000 bezieht sie laufende Leistungen der Sozialhilfe. Im Anschluss an den letzten mit einer Pflichtbeitragszeit belegten Kalendermonat Oktober 1996 bestehen keine relevanten Aufschubzeiten nach § 43 Abs. 4 SGB VI, insbesondere keine Anrechnungszeiten i.S. des § 58 SGB VI. Die von der Klägerin vorgebrachten Sachverhalte ("rechtswidrige" Aufenthalte in dem ZfP W.," rechtswidrige" Gerichtsentscheidungen anlässlich der Trennung und Scheidung von ihrem Ehemann, Entzug der Fahrerlaubnis 2012, Versorgung ihrer Geschwister während der Erkrankung ihrer Mutter 1971 etc.) begründen keine weiteren im vorliegenden Rechtsstreit relevanten rentenrechtlichen Zeiten. Schließlich führen auch die von Klägerin geltend gemachten weiteren Versicherungszeiten aufgrund von Tätigkeiten in den Jahren 1982, 1983 und 1984 (die Aushilfstätigkeit in der Firma ihres Bruders in den Monaten September und Oktober 1991 hat die Beklagte ohnehin als Pflichtbeitragszeit erfasst) nicht zur Erfüllung der besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, weil diese weit außerhalb des maßgeblichen Zeitrahmens liegen. Schließlich käme unabhängig von der Frage, ob die Klägerin u.a. in der Zeit vom 1. November 1996 bis zum 31. Dezember 1998 eine mehr als geringfügige selbständige Tätigkeit ausgeübt hat, eine Berücksichtigungszeit wegen der Erziehung ihres 1993 geborenen Kindes K. allenfalls bis zum 31. Dezember 1998 in Betracht, weil sie dieses Kind nach ihrem Auszug zum 1. Januar 1999 (vgl. z.B. Schreiben der Klägerin vom 19. Februar 2018, Schreiben der Stadt H. vom 21. Dezember 1999) aus der vormaligen Ehewohnung nicht mehr erzogen hat (§§ 43 Abs. 4 Nr. 2, 57 Satz1, 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VI).

Ein Ausnahmefall, bei dessen Vorliegen ausnahmsweise die Erfüllung der genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen nicht erforderlich ist, liegt im Falle der Klägerin nicht vor. Es ist kein Tatbestand eingetreten, durch den die allgemeine Wartezeit vorzeitig erfüllt worden ist (§§ 43 Abs. 5, 53 SGB VI). Auch liegt kein Fall des § 241 Abs. 2 Satz 1 SGB VI vor. Danach sind Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit für Versicherte nicht erforderlich, die vor dem 1. Januar 1984 die allgemeine Wartezeit erfüllt haben, wenn jeder Kalendermonat vom 1. Januar 1984 bis zum Kalendermonat vor Eintritt der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit mit Beitragszeiten (Nr. 1), beitragsfreien Zeiten (Nr. 2), Zeiten, die nur deshalb nicht beitragsfreie Zeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag, eine beitragsfreie Zeit oder eine Zeit nach Nrn. 4, 5 oder 6 liegt (Nr. 3), Berücksichtigungszeiten (Nr. 4), Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit (Nr. 5) oder Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 (Nr. 6) (Anwartschaftserhaltungszeiten) belegt ist oder wenn die Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit vor dem 1. Januar 1984 eingetreten ist. Ausweislich des Versicherungsverlaufs ist nicht jeder Kalendermonat bis zum 30. November 1998 mit Anwartschaftserhaltungszeiten belegt. Vielmehr weist dieser Lücken auf, beispielsweise von April bis August 1986, von November 1988 bis März 1989, von September 1989 bis August 1991 sowie von November 1991 bis August 1993. Mithin haben letztmalig im November 1998 die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die hier streitige Erwerbsminderungsrente vorgelegen.

d. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass die Klägerin durchgehend seit November 1998 erwerbsgemindert ist. Er vermochte nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) nicht festzustellen, dass die Klägerin wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden erwerbstätig zu sein.

Die Tatsachengerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben von Amts wegen (§ 103 SGG) mit Hilfe (medizinischer) Sachverständiger (§ 106 Abs. 3 Nr. 5 SGG) zu ermitteln und festzustellen, a) Art, Ausprägung und voraussichtliche Dauer der Krankheit(en) oder Behinderung(en), an denen der Versicherte leidet, b) Art, Umfang und voraussichtliche Dauer der quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen (Minderbelastbarkeiten, Funktionsstörungen und -einbußen) sowie den c) Ursachenzusammenhang ("wegen") zwischen a) und b) (z.B. BSG, Urteil vom 9. Mai 2012 - B 5 R 68/11 R - juris Rdnr. 13).

Der Senat ist vom Vorliegen einer psychischen Erkrankung, die die Klägerin bei zumutbarer Willensanspannung aus eigener Kraft nicht zumindest soweit überwinden kann, dass sie leichte Tätigkeiten sechs Stunden arbeitstäglich ausüben kann, bereits für die Zeit ab 1. November 1998 nicht überzeugt. Grundsätzlich handelt es sich - auch soweit psychische Leiden vorliegen - um Krankheiten im Sinne von § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, d.h. um regelwidrige Körper- bzw. Geisteszustände, die geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit herabzusetzen (BSG, a.a.O. Rdnr. 14). Voraussetzung ist nach der Rechtsprechung des BSG jedoch, dass der Versicherte sie auch bei zumutbarer Willensanspannung nicht aus eigener Kraft überwinden kann (BSG, Urteil vom 20. Oktober 2004 - B 5 RJ 48/03 R - juris Rdnr. 30). Für das tatsächliche Vorliegen von seelisch bedingten Störungen, ihre Unüberwindbarkeit aus eigener Kraft und ihre Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit trifft den Rentenbewerber die (objektive) Beweislast (BSG, a.a.O.).

Vorliegend haben die Ärzte des ZfP W. Prof. Dr. L./Dr. M. im Rahmen des stationären Aufenthalts vom 5. Dezember 1998 bis zum 28. Dezember 1998 eine akute psychotische Episode diagnostiziert und den Verdacht auf Erstmanifestation einer paranoid-halluzinativen Schizophrenie geäußert (vgl. zum Beweiswert einer Verdachtsdiagnose nur Freudenberg in jurisPK-SGB VI, § 43 Rdnr. 69 m.w.N.). Die Klägerin ist aus der stationären Behandlung auf eigenen Wunsch und nach Ausschluss einer akuten Selbst- und Fremdgefährdung entlassen worden. Anlässlich der erneuten stationären Behandlung der Klägerin im ZfP W. vom 8. September 2000 bis zum 15. Dezember 2000 sind die Klinikärzte Dr. H./B. von einer schizoaffektiven Störung, gegenwärtig manisch, ausgegangen. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. M. vermochte anlässlich einer einmaligen Vorstellung der Klägerin im September 2002 keine Hinweise auf eine schizophrene Störung zu erkennen und ist im Hinblick auf die Auseinandersetzungen der Klägerin mit ihrem Ehemann während der Trennung und Scheidung eher von einer reaktiven Störung ausgegangen. Der Facharzt für Chirurgie, Notfall-, Sucht- und Verkehrsmedizin Dr. H. hat in seinem Gutachten vom 29. April 2009 Einschränkungen des psychisch-funktionalen Leistungsniveaus verneint. Der Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. A. hat in seinem Gutachten vom 20. Juni 2009 die Restsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einen Zustand nach Verdacht auf reaktive psychotische Entgleisung in den Jahren 1998 bis 2000 gesehen. Weitere medizinische Befundunterlagen über die Klägerin, insbesondere über die Zeit bis 2000, sind nicht (mehr) vorhanden. So haben - auf Anfrage des SG - die von der Klägerin benannten Ärzte, die sie nach ihren Angaben bis 2000 auf nervenärztlichen Gebiet behandelt haben (vgl. Schreiben vom 3. April 2016), mitgeteilt, dass keine Behandlungsunterlagen über die Klägerin mehr vorliegen. Auch die Amtsgerichte K. und Heilbronn haben mitgeteilt, dass dort keine Unterlagen über Betreuungs- bzw. Unterbringungsverfahren betreffend die Klägerin vorhanden sind, sodass weder die Hintergründe der Anordnung und Aufhebung der Betreuung noch der Grund für die Einweisung in das ZfP W. im September 2000 aufgeklärt werden können.

Zutreffend hat Prof. Dr. S. in seinem Gutachten vom 14. Mai 2017, unabhängig von der Frage, ob im Rahmen der stationären Behandlungen überhaupt eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis vorgelegen hat, was die Klägerin vehement in Abrede stellt, u.a. unter Berücksichtigung identifizierbarer Faktoren, die jedenfalls für einen günstigen Krankheitsverlauf zwischen beiden stationären Behandlungsepisoden sprechen (Geschlecht, hohes Alter bei Ersterkrankung, Vorliegen von affektiven Symptomen bei der ersten und zweiten stationären Behandlung, das Bestehen situativer Auslöser), und der Möglichkeit einer Vollremission darauf hingewiesen, dass sich die Frage nach einer gesundheitlich bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit vor dem 21. August 2000 anhand der lückenhaften medizinischen Unterlagen nicht beurteilen lässt. Insbesondere ist es nicht möglich, Ausprägung und Dauer der psychischen Erkrankung der Klägerin sowie Art, Umfang und Dauer der daraus resultierenden quantitativen und qualitativen Leistungseinschränkungen bezogen auf November 1998, als letztmalig die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt waren, festzustellen. Dies geht zu Lasten der Klägerin, da sie die objektive Beweislast für das Vorliegen einer Erwerbsminderung trägt.

e. Schließlich hat die 1963 geborene Klägerin auch keinen Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit, weil die Übergangsregelung des § 240 SGB VI nur auf vor dem 2. Januar 1961 geborene Versicherte Anwendung findet. Daher ist die Frage, ob und welche beruflichen Qualifikationen die Klägerin erworben hat, nicht entscheidungsrelevant.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

5. Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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