L 18 U 212/04

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
18
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 279/00
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 18 U 212/04
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 31.03.2004 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Verletztenrente auf Grund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 22.03.1995 streitig.

Der 1962 geborene Kläger erlitt am 22.03.1995 einen Arbeitsunfall (Wegeunfall). Auf der Heimfahrt von der Arbeit musste er sein Fahrzeug wegen eines vor ihm fahrenden Pkw abbremsen, dabei fuhr ihm ein anderer Pkw hinten auf das Fahrzeug auf. Der Kläger zog sich eine Distorsion der Halswirbelsäule und eine Prellung des Brustkorbs zu (Durchgangsbericht des Dr.K. vom 22.03.1995). Der Kläger wurde wegen dieses Unfalls vom 13.10.1995 bis 09.11.1995 im Klinikum M. behandelt. Diagnostiziert wurde ein Zustand nach HWS-Schleudertrauma, Kontusion der Brustwirbelsäule/Lendenwirbelsäule, muskuläre Dysbalance im Bereich der Schulter-Nacken-Muskulatur, Wurzelreizsyndrom der unteren Lendenwirbelsäule rechts, allergisches Asthma bronchiale und eine arterielle Hypertonie. Kernspintomographische Untersuchungen ergaben einen unauffälligen Befund der Halswirbelsäule und einen Bandscheibenvorfall im Bereich L 5/S 1. Bei der stationären Behandlung des Klägers im Klinikum M. vom 08.01.1996 bis 09.01.1996 wurde ein Verdacht auf Aggravation in Bezug auf vom Kläger mehr diffuse und nicht radikulär zuzuordnende Beschwerden festgestellt. Eine erneute stationäre Behandlung erfolgte vom 04.06.1996 bis 02.07.1996 in der Klinik B. F. (Diagnose: Chronifiziertes cervikales und lumbales Schmerzsyndrom).

Die Beklagte lehnte zunächst die Anerkennung des Unfalls vom 22.03.1995 als Arbeitsunfall ab (Bescheid vom 18.07.1997). Auf den hiergegen erhobenen Widerspruch erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 18.09.1997 den Unfall als Arbeitsunfall an.

Nach Beiziehung ärztlicher Unterlagen über den Kläger und weiteren stationären Behandlungen des Klägers (06.04.1998 bis 23.04.1998 Kreiskrankenhaus Bad K. , 24.04.1998 bis 22.05.1998 Klinik B.) holte die Beklagte ein Gutachten des Chirurgen Dr.S. vom 12.11.1999 ein. Dieser kam nach Untersuchung des Klägers am 26.01.1999 zum Schluss, dass auf seinem Fachgebiet keine messbaren Folgen des Unfalls vom 22.03.1995 nachzuweisen seien. Nach Einholung einer Stellungnahme von dem Chirurgen Dr.G. vom 13.03.2000 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27.03.2000 und Widerspruchsbescheid vom 04.09.2000 die Gewährung einer Verletztenrente ab. Als Folge des Arbeitsunfalls anerkannte sie: Distorsion der Halswirbelsäule sowie Prellungen des Brustkorbes und der Lendenwirbelsäule. Die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit habe bis zum 09.05.1995 bestanden. Die darüber hinausgehende Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit sei nicht mehr Folge des Arbeitsunfalls, sondern auf ein unfallunabhängiges Cervikalsyndrom auf dem Boden einer neurovegetativen Störung, erhebliche radiologisch belegbare, unfallunabhängige degenerative Veränderungen der Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule sowie eine unfallunabhängige psychosomatische Fehlentwicklung und Fixierung zurückzuführen. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) rentenberechtigenden Grades habe der Unfall nicht hinterlassen.

Dagegen erhob der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg. Er beantragte die Anerkennung von Gesundheitsstörungen im Sinne von ständigen Schmerzen im Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäulenbereich und täglichen Kopfschmerzen als Unfallfolgen und die Gewährung einer Verletztenrente.

Das SG hörte den Orthopäden Dr.E. (Gutachten vom 07.05.2003) und den Nervenarzt Dr.N. (Gutachten vom 21.07.2003) an. Dr.E. wies darauf hin, dass keine Gesundheitsstörungen bestünden, die mit erforderlicher Wahrscheinlichkeit Folgen des Unfalls seien. Dr.N. wies darauf hin, dass durch den Unfall keine psychische Traumatisierung erfolgt sei und weder eine akute Belastungsreaktion noch eine posttraumatische Belastungsstörung wesentlich durch das Unfallereignis verursacht worden seien.

Das SG hat mit Urteil vom 31.03.2004 die Klage abgewiesen. Es ist den Ausführungen der Sachverständigen gefolgt. Entgegen den vom Kläger vorgebrachten Beschwerden sei ein auffälliger organischer objektiv fassbarer pathologischer Befund an der Halswirbelsäule nicht feststellbar gewesen. Auch die geltend gemachten Beschwerden an der Brust- und Lendenwirbelsäule seien nicht wesentlich durch das Unfallereignis verursacht worden. Weder die beim Kläger bestehende Schmerzsymptomatik an der Wirbelsäule noch die Kopfschmerzsymptomatik noch bei ihm bestehende Nervosität und Ängste seien Folgen einer unfallbedingten psychischen Gesundheitsstörung des Klägers.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Er leide insbesondere unter postoperativen Belastungsstörungen im Sinne von Fehlverarbeitungen oder psychologisch fehlender Aufarbeitung der Verletzungserlebnisse und der Verletzungsfolgen.

Der Senat hat auf Antrag des Klägers ein Gutachten des Chirurgen Prof. Dr.G. H. vom 21.06.2005 und ein persönlichkeits- und neuropsychologisches Zusatzgutachten der Dipl.-Psychologin Dr.Ch.M. vom 30.09.2005 eingeholt. Prof. Dr.H. stellte in seinem Gutachten fest, dass beim Kläger auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet Unfallfolgen nicht bestünden. Dr.M. kam zum Schluss, dass ein wesentlicher Ursachenzusammenhang der aktuell beim Kläger bestehenden Gesundheitsstörungen mit dem Unfallereignis vom 22.03.1995 auf psychologischem Fachgebiet nicht herstellbar sei. Der Kläger leide unter einer Somatisierungsstörung mit besonderer Betonung einer Schmerzsymptomatik. Die psychische Störung des Klägers habe sich nicht erst im Zusammenhang mit dem Unfallereignis entwickelt. Die vom Kläger beklagte Verstärkung der Schmerzssymptomatik seit dem Unfallereignis sei durch die beim Kläger bestehenden prämorbiden Persönlichkeitseigenschaften und Verarbeitungsstile wesentlich mitverursacht, so dass das Unfallereignis keine rechtlich wesentliche Teilursache darstelle.

Die Beteiligten haben sich zu den Gutachten nicht geäußert.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 31.03.2004 und den Bescheid der Beklagten vom 27.03.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.09.2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Schmerzen des Klägers im Bereich der Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule als Unfallfolgen anzuerkennen und Verletztenrente nach einer MdE in Höhe von mindestens 20 vH ab frühestmöglichem Zeitpunkt zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Ergänzend wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Sie ist jedoch nicht begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 27.03.2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 04.09.2000 ist rechtmäßig, so dass das SG zutreffend die Klage abgewiesen hat.

Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente, da die Voraussetzungen nicht erfüllt sind (§§ 539, 548 Abs 1, 581 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Anzuwenden sind im vorliegenden Fall noch die Vorschriften der RVO, da sich der zu beurteilende Arbeitsunfall vor dem 01.01.1997 ereignet hat (Art 36 Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz, § 212 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VII -).

Verletztenrente gemäß § 581 Abs 1 Nr 2 RVO ist nur dann zu gewähren, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalles um wenigstens 20 vH gemindert ist. Eine Gesundheitsstörung als Folge eines Arbeitsunfalles ist u.a. dann anzuerkennen, wenn zwischen dem Unfall und der Gesundheitsstörung ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Ein solcher liegt nach dem in der Gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsbegriff dann vor, wenn das Unfallereignis mit Wahrscheinlichkeit wesentlich die Entstehung oder Verschlimmerung eines Gesundheitsschadens bewirkt hat (BSGE 1, 72, 76; 12, 242, 245; 38, 127, 129; Bereiter-Hahn/Schiecke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4.Aufl, Anm 3, 3.4 zu § 548 RVO).

Die Entscheidung der Frage, in welchem Umfang die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten gemindert ist, ist eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSGE 4, 147, 149; 6, 267, 268; BSG 23.04.1987 - 2 RU 242/86 -). Die Bemessung des Grades der unfallbedingten MdE richtet sich nach dem Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Verletzten durch die Unfallfolgen und nach dem Umfang der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, betrifft in erster Linie das ärztlich-wissenschaftliche Gebiet. Doch ist die Frage, welche MdE vorliegt, eine Rechtsfrage. Sie ist ohne Bindung an ärztliche Gutachten unter Berücksichtigung der Einzelumstände nach der Lebenserfahrung zu entscheiden. Ärztliche Meinungsäußerungen hinsichtlich der Bewertung der MdE sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Einschätzung des Grades der MdE, vor allem soweit sich diese darauf bezieht, in welchem Umfang körperliche und geistige Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG in SozR 2200 § 581 Nrn 23, 27).

Auf Grund der Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr.H. und Dr.M. steht zur Überzeugung des Senates fest, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen des Arbeitsunfalls vom 22.03.1995 nicht im rentenberechtigenden Grade gemindert ist.

Der Senat geht davon aus, dass der Kläger bei dem Verkehrsunfall eine HWS-Distorsion und eine Thoraxprellung erlitten hat. Allerdings bestehen beim Kläger keine Gesundheitsstörungen mehr, die mit der im Unfallrecht erforderlichen Wahrscheinlichkeit Folgen des Arbeitsunfalls sind. Zwar berichtet der Kläger von ausgeprägten subjektiven Beschwerden im Bereich der gesamten Wirbelsäule. Hier ist es auch zu Versteifungsoperationen im Jahr 2003 und im Jahr 2005 gekommen. Prof. Dr.H. hat allerdings festgestellt, dass objektivierbare Gesundheitsstörungen morphologischer Art sich nicht finden lassen, abgesehen von den operativ versteiften Bewegungssegmenten. Damit bestehen nach Feststellung des Prof. Dr.H. auf unfallchirurgisch-orthopädischem Fachgebiet keine Unfallfolgen.

Prof. Dr.H. stellte heraus, dass der Kläger seit 1995 viele Male röntgenologisch, computertomographisch und kernspintomographisch untersucht wurde. Hierbei haben sich im Bereich der Halswirbelsäule bis zum Oktober 2004 nicht die geringsten morphologischen Veränderungen finden lassen. Erst die kernspintomographische Untersuchung am 22.10.2004 ergab eine minimal angedeutete Vorwölbung der Bandscheibe im Bereich HWK 5/HWK 6. An der unteren Lendenwirbelsäule fand sich eine Vorwölbung der Bandscheibe im Bereich L 5/S 1 erst in der kernspintomographischen Untersuchung am 16.09.2002. Die Lendenwirbelsäule war aber definitiv beim Unfall am 22.03.1995 unverletzt. Durch die Versteifungsoperationen ist es zu keinerlei Befundverbesserungen gekommen. Es wäre jedoch zu erwarten gewesen, dass es bei einer Verletzung des hier betroffenen Bewegungssegments eine Versteifungsoperation zumindestens zu einer deutlichen Beschwerdeerleichterung geführt hätte. Der vom Kläger angegebene globale über die gesamte Wirbelsäule verbreitete Schmerz und die schmerzhafte Bewegungseinschränkung der gesamten Wirbelsäule widersprechen nach Prof. Dr.H. jeder segmental-topographisch klar zuzuordnenden Verletzung.

Die persönlichkeits- und neuropsychologische Begutachtung hat ergeben, dass beim Kläger eine Somatisierungsstörung mit besonderer Betonung auf eine Schmerzsymptomatik vorliegt, die eine Beeinträchtigung auf der psychisch-emotionalen und sozial-kommunikativen Ebene sowie eine deutliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bedingt. Diese psychische Störung hat sich nicht erst im Zusammenhang mit dem Unfallereignis entwickelt. Für die vom Kläger vorgebrachte Verstärkung der Schmerzsymptomatik nach dem Unfallereignis bestehen keine organischen Befunde, die das Auftreten dieser Beschwerden erklären. Insofern ist davon auszugehen, dass die Schmerzsymptomatik auf Grund der prämorbiden Persönlichkeitseigenschaften und Verarbeitsungsstile des Klägers wesentlich mitverursacht wurde, das Unfallereignis vom 22.03.1995 aber keine rechtlich wesentliche Teilursache darstellt.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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