L 17 U 149/02

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Würzburg (FSB)
Aktenzeichen
S 5 U 288/98
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 17 U 149/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 28.02.2002 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 18.05.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.07.1998 verurteilt, das Postdiscotomiesyndrom des Klägers als Folge des Arbeitsunfalles vom 04.09.1995 anzuerkennen und Verletztengeld zu leisten bzw. Verletztenrente nach einer MdE von 40 vH ab Mai 1996 zu gewähren.
II. Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist, ob ein Postdiscotomiesyndrom Folge des Arbeitsunfalles vom 04.09.1995 ist und deshalb Leistungen zu erbringen sind.

Der 1965 geborene Kläger erlitt am 04.09.1995 einen Arbeitsunfall. Sein Arbeitskollege H. (H), der eine mit Pistolen beladene, ca. 50 kg schwere, 1,00 - 1,20 m hohe Kiste verplombt hatte, wollte diese von einem Schiebewagen tragen. Der Kläger half ihm dabei. Beide Arbeitnehmer standen links und rechts von dem Schiebewagen. Beim Hochheben der Kiste ließ sie der Arbeitskollege los. Sie fiel in Richtung von H. Der Kläger hielt sich mit dem rechten Hand an der Kiste fest und wurde in weiter Rumpfvorbeuge ruckartig von der Kiste über den kleinen Schiebewagen seitlich hinweg gezogen. Er verspürte einen schmerzenden "Riss" in der Wirbelsäule und hatte starke Schmerzen im Bein. Er arbeitete dann noch drei Tage mit leichten Tätigkeiten weiter. Am dritten Tag ließ er sich zu Hause vom Notarzt wegen anhaltender Schmerzen eine Spritze geben. Ab dem 07.09.1995 war er bis 30.04.1996 arbeitsunfähig krank.

Am 12.09.1995 suchte er den Orthopäden Dr.C. auf, der bei ihm eine hartnäckige Lumboischialgie links mit diskreter Zehenheberschwäche bei größerem Bandscheibenvorfall links in Höhe L5/S1 feststellte. Außerdem fand er nach Durchführung eines CT vom gleichen Tag einen flachen, leicht raumfordernden Bandscheibenvorfall in Höhe LWK 4 - 5. Ab 20.09.1995 befand sich der Kläger in neurochirurgischer Behandlung bei Dr.P. , anschließend vom 28.09. bis 06.10.1995 stationär in der R.klinik (1. Operation am 29.09.1995). Dort wurde als Diagnose ein sensomotorisches S1-Syndrom bei Bandscheibenvorfall mit operativer Bandscheibenentfernung (Nucleotomie) angegeben. In der Neurochirurgischen Klinik der Universität W. wurde er am 26.03.1996 wegen eines medio-lateralen Bandscheibenvorfalles L4/5 links und Bandscheibenrezidivvorfalles L5/S1 links operiert (Revisionsoperation). Von 1996 bis 1999 war er in regelmäßiger ambulanter Behandlung wegen weiterbestehender Schmerzen und Ausstrahlung in das linke Bein.

Die Beklagte zog Arzt- bzw. Befundberichte des Orthopäden Dr.C. vom 06.09.1996, des Neurochirurgen Dr.P. vom 09.10.1995/10.10.1995, des Neurologen Dr.S. vom 29.08.1996 sowie ärztliche Unterlagen des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zum Verfahren bei. Anschließend holte sie Befundberichte des Dr.C. vom 11.07.1997 und des Dr.P. vom 28.02.1997 sowie eine Auskunft der AOK W. vom 02.10.1996 über Vorerkrankungen des Klägers ein. Sodann erstellte der Orthopäde Dr.U. ein Gutachten am 13.04.1997. Er ging von einem Postnucleotomiesyndrom nach Bandscheibenvorfall - Operation L5/S1 mediolateral links am 29.09.1995 und Revisionsoperation eines Bandscheibenvorfallrezidivs L5/S1 links und eines mediolateralen Bandscheibenvorfalles L4/L5 links am 26.03.1996 aus. Zudem konnte er ein leichtes motorisch verbliebenes L5-Syndrom links sowie sensibles L5/S1-Syndrom links neben einer deutlichen Funktionsstörung der Lendenwirbelsäule (LWS) diagnostizieren. Ein Vorschaden in der Lendenregion habe zwar vorgelegen, jedoch keine massive Störung. Das Unfallereignis sei aber eine wesentlich mitwirkende Teilursache für die geklagten Beschwerden gewesen. Der Arbeitsunfall sei mit einer MdE von 40 vH zu bewerten.

Nach Beiziehung des Gutachtens des Neurochirurgen Prof. Dr.B. vom 10.07.1997 (für das Landgericht W.) sowie Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme nach Aktenlage des Chirurgen Dr.R. vom 02.12.1997 veranlasste die Beklagte ein weiteres Gutachten durch den Orthopäden Dr.B. vom 28.03.1998. Dieser nahm als Diagnose ein Postdiscotomiesyndrom Grad II an. Der Arbeitsunfall sei als wesentlich mitwirkende Teilursache (neben den Vorschäden) für die beklagten Beschwerden und Befunde anzusehen. Es liege eine Funktionsstörung der LWS vor, mit noch nachgewiesenen radiologischen Veränderungen. Ferner zeigten sich Nervendehnungsschmerzen links stärker als rechts sowie neurologisch ein Sensibilitätsdefzit im Bereich des rechten Beines mit Reflexabschwächung. Insgesamt liege eine zeitlich nicht begrenzte Verschlimmerung eines bereits bestehenden Leidens vor. Die Verschlimmerung bestehe in dem Auftreten von raumfordernden Bandscheibenvorfällen L4/5 und L5/S1 mit nachfolgenden operativen Therapiemaßnahmen. Ab 11.04.1996 sei die MdE mit 40 vH, ab 01.10.1996 mit 30 vH zu bewerten.

Die Beklagte erkannte Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit bis 30.04.1996 mit Bescheid vom 18.05.1998 an. Ein Anspruch auf Verletztenrente bestehe aber nicht. Bei den Wirbelsäulenbeschwerden des Klägers sei es durch den Arbeitsunfall zu Verschlimmerungen der bei ihm vorbestehenden Bandscheibenschädigungen gekommen. Durch die Operation im April 1996 sei ein Zustand eingetreten, der bereits vor dem Arbeitsunfall bestanden habe.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren holte die Beklagte noch eine Stellungnahme des Chirurgen Dr.P. vom 07.06.1998 ein. Danach habe ein eigentliches Unfallereignis im Sinne des Gesetzes nicht vorgelegen. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.07.1998 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Gegen diese Bescheide hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG) Würzburg erhoben und beantragt, die Bandscheibenschäden als Folge des Arbeitsunfalles vom 04.09.1995 anzuerkennen und mit einer Verletztenrente ab Wegfall der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit nach einer MdE in Höhe von mindestens 50 vH zu entschädigen. Bei den nur geringen vorbestehenden Degenerationen sei völlig unbegründbar, warum über den April 1996 hinaus keine Unfallfolgen mehr bestehen sollten. Zudem seien von der Beklagten selbst zwei positive Gutachten eingeholt worden. Diese setze sich darüber hinweg aufgrund nicht akzeptabler beratungsärztlicher Äußerungen.

Hierzu hat der Kläger ein weiteres neurochirurgisches Gutachten des Prof. Dr.B. vom 16.06.1998 (für das Landgericht W.) sowie des Nervenarztes T.K. vom 18.01.1999 (in einer Arbeiterrentenversicherungs-Streitsache des SG Würzburg) vorgelegt.

Anschließend hat das SG von Dr.W. ein orthopädisches Gutachten vom 17.12.1999 eingeholt. Dieser hat ausgeführt, aus medizinischer Sicht liege ein zweifelsfreier Unfallhergang mit Einwirkung einer erheblichen Krafteinwirkung auf die LWS nicht vor. Medizinisch gesichert sei eine traumatische Bandscheibenverletzung immer in Kombination mit knöchernen Begleitverletzungen. Durch den Arbeitsunfall sei es aber zu keinen Verletzungen gekommen. Die beim Kläger vorhandenen Gesundheitsstörungen seien daher nicht Folge des Arbeitsunfalles vom 04.09.1995.

Auf Veranlassung des Klägers hat der Orthopäde Dr.S. am 12.01.2001 ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erstellt. Er hat das Postdiscotomiesyndrom Grad II bis Grad III noch als Folge des Arbeitsunfalles angesehen und die MdE mit 80 vH eingeschätzt.

Mit Urteil vom 28.02.2002 hat das SG die Klage abgewiesen und sich im Wesentlichen auf die Ausführungen des Gutachters Dr.W. gestützt.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt und vorgetragen, dass nicht festgestellt sei, in welcher Höhe ein angeblicher Vorschaden bestanden habe. Auch habe er nach dem Arbeitsunfall nicht weiter gearbeitet, sondern sei lediglich anwesend gewesen, da man im Betrieb eine Messe vorbereitete.

Der Senat hat einen Befundbericht des Allgemeinarztes Dr.K. vom 16.07.2002 sowie die Rentenakte der LVA Unterfranken, die Schwerbehindertenakte des Versorgungsamtes W. und die Schadensersatzakte des Landgerichts W. beigezogen. Sodann hat der Orthopäde Dr.D. am 03.11.2003 auf Veranlassung des Senats ein Gutachten erstellt, in dem er von einem unfallbedingten Postdiscotomiesyndrom Schweregrad II - III nach Krämer bei Zustand nach Nucleotomie L5/S1 am 29.09.1995 und Revisionsoperation bei Bandscheibenrezidivvorfall L5/S1 sowie Nucleotomie L4/L5 am 26.03.1996 ausging und die MdE mit 40 vH einschätzte.

Der Kläger hat eine Erklärung des Zeugen H vom 27.12.2003 über den Unfallhergang vorgelegt, die dieser in dem Erörterungstermin vom 18.03.2004 bestätigt hat. Auf den Inhalt wird Bezug genommen.

Anschließend hat der Senat noch ein orthopädisches Gutachten bei Prof. Dr.S. am 28.05.2004 eingeholt. Nach dessen Auffassung könne infolge des Arbeitsunfalles eine Zerrung der LWS anerkannt werden. Durch eine vermehrte mechanische Belastung sei es zu einer vorübergehenden, zeitlich begrenzten, nicht richtunggebenden Verschlimmerung eines degenerativen Lumbalsyndroms mit konsekutiver Nucleotomie gekommen. Infolge einer nicht richtunggebenden Verschlimmerung des Bandscheibenleidens der LWS könne eine Verschlimmerung vorübergehend bis ein Jahr nach dem Ereignis vom 04.09.1995 angenommen werden. Nach dem Mai 1996 sei die unfallbedingte MdE mit 10 vH einzuschätzen.

In einem weiteren Gutachten nach § 109 SGG hat der Anästhesiologe Dr.Z. am 24.05.2005 den Arbeitsunfall als wesentlich mitwirkende Teilursache der Beschwerden des Klägers angesehen. Der Arbeitsunfall habe zu einer Verletzung in einem, wahrscheinlich sogar in zwei lumbalen Bandscheibensegmenten geführt. Seit Mai 1996 sei die MdE mit 40 vH einzuschätzen. Prof. Dr.S. hat dem in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 19.07.2005 widersprochen.

Der Kläger beantragt: Die Beklagte wird unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Würzburg vom 28.02.2002 sowie unter Abänderung des Bescheides vom 18.05.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21.07.1998 verurteilt, das Postdiscotomiesyndrom des Klägers als Folge des Arbeitsunfalles vom 04.09.1995 anzuerkennen und Verletztengeld zu leisten bzw. den Unfall mit einer Verletztenrente nach einer MdE von 40 vH zu entschädigen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 28.02.2002 zurückzuweisen.

Ergänzend wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten, die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die Akten des Landgerichts W. (Az: 24 O 2110/96) Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig und auch sachlich begründet.

Entgegen der Auffassung des SG hat der Kläger Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente aufgrund des Arbeitsunfalles vom 04.09.1995 (§§ 539 Abs 1 Nr 1, 548 Abs 1 Satz 1, 581 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -), da die Voraussetzungen erfüllt sind.

Anzuwenden sind im vorliegenden Fall noch die Vorschriften der RVO, da sich das zu beurteilende Ereignis vor dem 01.01.1997 ereignet hat (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VII -).

Ein Anspruch auf Verletztenrente setzt nach § 581 Abs 1 Nr 2 RVO voraus, dass die Erwerbsfähigkeit des Versicherten infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens 20 vH gemindert ist. Dabei ist die Entscheidung der Frage, in welchem Grad die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten gemindert ist, eine tatsächliche Feststellung, die das Gericht gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft (BSGE 4, 147, 149; 6, 267, 268; BSG vom 23.04.1987 - 2 RU 42/86 -). Die Bemessung des Grades der unfallbedingten MdE richtet sich nach dem Umfang der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens des Verletzten durch die Unfallfolgen und nach dem Umfang der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens. Die Beurteilung, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind, betrifft in erster Linie das ärztlich-wissenschaftliche Gebiet. Doch ist die Frage, welche MdE vorliegt, eine Rechtsfrage. Sie ist ohne Bindung an ärztliche Gutachten unter Berücksichtigung der Einzelumstände nach der Lebenserfahrung zu entscheiden. Ärztliche Meinungsäußerungen hinsichtlich der Bewertung der MdE sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Einschätzung des Grades der MdE, vor allem soweit sich diese darauf bezieht, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Versicherten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG in SozR 2200 § 581 Nrn 23, 27).

In Würdigung der Ausführungen der Sachverständigen Dr.D. , Dr.Z. , z.T. Dr.B. und Dr.U. , deren im Auftrag der Beklagten erstatteten Gutachten im Berufungsverfahren verwendet werden können (BSG SozR § 128 SGG Nr 66), steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die Erwerbsfähigkeit des Klägers durch die Folgen des Arbeitsunfalles vom 04.09.1995 über das Ende der bereits von der Beklagten anerkannten unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit (30.04.1996) hinaus im rentenberechtigenden Grade gemindert ist. Danach liegt bei dem Kläger unfallbedingt ein Postdiscotomiesyndrom Grad II bis III nach Krämer vor. Es hat sich aufgrund des Zustandes nach Nucleotomie L5/S1 am 29.09.1995 sowie der Revisionsoperation mit Nucleotomie L4/5 bei Bandscheibenvorfall und L5/S1 bei Bandscheibenvorfallrezidiv am 26.03.1996 sowie der kernspintomographisch nachgewiesenen epiduralen Narbenbildung im Operationsgebiet ergeben.

Anhand des dokumentierten Heilverlaufes, der bildgebenden Diagnostik und der klinischen Untersuchung ließ sich die bereits von verschiedenen Vorgutachtern gestellte Diagnose eines Postdiscotomiesyndroms zweifelsfrei bestätigen. Grad II bis III ergibt sich aufgrund des Dauerschmerzes mit regelmäßiger Einnahme starker Medikamente (entsprechend einer Äquivalenzdosis von 320 mg Morphium pro Tag) sowie der positiven Nervendehnungsschmerzen.

Bei dem Kläger sind die Begutachtungskriterien für einen "traumatischen Bandscheibenvorfall" erfüllt. Entscheidend für die Anerkennung eines Unfalls als Ursache eines Bandscheibenvorfalls ist der Unfallhergang. Der Kläger stand in seitlicher Stellung zu der Waffenkiste und in gleichzeitig gebückter Haltung, als sein Arbeitskollege H die Last plötzlich fallen ließ. Dabei fiel die Waffenkiste auf der Seite des H wieder auf den Rollwagen, welcher sich dadurch zur Seite wegdrehte und den Kläger mit der ganzen Last mitzog. Bei dem Unfallvorgang kam es also zu einer unerwarteten Kraftanstrengung. Rumpfhaltearbeit und Bandscheibendruck erhöhten sich plötzlich stark. Dadurch ist der Zusatzimpuls, der auf das Bewegungssegment einwirkte, größer als bei einer arbeitsüblichen Handlung. Hinzu kommt als wesentliches Merkmal für die Krafteinwirkung das Moment des Unerwarteten. Diese Situation tritt ein, wenn insbesondere eine ungewöhnliche, überraschende und daher unkoordinierte Kraftanstrengung vorliegt, so dass der Überraschungsmoment im Vordergrund steht (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7.Aufl, S 530). Entsprechend der Schilderung des Klägers zum Unfallhergang ist daher - entgegen der Auffassung von Prof. Dr.S. - das Unfallereignis vom 04.09.1995 ein adäquates Trauma. Jedenfalls handelte es sich um einen Mechanismus, der prinzipiell geeignet war, eine Bandscheibe zu schädigen.

Auch der zeitliche Zusammenhang ist gegeben. Typische bandscheibenbedingte Beschwerden setzten glaubhaft unmittelbar nach dem Unfall ein, obwohl der Kläger vor dem Ereignis weitgehend beschwerdefrei gewesen ist. Es handelte sich um sogenannten radikuläre Symptome, d.h. Schmerzen der LWS mit Ausstrahlung in das betroffene Bein sowie begleitende neurologische Symptome, wie Sensibilitätsstörungen, Nervendehnungsschmerzen. Der Kläger hat diese Beschwerden glaubhaft geschildert. Dass diese Beschwerden erstmals am 07.09.1995, also drei Tage nach dem Unfallereignis, ärztlich dokumentiert wurden, hindert die Annahme einer adäquaten Unfallverursachung nicht. Entgegen den Ausführungen des Prof. Dr.S. hat der Kläger seine bisherige Arbeit nicht noch mehrere Tage fortsetzen können. Der Kläger blieb vielmehr trotz seiner Schmerzen wegen anstehender Messearbeiten an seinem Arbeitsplatz und war nur aufsichtsführend, also schonend tätig.

Auch die vor dem angeschuldigten Unfallereignis dokumentierten Beschwerden und Behandlungen im Bereich der LWS hindern eine Anerkennung der Bandscheibenverletzung als Unfallfolge nicht. Eine regelmäßige Behandlung von Wirbelsäulenbeschwerden erfolgte vor dem Unfall nicht. Es handelte sich vielmehr um jeweils gut therapierbare LWS-Beschwerden ohne klinisch beschriebene Nervenwurzelreizerscheinungen (radikuläre Symptome). In der radiologischen Diagnostik ergeben sich vor dem Unfallereignis und auch kurz danach keine wesentlichen degenerativen Veränderungen. Die beschriebenen, über die Zeit auftretenden Veränderungen iS von leichten Zwischenwirbelraumverschmälerungen (Chondrose und Osteochondrose) nach der Operation waren nach Teilentfernung der Bandscheibe zu erwarten. Auch in den direkt nach dem Unfallereignis durchgeführten computertomographischen Untersuchungen finden sich neben dem diagnostizierten Bandscheibenvorfall in Höhe L5/S1 und L4/5 keine degenerativen Veränderungen. Die von Dr.W. geforderten erkennbaren Einblutungen im Bereich der Wirbelsäule/Bandscheibe, die ein frisches traumatisches Geschehen belegen sollen, sind - wie Dr.Z. überzeugend ausführt - nicht bei jedem Bandscheibenvorfall zu fordern. Im Übrigen würde es sich um kleinste Einblutungen handeln (im Spinalkanal), die dann bei der Schichtdicke in der Computertomographie nicht nachweisbar wären. Bei den vorliegenden, nach heutigen Maßstäben begrenzten optischen Auflösungen der CT-Graphiken ist die von Dr.W. ausgesprochene Erwartung nicht realistisch. Modernere computertomographische Aufnahmetechniken sind bei sehr viel weitergehender und anspruchsvollerer Detaildarstellung kaum in der Lage, das Vorliegen von Blutspuren in den engen Strukturen des Spinalkanals wirklich nachzuweisen. Der von Dr.W. in seinem Gutachten von entscheidener Bedeutung angesehene Operationsbericht sowie die histologische Aufarbeitung des operativ gewonnenen Bandscheibenmaterials ist nicht ohne Weiteres für die Beurteilung einer Traumafolge zu berücksichtigen. Grund hierfür ist die degenerative Veränderung der Bandscheiben bereits im Kindesalter, die also auch bei Bandscheiben ohne Vorwölbung/Vorfall ähnliche histologische Befunde ergeben. Aufgrund fehlender neurologischer Befunde und fehlender Information zum Schmerzcharakter finden sich keine Beweisargumente für tatsächlich bandscheibenbedingte pathologische Befunde im Vorfeld des Ereignisses vom 04.09.1995. Jedenfalls bedeutet auch der Nachweis einer mitwirkenden degenerativen Vorschädigung noch nicht, dass diese die rechtlich allein wesentliche Ursache eines Bandscheibenvorfalls ist, der auslösende Arbeitsunfall dagegen nur eine Gelegenheitsursache darstellt. Es genügt bereits, wenn der Arbeitsunfall eine wesentliche Teilursache bildet. Bei bestehendem Zusammenhang iS einer Contitio sine qua non zwischen Unfall und Bandscheibenvorfall kann den Unfalleinwirkungen die Bedeutung einer wesentlichen Teilursache nur dann abgesprochen werden, wenn die nachgewiesenen degenerativen Vorschädigungen den Unfall an Bedeutung für den Eintritt des Bandscheibenvorfalles eindeutig überwiegen. Dies ist im Falle des Klägers sicherlich nicht der Fall. Alle vor dem 04.09.1995 dokumentierten Beschwerden wurden bei ihm nach Aktenlage bei rein symptomatischer Therapie und nach jeweils kurzer Dauer mit Erfolg ausbehandelt. Die bildgebenden Verfahren, die vor dem Ereignis vom 04.09.1995 durchgeführt wurden, waren nicht in der Lage, Aussagen zu den Bandscheiben zu generieren. Sie konnten zur Klärung der Schmerzursachen nicht ernsthaft beitragen.

Danach stellt sich der Bandscheibenvorfall zur Überzeugung des Senats als eine Folge des Arbeitsunfalls dar. Die daraus entstandenen Dauerschäden sind mit einzubeziehen. Zu diesen Dauerschäden zählen verbleibende neurologische Störungen, wie Sensibilitätsstörung, Muskelschwächen oder das Postdiscotomiesyndrom.

Hinsichtlich der Einschätzung der MdE ist festzuhalten, dass im Allgemeinen bei chronisch-rezidivierendem lumbalen Bandscheibensyndrom eine MdE zwischen 20 und 30 vH, bei Wurzelsyndrom mit objektivierbaren neurologischen Symptomen zwischen 30 und 50 vH vorliegt. Die von Dr.U. , Dr.D. und Dr.Z. vertretende MdE auf Dauer von 40 vH ist nach Auffassung des Senats vertretbar.

Nicht folgen kann der Senat den Ausführungen der anderen Gutachter. Sie berücksichtigen alle den klinischen Verlauf vor dem 04.09.1995, also die behaupteten Vorschäden, in zu hohem Maße. Auch ist die Meinung nicht vertretbar, dass es sich nur um eine vorübergehende, nicht richtunggebende Verschlimmerung eines degenerativen Bandscheibenschadens gehandelt hat.

Der Kläger hat daher Anspruch auf Anerkennung des Postdiscotomiesyndroms als Folge des Arbeitsunfalles sowie auf Gewährung von Verletztengeld bzw. Verletztenrente nach einer MdE von 40 vH.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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