S 48 AS 21/06 ER

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
48
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 48 AS 21/06 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Umzugskosten, die durch eine auswärtige Arbeitsaufnahme entstehen, sind im Sinne des § 22 Absatz 3 Satz 2 SGB II "aus anderen Gründen notwendig", so dass der Träger verpflichtet ist, die Zusicherung zu erteilen, auch wenn er den Umzug nicht "veranlasst" hat. Unter den Begriff Umzugskosten fallen alle im Zusammenhang mit und wegen des Umzugs anfallende Kosten.
Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die Zusicherung zur Übernahme derjenigen Mietaufwendungen zu erteilen, die der Antragstellerin seit 15. November 2005 und bis zum frühestmöglichen Auszug aus der Wohnung in B. durch die Anmietung der Wohnung in N. entstehen.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtschutzes von der Antragsgegnerin nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) die Übernahme von Kosten, die infolge doppelter Mietaufwendungen entstehen.

Am 25. Oktober 2005 beantragte die Antragstellerin bei der Antragsgegnerin die Übernahme jener Kosten als "Trennungskostenbeihilfe" aus Anlass ihres Umzuges von B. nach N ... Hintergrund des Umzugsvorhabens ist die Arbeitsaufnahme der Antragstellerin bei der Deutschen Z. AG zum 4. Oktober 2005 mit einer Arbeitszeit von 28 Stunden wöchentlich im Schichtdienst. Mit ihrem Antrag legte die Antragstellerin die Lohnabrechnung für Oktober 2005 in Kopie vor, aus der sich ergibt, dass der Nettoverdienst für den genannten Monat 775,36 Euro betrug. Ferner legte die Antragstellerin Kostenvoranschläge zweier Umzugsunternehmen vom 21. Oktober 2005 vor sowie den am 27. Oktober 2005 von ihr unterzeichneten Mietvertrag betreffend die oben genannte Wohnung in N., nach dem jenes Mietverhältnis am 15. November 2005 begann. Der von der Antragstellerin zu entrichtende Mietzins beträgt ausweislich des genannten Vertrages 520,00 Euro zuzüglich 100,00 Euro Nebenkosten.

Durch Bescheid vom 10. November 2005 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag der Antragstellerin mit der Begründung ab, dieser sei verspätet gestellt worden, da die Arbeitsaufnahme bereits am 4. Oktober 2005 gewesen sei und Antragstellung grundsätzlich "vor Eintritt des Ereignisses" zu erfolgen habe. Dagegen legte die Antragstellerin am 5. Dezember 2005 Widerspruch ein und trug vor, sie habe vor ihrer Arbeitsaufnahme Arbeitslosengeld II bezogen und sei alleinerziehend. Es sei ihr nicht möglich, den Umzug aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Einen Kredit könne sie nicht aufnehmen, da sie wegen ihrer Schulden bereits eine eidesstattliche Versicherung abgegeben habe. Außerdem sei es ein unzumutbarer Zustand, schon so lange von ihren Kindern getrennt zu sein. Sie wohne derzeit (in N.) in einer leeren Wohnung und habe weder einen Tisch, an dem sie sitzen und essen noch ein Bett, in dem sie schlafen könne. Die Wohnung in B., die auch bezahlt werden müsse, da sie nicht umziehen könne, sei bereits zum 30. November 2005 gekündigt worden. Da sie ihre Kinder nicht zu sich holen könne, würden diese dort weiter wohnen. Der von ihr im Jahre 2004 unterzeichneten Mobilitätsverpflichtung, dem bundesweiten Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, sei sie voll und ganz nachgekommen. Schließlich gehe die Arbeitsaufnahme auf ihre Eigeninitiative zurück.

Den Widerspruch der Antragstellerin wies die Antragsgegnerin durch Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 2005 zurück und bezog sich in der Begründung im Wesentlichen auf den angefochtenen Bescheid.

Am 5. Januar 2006 hat die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt und vorgetragen, sie arbeite seit 4. Oktober 2005 bei der Z. am Flughafen und habe vom 4. Oktober 2005 bis 15. November 2005 bei einer Freundin gewohnt. Beginnend mit dem 15. November 2005 habe sie die Wohnung in N. angemietet. Diese stehe zur Zeit noch leer, da sie sich es bisher nicht habe leisten können, ihre Möbel aus B. herbringen zu lassen. Hinsichtlich der Eilbedürftigkeit merke sie an, dass ihre Kinder noch in B. seien und sie diese schnellstmöglich zu sich holen wolle. Ohne die Gewährung einer "Trennungskostenbeihilfe" sei ihr das aber nicht möglich.

Ergänzend hat die Antragstellerin dem Gericht auf fernmündliche Nachfrage am 16. Januar 2006 erklärt, sie habe Arbeitslosengeld II bis zur Arbeitsaufnahme von der Antragsgegnerin bezogen. Sie arbeite Teilzeit in Schichtdienst am Flughafen Y ... Die Probezeit laufe im März 2006 ab. Sie sei seit 1997 geschieden, alleinerziehend und habe drei Kinder: Tochter N. (15 Jahre), Sohn A. (13 Jahre) und Sohn S.-C. (12 Jahre). Zur Zeit würden die Kinder in B. von ihrer Mutter betreut werden. Dies geschehe allerdings, indem sich die Kinder noch in ihrer alten Wohnung aufhielten und dort auch schliefen, hingegen ihre Mutter, die die Wohnung auf der gleichen Etage gegenüber bewohne, die Kinder versorge. Ihre Mutter sei im Übrigen auch die Mieterin ihrer alten Wohnung. Sie selbst sei dort Untermieterin. Zwar sei das Mietverhältnis zum 30. November 2005 gekündigt worden, die Wohnungsgesellschaft gestatte jedoch derzeit noch die Weiternutzung. Den Mietzins zahle sie aber nicht. Hierfür werde "wohl" die hinterlegte Kaution herangezogen. Dies regele zur Zeit ihre Mutter.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Zusicherung zur Übernahme derjenigen Mietaufwendungen zu erteilen, die ihr seit 15. November 2005 und bis zum frühestmöglichen Auszug aus der Wohnung in B. durch die Anmietung der Wohnung in N. entstehen.

Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.

Sie meint, die Antragstellerin habe nicht dargelegt, weshalb die einstweilige Anordnung erforderlich sei, um schwere unzumutbare, nicht wieder gutzumachende Nachteile abzuwenden. Auch werde die Sache im Hauptsacheverfahren keine Aussichten auf Erfolg haben.

Ein Mitarbeiter des Jugendamtes B. teilte dem Gericht auf Nachfrage am 16. Januar 2006 mit, die Betreuung der Kinder der Antragstellerin in B. durch deren Großmutter, die diese aber in der alten Wohnung der Antragstellerin weitgehend sich selbst überlasse, sei nur noch kurzfristig tragbar.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, der Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen ist.

II.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Denn die Antragstellerin hat einen Anspruch gegen die Antragsgegnerin auf Übernahme doppelter Mietaufwendungen als Wohnungsbeschaffungskosten.

Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtes des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch stehen insoweit in Wechselbeziehung zueinander als die Anforderungen an die Erfolgsaussichten in der Hauptsache (den Anordnungsanspruch) mit zunehmender Eilbedürftigkeit und schwere des drohenden Nachteils (dem Anordnungsgrund) sinken und umgekehrt.

Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an einen Anordnungsgrund. In der Regel ist dann dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben.

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO - i. V. m. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG). Dabei sind, soweit im Zusammenhang mit dem Anordnungsanspruch auf die Erfolgsaussichten abgestellt wird, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005, Aktenzeichen: 1 BvR 569/05). Nach dieser Rechtsprechung müssen sich die Gerichte im Übrigen stets schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen.

Bereits die summarische Prüfung führt im vorliegenden Fall zu dem Ergebnis, dass die Antragsgegnerin die Übernahme der von der Antragstellerin geltend gemachten Mietaufwendungen durch Bescheid vom 10. November 2005 zu Unrecht abgelehnt hat.

Zwar sind jene Mietaufwendungen nicht als "Trennungskostenbeihilfe" zu übernehmen, da hier freilich nicht das Dritte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB III) anzuwenden ist (vgl. dort § 53 Abs. 2 Nr. 3 c), sondern das SGB II. Denn die Antragstellerin hat bis zu ihrer Arbeitsaufnahme von der Antragsgegnerin Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende bezogen (Alg II).

Die von der Antragstellerin geltend gemachten Mietaufwendungen sind von der Antragsgegnerin allerdings als Wohnungsbeschaffungskosten i. S. d. § 22 Abs. 3 SGB II zu übernehmen.

Dem steht im vorliegenden Fall weder entgegen, dass nach § 22 Abs. 3 SGB II eine vorherige Zustimmung der Antragsgegnerin erforderlich ist, noch, dass nach Satz 1 der genannten Vorschrift von dieser eine Ermessensentscheidung zu treffen ist. Insbesondere aber kann keine Rede davon sein, dass der Antrag der Antragstellerin vom 25. Oktober 2005 etwa verspätet gestellt worden wäre wie die Antragsgegnerin meint. Diesbezüglich ist nämlich der Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme der Antragstellerin gar nicht maßgebend.

Die Antragstellerin hat vielmehr glaubhaft gemacht, dass ihr aus Gründen, die die Antragsgegnerin zu vertreten hat, zusätzliche Mietaufwendungen dadurch entstehen, dass sie seit 15. November 2005 über die Kosten für die Mietwohnung in B. hinaus auch Aufwendungen für die Wohnung in N. hat. Zwar hat die Antragstellerin angegeben, die Wohnung in B. sei zum 30. November 2005 gekündigt worden, gleichwohl entstehen ihr fortlaufend zumindest Nutzungskosten, weil sich die Wohnungseinrichtung der Antragstellerin noch vollständig dort befindet, sich deren Kinder weiterhin dort aufhalten und nicht davon auszugehen ist, dass der dortige Vermieter die Weiternutzung unentgeltlich gestattet. Hat die Antragstellerin doppelte Mietaufwendungen seit ihrer Arbeitsaufnahme in Y. am 4. Oktober 2005 noch vermieden, weil sie zunächst bei einer Freundin wohnte, so ist diese Sachlage mit der Anmietung der Wohnung in N. ab 15. November 2005 eingetreten.

Das Entstehen doppelter Mietaufwendungen hat die Antragstellerin jedoch zumutbar nicht abwenden können, denn dies ist darauf zurückzuführen, dass die Antragsgegnerin die Übernahme der Kosten für den durch die Arbeitsaufnahme der Antragstellerin bedingten Umzug von B. nach N. rechtswidrig verweigert hat, so dass die Antragstellerin bislang daran gehindert war, den Umzug durchzuführen. Diesbezüglich wird Bezug genommen auf die Gründe des Beschlusses des erkennenden Gerichts vom 17. Januar 2006 (Az.: S 48 AS 19/06 ER).

Die Antragsgegnerin ist deshalb verpflichtet, die Zusicherung zur Übernahme der Mietaufwendungen der Antragstellerin für die Wohnung in N. als Wohnungsbeschaffungskosten bis zu dem Zeitpunkt zu erteilen, von dem an der Antragstellerin die Durchführung des Umzuges von B. nach N. frühestens möglich sein wird. Denn können bei einem notwendigen Wohnungswechsel die Mietzeiträume wegen der Kündigungsfristen oder notwendiger Renovierungsarbeiten nicht nahtlos aufeinander abgestimmt werden, so können zumutbar nicht abwendbare doppelte Mietaufwendungen ("Überschneidungskosten") bei der gebotenen weiten Auslegung der Normen nach vorheriger Zustimmung als Wohnungsbeschaffungskosten übernommen werden (vgl. Berlit in LPK - SGB II § 22 Rd.-Nr. 66 mit Hinweisen auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung). Die Übernahme solcher "Überschneidungskosten" ist erst recht dann geboten, wenn - wie hier - bei einem durch auswärtige Arbeitsaufnahme bedingten notwendigen Wohnungswechsel der Leistungsträger durch rechtswidrige Verweigerung der Übernahme zustehender Umzugskosten die Entstehung doppelter Mietaufwendungen erst verursacht.

Bei derartigen Konstellationen liegt freilich hinsichtlich der Übernahme als Wohnungsbeschaffungskosten ein Fall der Ermessensreduzierung i. S. d. § 22 Abs. 3 Satz 2 SGB II vor und entfällt das Erfordernis der "vorherigen" Zusicherung schon weil der tatsächliche Geschehensablauf eine solche nicht zulässt. Zudem ist das Erfordernis vorheriger Zusicherung bereits in Fällen treuwidriger Verzögerung einer fristgerecht möglichen Entscheidung verzichtbar, was erst recht dann zu gelten hat, wenn zustehende Leistungen rechtswidrig vorenthalten werden (vgl. zum vorstehenden Berlit in LPK - SGB II § 22 Rd.-Nr. 58).

Nach alledem wäre eine Klage der Antragstellerin in der Hauptsache offensichtlich begründet, so dass die Anforderungen an dem Anordnungsgrund gering sind (s. o.) und dem Antrag auf Erlass der einstweiligen Anordnung stattzugeben war schon weil der Antragstellerin fortlaufend doppelte Mietaufwendungen entstehen, solange ihr Umzug nicht erfolgt ist. Freilich obliegt der Antragstellerin dabei die Verpflichtung, den Umzug von B. nach N. zu dem ihr frühestmöglichen Zeitpunkt durchzuführen, sobald die Antragsgegnerin auf den Beschluss des erkennenden Gerichts vom 17. Januar 2006 (Aktenzeichen S 48 19/06 ER) die Zusicherung zur Übernahme der angemessenen Umzugskosten erteilt hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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