L 9 EG 3/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 4 EG 54/02
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 9 EG 3/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Würzburg vom 24.11.2005 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligte ist die Gewährung von Landeserziehungsgeld für die 1995 geborene Tochter der Klägerin streitig.

Die 1975 geborene Klägerin, eine verheiratete türkische Staatsangehörige, welche seit 1993 mit befristeten Aufenthaltserlaubnissen in Bayern lebt, brachte 1994 ih- ren Sohn A. und 1995 ihre Tochter M. zur Welt. Sie lebte seither mit ihren Kindern und ihrem Ehemann in einem gemeinsamen Haushalt in W. , betreute und erzog die Kinder und übte daneben keine Erwerbstätigkeit aus. Sie war bei der BKK V. H. krankenversichert.

Am 02.01.1996 beantragte die Klägerin Bundeserziehungsgeld (BErzG) für ihre Tochter M ... Mit Bescheid der Familienkasse beim Amt für Versorgung und Familienförderung A. vom 11.01.1996 erhielt sie für den 1. mit 12. Lebensmonat des Kindes BerzG in voller Höhe. Auf weiteren Antrag vom 01.10.1996 wurde mit Bescheid vom 09.10.1996 BerzGG in voller Höhe auch für den 13. mit 22. Lebensmonat bewilligt. Ab dem 23. Lebensmonat wurde aufgrund der abgelaufenen Aufenthaltserlaubnis kein BErzGG mehr bewilligt.

Bezüglich ihres Sohnes A. hatte die Klägerin im Anschluss an den Bezug von BErzG bereits am 14.06.1995 Landeserziehungsgeld (LErzG) beantragt. Mit Bescheid vom 23.08.1995 lehnte der Beklagte die Gewährung von LErzG ab, da die Klägerin nach dem Bayer. Landeserziehungsgeldgesetz als türkische Staatsangehörige nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis gehöre. Dieser Bescheid wurde von der Klägerin nicht angefochten.

Erstmals am 04.03.2002 stellte die Klägerin beim Amt für Versorgung und Familienförderung W. Antrag auf Bewilligung von LErzG für ihre Tochter M ... Mit Bescheid vom 18.04.2002 lehnte der Beklagte die Gewährung von LErzG aufgrund der Rechtsprechung des EuGH ab, nach welcher auch türkische Staatsange- hörige nur dann Anspruch auf Landeserziehungsgeld haben, wenn der mögliche Leistungszeitraum nach Erlass des maßgeblichen Urteils am 04.05.1999 liegt. Dies sei für die Tochter der Klägerin nicht der Fall, da ein möglicher Anspruch auf LErzG bereits am 16.11.1998 geendet habe.

Am 03.05.2002 legte die Klägerin durch ihre Bevollmächtigten gegen den Bescheid vom 18.04.2002 Widerspruch ein, welcher mit Widerspruchsbescheid vom 09.08.2002 unter Hinweis auf das Stichtagsprinzip als unbegründet zurückgewiesen wurde. Es könne daneben offen bleiben, ob die Klägerin auch die übrigen Anspruchsvoraussetzungen erfülle.

Am 27.08.2002 erhob die Klägerin Klage Zum Sozialgericht (SG) Würzburg. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass nach der Rechtsprechung des BSG die zeitliche Grenze des EuGH-Urteils vom 04.05.1999 nicht gelte, soweit das Fehlen eines offenen Ausgangsverfahrens auf einem gravierenden Verfahrensverstoß des Beklagten beruhe. Dies sei bei der Klägerin der Fall, da eine Antragstellung gar nicht möglich gewesen sei. Die ursprünglich ausgehändigten Antragsformulare für LErzG seien der Klägerin abhanden gekommen. Die nochmalige Aushändigung entsprechender Antragsformulare sei vom Beklagten unter Hinweis auf den Ausschluss von Nicht-EU-Bürgern verweigert worden. Neben einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne sich die Klägerin insoweit auch auf den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch berufen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 14.11.2005 vernahm das SG den Ehemann der Klägerin als Zeugen. Dieser gab an, er habe im Oktober 1997 persönlich zusammen mit der Klägerin das LErzG für M. beantragen wollen. Es sei aber von den Mitarbeiterinnen der Beklagten lediglich auf die fehlende Anspruchsberechtigung hingewiesen worden. Antragsformulare seien nicht ausgehändigt worden, obwohl er ausdrücklich Antrag habe stellen wollen. Es sei gesagt worden, er brauche keinen Antrag zu stellen, "da er sowieso nichts bekomme".

Das SG hat mit Urteil vom selben Tag die Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, zwar könnten nach dem Urteil des EuGH vom 04.05.1999 und der darauf beruhenden Rechtsprechung des BSG neben Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates der Europäischen Union auch türkische Staatsangehörige LErzG erhalten, wenn sie in den persönlichen Anwendungsbereich des Beschlusses Nr.3/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 fallen. Jedoch könne die Klägerin daraus keine Rechte herleiten. Denn der EuGH habe Ansprüche auf Leistungen für die Zeit vor dem Erlass seiner Entscheidung vom 04.05.1999 ausgeschlossen und eine Ausnahme hierfür nur zugelassen, wenn vor diesem Zeitpunkt bereits eine Klage erhoben oder ein gleichwertiger Rechtsbehelf eingelegt worden sei und damit ein offenes Verfahren vorliege. Diese Voraussetzungen seien bei der Klägerin nicht gegeben. Auf Wiedereinsetzung oder Herstellungsanspruch könne sich die Klägerin trotz der im Nachhinein falschen Beratung durch den Beklagten nicht berufen. Die Beweisaufnahme habe keine Anhaltspunkte für grobe Verfahrensverstöße insbesondere keine planmäßige Verweigerung der Entgegennahme von Anträgen ergeben.

Am 02.05.2003 legten die Bevollmächtigten der Klägerin Berufung ein. Zur Begründung wird vorgetragen, dass der Beklagte durch die Weigerung, Antragsformulare auszuhändigen bzw. das Versäumnis, auf ausliegende Formulare hinzuweisen, den Anspruch der Klägerin auf verwaltungsmäßig korrekte Entscheidung vereitelt habe. Die Klägerin habe beim Beklagten mit dem Entschluss vorgesprochen, einen Antrag zu stellen und habe auf die förmliche Einreichung nur aufgrund des massiv beeinflussenden Verhaltens der Sachbearbeiterin verzichtet.

Die Klägerin beantragt:

1. Das Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 24.11.2005 wird aufgehoben. 2. Der Beklagte wird verpflichtet, unter Aufhebung des Be- scheids vom 18.04.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 09.08.2002 der Klägerin Erziehungsgeld nach dem Bayer. Landeserziehungsgeldgesetz für das Kind M. , geb. 1995, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat neben der Erziehungsgeldakte des Beklagten die Streitakte des ersten Rechtszuges beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf diese Akten, insbesondere auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 14.11.2005 verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die gemäß § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt. Sie erweist sich in der Sache jedoch als unbegründet. Im Ergebnis zutreffend hat das SG die er- hobene kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage abgewiesen, denn der Beklagte hat zurecht mit den streitgegenständlichen Bescheiden einen Anspruch der Klägerin auf Landeserziehungsgeld für das 1995 geborene Kind M. abgelehnt.

Ein Anspruch der Klägerin scheitert an den einschlägigen Vorschriften des Gesetzes zur Gewährung eines LErzg und zur Ausführung des BErzGG (BayLErzGG) in der Ausprägung, die sie durch die sog. Sürül-Entscheidung des EuGH vom 04.05.1999, Az.: C-262/96, erlangt haben.

Rechtsgrundlage für die Gewährung von LErzG ist vorliegend das BayLErzGG vom 12.06.1989 (GVBl.1989 S.206) in der Fassung der Bekanntmachung vom 16.11.1995 (GVBl.1995 S.818), da das Kind der Klägerin nach dem 01.07.1993 geboren wurde. Anspruch auf LErzG hatte gemäß Art.1 Abs.1 BayLErzGG, wer seine Hauptwohnung oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit der Geburt des Kindes, mindestens jedoch 15 Monate in Bayern hatte (Nr.1), mit einem nach dem 30.06.1989 geborenen Kind, für das ihm die Personensorge zustand, in einem Haushalt lebte (Nr.2), dieses Kind selbst betreute und erzog (Nr.3), keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübte (Nr.4) und schließlich die deutsche Saatsangehörigkeit oder diejenige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union oder des EWR besaß (Nr.5).

Nach Art.3 des Gesetzes wurde LErzG ab dem in § 4 Abs.1 BErzGG für das Ende des Bezuges von BErzG festgelegten Zeitpunkt bis zur Vollendung von weiteren zwölf Lebensmonaten des Kindes gewährt (Abs.1). Vor dem Ende des zwölften Bezugsmonates endete der Anspruch mit dem Ablauf des Lebensmonats, in dem eine der Anspruchsvoraussetzungen entfallen war. Im Fall der Aufnahme einer vollen Erwerbstätigkeit endete der Anspruch mit dem Beginn der Erwerbstätigkeit (Abs.3). Nach Art.5 betrug das LErzg DM 500,00 monatlich. Bei einer Überschreitung der nach §§ 5, 6 BErzGG zu berechnenden Einkommensgrenzen wurde es auf den Betrag von fünf Sechstel des Betrages des maßgeblichen BErzG ge- kürzt (Abs.1 Satz 1, 2).

In der vorliegenden Streitsache erfüllte die Klägerin im Bewilligungszeitraum unstreitig die Anspruchsvoraussetzungen des Art.1 Abs.1 Satz 1 Nrn.1 mit 4 BayLErzGG, denn sie wohnte im Anspruchszeitraum in Bayern, lebte mit ihrer Tochter, für die ihr die Personensorge zustand, und mit ihrem Mann in einem Haushalt, betreute ihre Tochter selbst und übte daneben keine Erwerbstätigkeit aus. Nicht erfüllt wurde aber die Voraussetzung in Nr.5 der Vorschrift, da die Klägerin im streitigen Zeitraum weder die deutsche Staatsangehörigkeit noch die eines Mitgliedstaates der EU oder eines anderen Vertragsstaates des EWR besaß. Diese Bestimmung verstößt jedoch gegen übergeordnetes europäisches Gemeinschaftsrecht. Nach der genannten Sürül-Entscheidung des EuGH vom 04.05.1999 (SozR 3-6935 Alg Nr.4) verbietet es Art.3 Abs.1 des Beschlusses Nr.3/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 einem Mitgliedstaat, den Anspruch eines türkischen Staatsangehörigen u.a. auf Familienleistungen nach Art.4 Abs.1 des Beschlusses von anderen Voraussetzungen abhängig zu machen als für Staatsangehörige des Mitgliedstaates. Das Bundessozialgericht (BSG) hat mit Urteil vom 10.07.1997 das Bundeserziehungsgeld in Anwendung des Urteils des EuGH vom 10.10.1996 (Az.: C-245/94 und C-312/94) zur Familienleistung erklärt. Diese Auffassung hat das BSG mit Urteil vom 29.01.2002 (Az: B 10 EG 2/01 R) auch hinsichtlich des Bayer. Landeserziehungsgeld vertreten.

Damit hat die Klägerin zwar grundsätzlich unter denselben Voraussetzungen wie Deutsche oder Angehörige der EU oder des EWR Anspruch auf LErzg. Jedoch kann sie sich auf die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 des ARB Nr.3/80 für den Anspruchszeitraum nicht berufen. Nach Ansicht des EuGH kann die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 ARB nämlich nicht zur Begründung von Ansprüchen auf Leistungen für Zeiten vor Erlass dieses Urteils am 04.05.1999 geltend gemacht werden, soweit die Betroffenen nicht vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt haben. Wie das Bundessozialgericht (u.a. Urteil vom 27.05.2004, Az.: B 10 EG 11/03 R) darlegt, bezieht sich die im Urteil vom EuGH ausgesprochene zeitliche Beschränkung nicht nur auf Verfahren über Kindergeld, sondern auf alle Verfahren, in denen es, wie auch beim Landeserziehungsgeld, um die Geltendmachung von Sozialleistungsansprüchen geht, die auf eine unmittelbare Anwendbarkeit des Art.3 Abs.1 ARB gestützt werden. Ebenso wie die Hauptaussage des EuGH zur unmittelbaren Anwendbarkeit des assoziationsrechtlichen Diskriminierungsverbots ist auch die von ihm verfügte zeitliche Beschränkung, wie das Bundessozialgericht darlegt, verbindlich. An der Rechtmäßigkeit dieser "Neben"-Entscheidung bestehen laut BSG (a.a.O.) keine Zweifel. Voraussetzung für eine wie vom EuGH angenommene zeitliche Beschränkung ist es laut BSG (a.a.O.), dass Unklarheiten des anzuwendenden Rechts oder das Verhalten der Gemeinschaftsorgane einen Zustand der Rechtsunsicherheit geschaffen haben, der es nicht angemessen erscheinen lässt, in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse rückwirkend in Frage zu stellen (Vorliegen eines Vertrauenstatbestandes). Darüber hinaus muss die Gefahr unerwarteter und erheblicher finanzieller Auswirkungen bestehen. Es ist laut BSG nicht ersichtlich, dass der EuGH in der Rechtssache Sürül diese Voraussetzungen zu Unrecht bejaht hat. Der EuGH hat dargelegt, dass sich aus seinem Urteil vom 10.09.1996, Az.: C-277/94, Ungewissheit über eine unmittelbare Anwendbarkeit des Art.3 Abs.1 ARB ergeben konnte. Unter diesen Umständen durften die Mitgliedstaaten davon ausgehen, sie könnten die Anpassung ihres innerstaatlichen Rechts bis zum Erlass entsprechender Umsetzungsakte zurückstellen. Daraus hat der EuGH den Schluss gezogen, dass abschließend geregelte Rechtsverhältnisse durch sein Urteil vom 04.05.1999 nicht wieder in Frage gestellt werden sollten. Überdies war zu berücksichtigen, dass die Frage, ob Erziehungsgeld eine Familienleistung im Sinne des Europarechts ist, erst durch das Urteil des EuGH vom 10.10.1996 geklärt wurde. Bei der Einsetzung der finanziellen Auswirkungen musste der EuGH schon aus Gründen der Gleichbehandlung alle Sozialleistungen in Betracht ziehen, die europaweit vom ARB erfasst werden.

Die vom EuGH angeordnete zeitliche Beschränkung hindert die Klägerin, ihre Ansprüche auf Landeserziehungsgeld für Zeiten vor dem Erlass des Urteils geltend zu machen. Die vom EuGH vorgesehene Ausnahme für Betroffene, die "vor diesem Zeitpunkt gerichtlich Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt haben", kommt ihr nicht zugute. Nach der Begründung der Entscheidung des EuGH vom 04.05.1999 soll diese Ausnahmeregelung verhindern, dass der Schutz der Rechte, die die Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht herleiten, durch die verfügte zeitliche Beschränkung in nicht gerechtfertigter Weise eingeschränkt wird. Aus der Bezugnahme auf einen effektiven Rechtsschutz ergibt sich, dass mit den vom EuGH angesprochenen "Rechtsbehelfen" nur solche gemeint sind, die bei Erlass des Urteils vom 04.05.1999 noch rechtshängig, also offen waren. Denn bei abgeschlossenen Verfahren stellt sich die Frage nach der Wirksamkeit des Rechtsschutzes von vornherein nicht. Als Rechtsbehelf sind in diesem Zusammenhang auch erstmalige Leistungsanträge zu verstehen, denn auch sie dienen der Geltendmachung von Rechten und unterbrechen z.B. die Verjährung von Ansprüchen (§ 45 Abs.3 SGB I). Dabei stellt der EuGH nicht darauf ab, aus welchen Gründen entsprechende Anträge nicht gestellt oder nach abschlägigen Entscheidungen nicht weiterverfolgt worden sind.

Zur Begründung des Anspruchs hätte die Klägerin laut BSG zwei Fristen einhalten müssen: Zum einen könnte sie sich auf das Diskriminierungsverbot des Art.3 Abs.1 ARB nur dann berufen, wenn sie bereits vor dem Erlass des Sürül-Urteils vom 04.05.1999 einen auf Landeserziehungsgeld gerichteten Rechtsbehelf eingelegt hätte. Zum anderen ist zu beachten, dass Landeserziehungsgeld gemäß Art.3 Abs.2 Bayerisches Landeserziehungsgeld rückwirkend höchstens für zwei Monate vor der schriftlichen Antragstellung zu gewähren ist.

Die Klägerin hat unstreitig erst am 04.03.2002 einen Antrag auf Landeserziehungsgeld gestellt und demnach die beiden genannten Fristen nicht eingehalten. Anhaltspunkte für einen frühere Antragstellung bestehen nicht. Ein solcher ist nicht aktenkundig. Auch die Klägerin sowie ihr Ehemann als Zeuge haben bestätigt, dass ein Antrag - aufgrund der nicht ausgehändigten Formulare - nicht gestellt wurde.

Auch die Regelung des § 27 SGB X hilft der Klägerin nicht weiter. Nach dessen Abs.1 gilt: War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Eine derartige Wiedereinsetzung ist jedoch nur unter erschwerten Be- dingungen möglich. Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer, wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war, § 27 Abs.3 SGB X. Da die Klägerin den Antrag erst im März 2002 und mithin knapp drei Jahre nach dem 04.05.1999 gestellt hat, kommt es darauf an, ob ihr die Antragstellung vor der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war.

Der Begriff der höheren Gewalt hat eine subjektive Komponente und ist nicht auf von außen kommende nicht beeinflussbare Ereignisse beschränkt (vgl. BSG a.a.O.). Höhere Gewalt ist jedes Geschehen, das auch durch die größtmögliche, von dem Betroffenen unter Berücksichtigung seiner Lage, Bildung und Erfahrung vernünftigerweise zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte. Als unabwendbar in diesem Sinn ist eine Fristversäumnis grundsätzlich auch dann anzusehen, wenn sie durch eine falsche oder irreführende Auskunft oder Beleh- rung oder sonst durch ein rechts- oder treuwidriges Verhalten der Verwaltungsbehörde verursacht wird (BSG, a.a.O., m.w.N.).

Höhere Gewalt kann aber vorliegend nicht etwa durch die fehlerhafte Beratung von Seiten des den Beklagten begründet werden. Diese Beratung war zwar im Licht der Entscheidung des BSG vom 29.01.2002 (BSGE 89, 129) objektiv falsch gewesen, auch wenn sie der damaligen Rechtsprechung entsprochen hat. Denn eine unrichtige Beratung liege auch dann vor, wenn der Versicherungsträger ohne Verschulden von der Richtigkeit seiner Rechtsansicht ausgehen durfte. Entscheidend ist insoweit die damalige Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht. Das BSG weist aber ausdrücklich auf Folgendes hin: Zur Begründung der Fehlerhaftigkeit des behördlichen Handelns bedarf es gerade der Berufung auf die unmittelbare Wirkung des Art.3 Abs.1 ARB für einen Zeitraum vor Erlass der Sürül-Entscheidung des EuGH. Es greift hier somit ebenfalls die in diesem Urteil ausgesprochene zeitliche Beschränkung ein. Da die Klägerin wie bereits dargestellt am 04.05.1999 kein offenes Verfahren über die Gewährung des LErzG mehr hatte, kann sie die objektive Unrichtigkeit der Ablehnung auch nicht über § 44 SGB X unter Zuhilfenahme eines Wiedereinsetzungsantrags geltend machen.

Andere Umstände, die - unter dem Gesichtspunkt höherer Gewalt - eine Wiedereinsetzung ohne Rückgriff auf die unmittelbare An- wendung des Art.3 Abs.1 ARB begründen würden, sind nicht ersichtlich. In Betracht kämen insoweit nur gravierende Verfahrensverstöße der Behörde wie etwa eine Nichtannahme von Anträ- gen oder dem gleichzustellende Rechtsverstöße (BSG v. 27.05.2004, a.a.O.). Ein derartiges Fehlverhalten von Bediensteten des Beklagten ist nach dem Ergebnis der Ermittlungen nicht belegt. Insbesondere ist entgegen der Auffassung der Klägerbevollmächtigten nicht nachgewiesen, dass der Beklagte die Klägerin durch die Verweigerung der Ausgabe entsprechender Formulare von einer Antragsstellung abgehalten hat. Zunächst ist festzuhalten, dass nach eigenen Angaben die Klägerin vom Beklagten bereits im Zusammenhang mit der Beantragung von Bundeserziehungsgeld Antragsformulare auch bezüglich des LErzG erhalten hatte, diese seien ihr jedoch "abhanden gekommen". Auch die Geschehnisse im Oktober 1997 geben nach dem Ergebnis der Zeugenvernehmung keine Hinweise auf eine willkürliche Vereitelung der Antragstellung. Wie die Vielzahl der beim Senat anhängigen Verfahren zeigt, wurden vom Beklagten bei einem Beharren auf einer Antragstellung oder bei Übersendung auch formloser Anträge auf dem Postwege diese entgegengenommen und regelmäßig schriftliche Ablehnungsbescheide erteilt. Die Klägerin hätte jederzeit einen Antrag auch ohne Antragsformular durch einfaches Schreiben stellen können. Unter diesem Aspekt ist auch die Aussage des Ehemanns der Klägerin zu werten, er habe trotz des Hinweises auf die fehlende Anspruchsvoraussetzung einen Antrag stellen wollen, habe unter nochmaligem Hinweis auf die entgegenstehende türkische Staatsangehörigkeit aber keine Formulare bekommen.

Durch diese Aussage wird zunächst belegt, dass der Antrag auf LErzG anlässlich der Vorsprache im Oktober 1997 vom Beklagten alleine im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit, und damit aus sachlichen Gründen als erfolglos angesehen wurde. Der Zeuge hat daneben gerade nicht ausgesagt, dass er vom zuständigen Sachbearbeiter ausdrücklich die Ausgabe eines Antragsformulars verlangt hatte. Er hat nur bestätigt, keine Formulare "gehabt" bzw. "bekommen" zu haben. Soweit dem Zeugen nach seiner Darstellung gesagt wurde, "er brauche keinen Antrag zu stellen, da er sowieso nichts bekomme", ist dadurch nicht belegt, dass - hätte der Zeuge tatsächlich auf einem förmlichen Antrag bestanden - die Ausgabe eines Formulars bzw. die Entgegennahme eines formlosen Antrags abgelehnt worden wäre. Eine willkürliche Weigerung der sachbearbeitenden Person, auf aus- drückliches Verlangen Antragsformulare herauszugeben, um damit den Kläger rechts- und treuwidrig von einer Antragsstellung abzuhalten, ist der Aussage nicht zu entnehmen.

Die diesbezügliche Argumentation der Klägerin erscheint auch deswegen nicht schlüssig, da ein Antrag mit den in jeder Dienststelle der Versorgungsverwaltung öffentlich ausliegenden Antragsformularen oder auch mittels formlosem Schreiben jederzeit möglich gewesen wäre. Der Zeuge gab selbst an, nach der abschlägigen Rechtsauskunft öffentlich ausliegende Formulare nicht mehr gesucht zu haben. Wäre er aber tatsächlich der Auffassung gewesen, für den Antrag unbedingt ein entsprechendes Formular verwenden zu müssen und wäre ihm dessen persönliche Aushändigung tatsächlich verweigert worden, hätte sich die Suche nach einer anderen Bezugsquelle förmlich aufgedrängt. Der geschilderte Ablauf deutet damit gerade nicht auf eine willkürliche Weigerung des Beklagten hin, förmliche Anträge auszugeben oder entgegenzunehmen, sondern vielmehr - auch im Hinblick darauf, dass der Ablehnungsbescheid bezüglich LErzG für das erste Kind der Klägerin nicht angegriffen worden war - auf ein letztlich selbstbestimmtes Absehen von einer Antragsstellung durch die Klägerin bzw. ihren Ehemann, wenn auch aufgrund einer retrospektiv objektiv falschen Beratung durch den Beklagten. Diese Falschberatung kann aber nach Auffassung des BSG (Urteil v.27.05.2004, a.a.O.) wie bereits dargestellt, höhere Gewalt i.S. des § 27 SGB X gerade nicht begründen.

Auch aufgrund des richterrechtlich entwickelten Rechtsinstituts eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs steht der Klägerin kein Landeserziehungsgeld für ihr Kind zu. Die Voraussetzungen eines Herstellungsanspruchs sind vorliegend nicht erfüllt. Dessen Tatbestand fordert zunächst das Vorliegen einer Pflichtverletzung. Das Bundessozialgericht (Urteile vom 27.05.2004 u. 02.02.2006 a.a.O.) hält den Herstellungsanspruch neben der Wiedereinsetzung für anwendbar. Ein auf die objektiv fehlerhafte Beratung durch den Beklagten gestützter Herstellungsanspruch ist nach dem BSG jedoch wegen des Ausspruchs der zeitlichen Beschränkung in der Sürül-Entscheidung für Leis- tungszeiträume vor dem 04.05.1999 für nicht gegeben. Ebensowenig ist die Verletzung einer Pflicht des Beklagte anzunehmen, die Klägerin nach der Ablehnung auf einen sich abzeichnenden Wandel in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bzw. entsprechende anhängige Verfahren hinzuweisen. Eine solche Hinweispflicht könnte allenfalls dann entstehen, wenn es aufgrund gravierender Umstände wahrscheinlich erscheint, dass ein Wandel in der Rechtsprechung eintreten wird. Vor dem 04.05.1999 kann eine solche Hinweispflicht sicher nicht bejaht werden (BSG v. 27.05.2004 a.a.O.)

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen der Klägerin.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor. Weder wirft dieses Urteil nämlich eine entscheidungserhebliche höchstrichterlich bisher ungeklärte Rechtsfrage grundsätzlicher Art auf, noch weicht es ab von einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts und beruht hierauf.
Rechtskraft
Aus
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