L 5 KR 181/05

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Regensburg (FSB)
Aktenzeichen
S 2 KR 387/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 181/05
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10.05.2005 wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitgegenstand ist die Gewährung einer medizinischen Vorsorgeleistung in Form einer Mutter-Kind-Maßnahme.

Die familienversicherte Klägerin, die geringfügig beschäftigt ist, ist Mutter von zwei Kindern (geb. 1995 und 1998) und erwartete Ende Juli 2006 ihr drittes Kind.

Ihren Antrag auf eine stationäre Mutter-Kind-Kur lehnte die Beklagte am 02.04.2004 wegen fehlender Ausschöpfung ambulanter Maßnahmen ab. Im Widerspruchsverfahren machte die Klägerin u.a. geltend, ambulante Maßnahmen seien mit erheblichem organisatorischem Aufwand verbunden, da ihr Ehemann als Fernfahrer oft fünf bis sieben Tage pro Woche abwesend sei.

Für den MDK war eine sehr schwierige sozioökonomische Lebenssituation nicht erkennbar, wohl aber angesichts ausgeschöpfter Möglichkeiten vor Ort ein Rehapotential. Für die Behandlung des Thorakalsyndroms bei Fehlstatik und die muskuläre Dysfunktion paravertebral und links am Schultergelenk seien Einrichtungen des Müttergenesungswerkes personell und apparativ nicht ausgerüstet. Besser sei eine Kompaktkur in ambulanter Form am Kurort. Eine stationäre Unterbringung sei nicht erforderlich, da die ständige Anwesenheit eines Arztes ebensowenig notwendig sei wie Mittel einer Kurklinik. Die Begleitung beider Töchter sei notwendig. Gestützt hierauf lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 22.07.2004 eine Mutter-Kind-Maßnahme ab, bot aber eine Kompaktkur an.

Im Widerspruchsverfahren wies die Klägerin darauf hin, die mit einer Kompaktkur verbundene Gesamtorganisation bedinge eine neue Stresssituation, die in einer Einrichtung des Müttergenesungswerks vermieden werde. Die Beklagte wies den Widerspruch am 07.10.2004 mit der Begründung zurück, einzelne Kurorte seien auf die Bedürfnisse von Müttern spezialisiert und stellten Kinderbetreuungsmöglichkeiten zur Verfügung. Es sei davon auszugehen, dass trotz eines gewissen organisatorischen Aufwands der Erholungseffekt auf Grund des besonderen Klimas z.B. an der Ostsee und der Ferne zum Alltag dennoch gegeben sei.

Dagegen hat die Klägerin unter Bezugnahme auf die Begutachtungsrichtlinien Vorsorge und Rehabilitation für den MDK 2001 Klage erhoben. Sie hat Bestätigungen von vier Einrichtungen des Müttergenesungswerks vorgelegt, wonach diese das Krankheitsbild der Klägerin mit ihren Mitteln behandeln können.

Demgegenüber hat die Beklagte daran festgehalten, die optimale Besserung könne durch eine Kompaktkur erzielt werden, die durch einen Kurarzt organisiert und mit Kinderbetreuung verbunden sei. Die orthopädischen Behandlungsangebote von Müttergenesungswerken seien nicht mit stationären Rehakliniken vergleichbar.

Das Sozialgericht Regensburg hat die Beklagte am 10.05.2005 dazu verurteilt, der Klägerin eine stationäre Mutter-Kind-Kur zu gewähren. Die Beklagte habe die psychosoziale Situation der Klägerin nicht ausreichend geprüft. Sie habe kein Ermessen ausgeübt, da sie die Nachrangigkeit der Mutter-Kind-Maßnahme gegenüber ambulanten Maßnahmen bejahe, die für die §§ 24 und 41 SGB V nicht gelte. Das Ermessen sei vorliegend auf Null reduziert, da eine ambulante Kompaktkur zur Linderung der Beschwerden der Klägerin nicht ausreiche.

Dagegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Das Gericht habe sein Ermessen an die Stelle des Verwaltungsermessens gesetzt, als es das Ermessen für reduziert gehalten habe. Es liege kein Ermessensnichtgebrauch vor, da sie präventive Maßnahmen vorgeschlagen und auf Kurorte mit Kinderbetreuung hingewiesen habe. Eine Ermessensreduzierung liege nicht vor, da das Gericht kein eigenes Gutachten eingeholt und das MDK-Gutachten negiert habe. Die Stufenregelung der §§ 23 Abs.2, 40 Absätze 1 und 2 SGB V gelte auch für Leistungen nach §§ 24, 41 SGB V und die Kompaktkur sei im Fall der Klägerin besser geeignet.

Im Anschluss an den Erörterungstermin vom 09.05.2006, in dem von Seiten der Berichterstatterin auf die Begutachtungsrichtlinien 2005 hingewiesen worden ist, hat die Beklagte erneut vorgetragen, dass Mutter-Kind-Einrichtungen ihres Erachtens mit ihrem Therapiespektrum nicht das leisten könnten, wozu beispielsweise eine orthopädisch ausgerichtete Rehabilitationsklinik in der Lage sei. Zudem sei wegen der bestehenden Schwangerschaft erst im Oktober/November 2006 feststellbar, welcher aktuelle Gesundheitszustand vorliege und welche Art der Maßnahme dieser Zustand erfordere.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10.05.2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich im Erörterungstermin am 09.05.2006 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den Inhalt der Beklagtenakten, der Akten des Sozialgerichts Regensburg sowie der Berufungsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig, erweist sich aber als unbegründet. Das Urteil des Sozialgerichts Regensburg vom 10.05.2005 ist nicht zu beanstanden. Die Bescheide der Beklagten vom 02.04.2004 und 22.07.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.10.2004 sind rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf eine medizinische Vorsorgeleistung in Form einer Mutter-Kind-Maßnahme.

Die Krankenkasse kann unter den in § 23 Abs.1 SGB V genannten Voraussetzungen aus medizinischen Gründen erforderliche Vorsorgeleistungen in einer Einrichtung des Müttergenesungswerks oder einer gleichartigen Einrichtung erbringen; die Leistung kann in Form einer Mutter-Kind-Maßnahme erbracht werden (§ 24 Abs.1 Satz 1 SGB V). Derartige Vorsorgeleistungen werden in Einrichtungen erbracht, mit denen ein Versorgungsvertrag nach § 111a SGB V besteht (§ 24 Abs.1 Satz 3 SGB V). Unstreitig erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen für medizinische Vorsorgeleistungen im Sinne des § 23 Abs.1 SGB V. Der MDK hat in seiner Stellungnahme vom 08.07.2004 festgestellt, die ambulanten Behandlungsmaßnahmen im Sinne des § 23 Abs.1 SGB V reichten nicht aus. Dies hat er mit der Empfehlung einer Kompaktkur im Sinne des § 23 Abs.2 SGB V unterstrichen. Die medizinische Indikation für eine Vorsorgeleistung ist daher nicht umstritten.

Zutreffend hat das Sozialgericht ausgeführt, für die Klägerin komme nur eine Mutter-Kind-Kur in Betracht. Wenn der MDK die Herausnahme der Klägerin aus ihrem sozialen Umfeld und eine Komplexleistung bejaht und darüber hinaus die Notwendigkeit der Begleitung durch die beiden Kinder feststellt, bedeutet dies zwangsläufig den Anspruch auf eine Mutter-Kind-Kur. Dies ergibt sich aus den seit Oktober 2005 maßgeblichen Begutachtungsrichtlinien Vorsorge und Rehabilitation, die vom MDK herausgegeben sind. Danach kommt eine Mutter-Kind-Leistung in Betracht, wenn das Kind während der Leistungsinanspruchnahme der Mutter nicht anderweitig betreut und versorgt werden kann und die Durchführung der Leistung für die Mutter daran scheitern kann. Weiter heißt es dort, ambulante Vorsorgeleistungen in anerkannten Kurorten nach § 23 Abs.2 SGB V kämen als Alternativen grundsätzlich nicht in Betracht. Sie können von einer Mutter mit einem bzw. mehreren kleinen Kindern in der Regel nicht genutzt werden. Damit trägt der MDK den von der Klägerin ausführlich vorgebrachten und unschwer nachvollziehbaren Bedenken Rechnung, die von der Beklagten zu Unrecht bagatellisiert werden. Auch wenn bei ambulanten Vorsorgemaßnahmen in Kurorten für Kinderbetreuung gesorgt werden kann, ist dies mit einer Betreuung in einer Mutter-Kind-Einrichtung nicht vergleichbar. Nur in Letzterer ist wegen der räumlichen Nähe dafür Sorge getragen, dass die persönliche Betreuung der Kinder durch die ständige Erreichbarkeit der Mutter gewährleistet ist.

Entgegen der Ansicht des MDK ist eine Vorsorgemaßnahme nach § 23 Abs.2 SGB V medizinisch nicht besser geeignet, einer Krankheit vorzubeugen als die Mutter-Kind-Kureinrichtungen. Zu diesem Ergebnis ist der MDK nur deshalb gekommen, weil er von mehreren falschen Annahmen ausgegangen ist. So vermochte er eine sehr schwierige sozioökonomische Lebenssituation nicht zu erkennen, so dass die Durchführung einer Mutter-Kind-Kur nicht erforderlich sei. Das Leistungsangebot in Mutter-Kind-Kuren knüpft nicht an besonders schwierige Lebenssituationen an, sondern ist auf die besonderen Bedürfnisse von Müttern/Vätern und Kindern ausgerichtet. Es berücksichtigt im Besonderen, dass für eine Zahl von Gesundheitsstörungen personen- und umweltbezogene Kontextfaktoren wie "alleinerziehend", "kinderreich", "ständiger Zeitdruck" u.ä. mit verantwortlich sind. Schwierige sozioökonomische Lebenssituationen können mit ein Grund für einen Leistungsanspruch nach § 24 SGB V sein, sie müssen es jedoch nicht.

Zu Unrecht geht der MDK auch davon aus, dass Einrichtungen des Müttergenesungswerks nicht geeignet sind, ein Rehabilitationspotential wie das der Klägerin zu behandeln. Wie sich aus den Gemeinsamen Rahmenempfehlungen zur Durchführungen von Vorsorgekuren für Mütter- und Müttergenesungskuren der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 01.10.1990 (Betriebskrankenkasse 1990, S. 821), die nach wie vor weitergelten, ergibt, sind Schwerpunkte der medizinischen Indikation nicht nur psychosomatische Erkrankungen, sondern auch Erkrankungen des Bewegungsapparates. Dies ergibt sich auch aus Bl.37 der Begutachtungsrichtlinien, wonach Indikationskriterien für eine Muter-Kind-Leistung nach § 41 SGB V auch gängige krankheitsbedingte Schädigungen sein können. Zudem haben vier der von der Klägerin angegangenen Einrichtungen des Müttergenesungswerks bestätigt, die bei der Klägerin vorliegende Krankheit adäquat behandeln zu können.

Wenn der MDK an der erforderlichen Behandlungsdichte und dem Umfang der ärztlichen Überwachung zweifelt, so bringt er damit Zweifel am ganzheitlichen Behandlungskonzept der Mutter-Kind-Kuren zum Ausdruck. Die Überlegenheit einer monokausalen, hier gezielt orthopädischen Behandlung der Beschwerden der Klägerin ist jedoch offen. Wie der MDK in seinen Begutachtungsrichtlinien darstellt, ist die Funktionsfähigkeit eines Menschen bezüglich bestimmter Komponenten der Gesundheit als eine Wechselwirkung zwischen Gesundheitsproblemen und Kontextfaktoren zu verstehen. Interventionen bezüglich einer Größe können eine oder mehrere andere Größen verändern (S.12). So erscheint es folgerichtig, dass Leistungen nach § 24 SGB V unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Lebenszusammenhänge das Ziel verfolgen, den spezifischen Gesundheitsrisiken und bestehenden Erkrankungen von Müttern und Vätern im Rahmen stationärer Vorsorgeleistungen durch eine ganzheitliche Therapie unter Einbeziehung psychologischer, psychosozialer und gesundheitsfördernder Hilfen entgegenzuwirken. Es ist inzwischen Allgemeingut, dass insbesondere Rückenschmerzen durch persönliche Belastungssituationen hervorgerufen bzw. verstärkt werden. Die Klägerin erzieht ihre beiden Kinder im Alter von sieben bzw. zehn Jahren weitgehend allein, weil ihr Ehemann aus beruflichen Gründen wochentags und häufig auch am Wochenende nicht verfügbar ist. Daneben ist sie geringfügig berufstätig. Weshalb hier das ganzheitliche Behandlungskonzept einer Mutter-Kind-Kur nicht geeignet sein sollte, erschließt sich nicht.

Der Senat teilt die Auffassung des Sozialgerichts, dass das Ermessen der Beklagten vorliegend auf Null reduziert ist. Dies deshalb, weil eine ambulante Kompaktkur in einem anerkannten Kurort als Alternative ausscheidet. Ermessen hat die Beklagte hinsichtlich Art, Dauer, Umfang, Beginn und Durchführung der Leistungen nach § 24 Abs.1 auszuüben (§ 24 Abs.2 i.V.m. § 23 Abs.5 SGB V). Der Beklagten bleibt es daher überlassen, erst nach einer ambulanten Untersuchung der Klägerin über Dauer und Gestaltung der Mutter-Kind-Kur zu entscheiden. Dabei kann auch entschieden werden, ob bereits die Voraussetzungen des § 41 SGB V vorliegen.

Weitere Sachverhaltsaufklärung ist nicht notwendig. Bei Leistungs- und Verpflichtungsklagen sind Änderungen der Sach- und Rechtslage bis zur letzten mündlichen Verhandlung zu berücksichtigen. Zwar sollen medizinische Leistungen zur Rehabilitation einen aktuellen, auf die Ziele des § 11 Abs.2 SB V ausgerichteten Behandlungsbedarf befriedigen. Ihre Notwendigkeit sowie Art und Umfang der Maßnahmen richten sich nach den gesundheitlichen Verhältnissen, die den Leistungsantrag ausgelöst haben und von der Kasse ihrer Entscheidung zu Grunde gelegt wurden. Nur der sich daraus ergebende Leistungsanspruch, nicht ein abstrakter, vom Ausgangssachverhalt losgelöster Anspruch auf Vorsorgeleistungen ist Gegenstand des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens. Dass sich der ursprüngliche Vorsorgebedarf durch die seit der Verwaltungsentscheidung 2004 eingetretene gesundheitliche Entwicklung so verändert hat, dass dem Klagebegehren die Grundlage entzogen ist, ist nicht ersichtlich.

Aus diesen Gründen war die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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