L 7 B 23/07 AS ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 9 AS 988/06 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 B 23/07 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Der Beschluss des Sozialgerichts Augsburg vom 21. Dezember 2006 wird aufgehoben. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 21. Dezember 2006 wird angeordnet, soweit der Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin zu 2. sowie die Leistungsbewilligung und Leistungsrückforderung für den Monat Januar 2007 betroffen ist. Sie wird weiter bezüglich der Beschwerdeführerin zu 2. insoweit angeordnet, als sich der Widerspruch gegen die Aufrechnung richtet. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen und der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt.
II. Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführern die notwendigen außergerichtlichen Kosten sowohl des Antrags- als auch des Beschwerdeverfahrens zur Hälfte zu erstatten.

Gründe:

I.

Die Antragsteller und Beschwerdeführer (Bf.) wehren sich gegen die teilweise Aufhebung eines Alg II-Leistungsbescheides.

Mit Bescheid vom 17.08.2006 hatte die Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (Bg.) den Bf. Alg II-Leistungen für den Zeitraum vom 07.08.2006 bis 21.01.2007 zuerkannt. Zunächst hob sie gegenüber dem Bf. zu 1. mit Bescheid vom 26.10.2006 den Leistungsbescheid hinsichtlich des Zeitraums vom 01.11.2006 bis 31.01.2007 wieder auf. Ab 01.11.2006 stünde dem Bf. zu 1. für drei Monate kein Leistungsanspruch zu. Dagegen legte der Bf. zu 1. Widerspruch ein. Ein von ihm daneben eingeleitetes Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes blieb ohne Erfolg (zuletzt Beschluss des Bayer. Landessozialgerichts vom 21.02.2007 - L 7 B 1034/06 AS ER).

Im Rahmen eines Gesprächs mit dem Diplom-Psychologen A. vom Psychologischen Dienst der Agentur für Arbeit K. am 24.11.2006 gab der Bf. zu 1. an, er habe aktuell eine Geldstrafe zu begleichen, ansonsten drohe im Haft. Die monatlichen Raten in Höhe von 150,00 EUR bekomme er durch Betteln auf der Straße zusammen. Diese Information wurde an die Leistungsabteilung der Bg. weitergeleitet.

Die Bg. reagierte mit Bescheid vom 04.12.2006, adressiert an den Bf. zu 1., mit dem die Höhe der monatlich zustehenden Leistungen für den Zeitraum von November 2006 bis Januar 2007 auf nunmehr 299,29 EUR reduziert wurde. Sie nahm dabei ein monatliches Einkommen durch Betteln auf der Straße in Höhe von 150,00 EUR an. Die dadurch entstandene Überzahlung von 161,78 EUR, so die Bg., werde ab 01.01.2006 in monatlichen Raten in Höhe von 20,00 EUR einbehalten.

Dagegen legte der Bf. zu 1. mit Schreiben vom 21.12.2006 Widerspruch ein.

Bereits mit Schriftsatz vom 06.12.2006 stellten die Bf. beim Sozialgericht einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz, der sich u.a. auch auf die Anrechnung des Einkommens aus Bettelei bezog. Diesen hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 19.12.2006 abgelehnt. Die Einkommensanrechnung, so das Sozialgericht, sei zu Recht erfolgt. Denn der Bf. zu 1. habe unstreitig Einkommen in Höhe von 150,00 EUR erzielt.

Dagegen richtet sich die Beschwerde der Bf. vom 21.12.2006 (beim Bayer. Landessozialgericht eingegangen am 28.12.2006). Sie bestreiten, der Bf. zu 1. hätte ein monatliches Einkommen von 150,00 EUR erzielt.

Die Bf. beantragen sinngemäß,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 21.12.2006 anzuordnen.

Die Bg. beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Zur Begründung beruft sie sich auf ihren bisherigen Sachvortrag.

Mit Schreiben vom 15.01.2007 hat die Justizvollzugsanstalt K. die Bg. darüber informiert, der Bf. zu 1. habe dort eine Strafzeit vom 11.01. bis 27.08.2007 zu verbüßen. Dagegen haben die Bf. mit Schriftsatz vom 26.02.2007 mitgeteilt, der Bf. zu 1. sei am 01.02.2007 wieder entlassen worden; eine Inhaftierung am 11.01.2007 wird jedoch bestätigt. In dem Schriftsatz wenden sich die Bf. nochmals gegen die Behauptung, der Bf. zu 1. habe relevantes Einkommen aus Betteln erzielt.

Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Akten der Bg., auf die Akten des Sozialgerichts sowie auf die des Landesssozialgerichts - auch in den Verfahren S 9 AS 866/06 ER sowie L 7 B 1034/06 AS ER - verwiesen. Sie lagen vor und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere fehlt es bezüglich des Bf. zu 1. nicht an einem Rechtsschutzbedürfnis. Das liegt indes nicht auf der Hand. Denn die von der Bg. vorgenommene Einkommensanrechnung wirkt sich im Ergebnis nur auf den Alg II-Anspruch der Bf. zu 2. aus, während der Bf. zu 1. schon auf Grund einer Absenkung nach § 31 Abs.5 SGB II keine Alg II-Leistungen bezieht. Es kann dahinstehen, ob der Bf. zu 1. durch die Einkommensanrechnung, wenn auch nicht faktisch, so doch zumindest formal-rechtlich beschwert ist. Denn sein Rechtsschutzinteresse folgt nach Ansicht des Senats bereits daraus, dass die Bg. den Bescheid vom 04.12.2006 gerade an ihn adressiert hat, obwohl der Bescheid faktisch nur die Bf. zu 2. betrifft.

Die Beschwerde ist zum Teil auch begründet.

Nach § 86 b Abs.1 Satz 1 Nr.2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Grundsätzlich ist die Frage, ob die aufschiebende Wirkung von Widerspruch oder Anfechtungsklage anzuordnen ist, im Rahmen einer umfassenden und beweglichen Interessenabwägung zu beantworten. Dabei spielen die Erfolgsaussichten in der Hauptsache eine ganz wesentliche Rolle. Gemessen daran erscheint es geboten, bezüglich eines Teils der angefochtenen Regelungen die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 21.12.2006 anzuordnen.

Der Regelungsgehalt des Bescheids vom 04.12.2006 umfasst mehrere Komponenten: Zum Einen wird der Leistungsbescheid vom 17.08.2006 zum Teil aufgehoben. Des Weiteren enthält der Bescheid zumindest konkludent die Anordnung, 161,78 EUR zu erstatten. Schließlich hat die Bg. dadurch, dass sie mitgeteilt hat, ab 01.01.2006 würden monatlich Raten zu je 20,00 EUR einbehalten, die Aufrechnung erklärt.

1. Zunächst fehlt es nicht schon - wie im Verfahren L 7 B 1034/06 AS ER - an der Dringlichkeit des Rechtsschutzbegehrens, weil die Aufhebung der Leistungsbewilligung einen abgelaufenen Zeitraum betrifft. Denn im vorliegenden Fall ist offenbar eine Überzahlung entstanden, welche die Bg. gegen laufende Leistungsansprüche nach § 43 SGB II aufrechnet. Der Streitgegenstand besitzt damit noch in einer Weise Aktualität, dass es nicht angängig schiene, eine akute Dringlichkeit zu verneinen. Auch der relativ geringe Umfang der Aufhebung, Erstattung und Aufrechnung steht der Annahme besonderer Dringlichkeit nicht entgegen.

2. Soweit der Antrag die Regelungen zur Aufhebung und zur Erstattung betrifft, ist eine nachträgliche Änderung eingetreten, die eine teilweise Korrektur der Entscheidung des Sozialgerichts erfordert. Zwar spricht sehr viel dafür, dass der Kläger im maßgebenden Zeitraum tatsächlich dem Grunde nach Einkommen aus Bettelei erzielt hat. Jedoch hält der Senat es für zweifelhaft, ob dem Bf. zu 1. auch im Monat Januar 2007 150,00 EUR auf diese Weise zugeflossen sind.

Nach Aktenlage erachtet der Senat die zwischenzeitliche Behauptung des Bf. zu 1. (vgl. Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom 07.12.2006), er habe sich jeweils 150,00 EUR von Bekannten geliehen, für wenig glaubhaft. Bezeichnend ist, wie sich der Bf. zu 1. in seinem Schriftsatz vom 06.02.2007 eingelassen hat. Darin protestiert er dagegen, Einkommen aus Bettelei anzurechnen. "Verräterisch" mutet jedoch an, wenn er sich zur "Bettler-Szene" folgender Maßen äußert: Der Senat könne sich selber denken, dass noch nicht einmal ein Edel-Penner monatlich so viel Geld erbetteln könne. Dazu benötige man öffentliche Plätze (Kirche, Straße etc.). Er aber, der Bf. zu 1., stehe an solchen Plätzen nie. Daraus dürfte eine gewisse praktische Erfahrung des Bf. zu 1. sprechen.

Somit kann nach den gesamten Umständen wohl davon ausgegangen werden, dass der Bf. zu 1. im streitgegenständlichen Zeitraum tatsächlich gebettelt hat. Insoweit ist dem Sozialgericht beizupflichten. Es ist - zumindest aus Ex-ante-Sicht - auch nicht zu beanstanden, dass die Bg. aus dem Gespräch des Bf. zu 1. mit dem Dipl.-Psychologen A. geschlossen hat, ein entsprechendes Einkommen von 150,00 EUR würde monatlich entstehen. Letztendlich fällt hier auch ins Gewicht, dass der Nichtbezug von Einkommen eine negative Tatbestandsvoraussetzung darstellt, für die im Zweifelsfall die Bf. die objektive Beweislast tragen. Liegen, wie hier, hinreichende Anhaltspunkte für Einkommen aus Bettelei vor, müssen verbliebene Restzweifel nicht dazu führen, dass von einer Einkommensanrechnung abzusehen wäre.

Jedoch erscheint eher unwahrscheinlich, dass der Bf. zu 1. auch im Zeitraum Januar 2007 Betteleinnahmen in Höhe von 150,00 EUR aufzuweisen hatte. Da er ab 11.01.2007 inhaftiert war, dürfte er dazu kaum Gelegenheit gehabt haben. Vor diesem Hintergrund besteht für den Widerspruch vom 21.12.2006 zumindest im Hinblick auf den Monat Januar 2007 eine hinreichende Erfolgsaussicht, um die ausschiebende Wirkung insoweit anzuordnen.

3. Soweit jedoch die im Bescheid vom 04.12.2006 ausgesprochene Aufrechnung im Streit steht, ist die aufschiebende Wirkung insgesamt anzuordnen. Hier stellt sich zunächst das Problem, welcher Rechtsbehelf im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes statthaft ist. Würde die Aufrechnung einen Verwaltungsakt verkörpern, käme die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht, andernfalls der Erlass einer einstweiligen Anordnung. Ob es sich bei der Aufrechnung um einen Verwaltungsakt handelt, ist umstritten. Obwohl der 4. Senat des Bundessozialgerichts sich gegen die Verwaltungsaktsqualität ausgesprochen hat, schließt sich der Senat der zeitlich danach ergangenen Rechtsprechung des Bayer. Landessozialgerichts an, wonach es sich durchaus um einen Verwaltungsakt handele (vgl. Urteil vom 21.09.2005 - L 13 R 4215/03 - sowie vom 28.10.2005 - L 6 R 190/01). Im Ergebnis wirkt sich diese Zweifelsfrage jedoch nicht aus, weil eine entsprechende Regelung, wie sie hier getroffen wird, auch über eine einstweilige Anordnung erreicht werden könnte.

Geht man also von der Verwaltungsaktsqualität der Aufrechnungen aus, bestehen an deren Rechtmäßigkeit Zweifel in einem Ausmaß, die es rechtfertigen, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anzuordnen. Denn ob die Aufrechnung den gesetzlichen Anforderungen genügt, erscheint nach dem jetzigen Stand des Verfahrens völlig offen. Im Hauptsacheverfahren wird zu klären sein, ob die fehlende Bestandskraft der Erstattungsforderung einer rechtswirksamen Aufrechnung entgegen steht. Einerseits spricht viel dafür, dies zu verneinen. Denn wenn die Bg. ihre Forderung vollstrecken darf, erschiene nur schwer vermittelbar, warum dann nicht auch eine Aufrechnung möglich sein sollte. Andererseits aber hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts im Urteil vom 24.07.2003 - B 4 RA 60/02 R - zu erkennen gegeben, dass er insoweit eine eher strenge Auffassung vertritt. Speziell für das Institut der Verrechnung hat er entschieden, jene sei nur zulässig mit bestands- oder rechtskräftig festgestellten Forderungen. Die Verrechung unterscheidet sich zwar signifikant von der Aufrechnung, jedoch gibt die Entscheidung des Bundessozialgerichts Anlass, sie im Hauptsacheverfahren eingehend auf ihre Relevanz für den hier vorliegenden Rechtsstreit zu prüfen. Vor allem aber hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts im genannten Urteil sehr strenge Anforderungen an die Bestimmtheit einer Verrechnungserklärung gestellt; es ist davon auszugehen, dass das Bundessozialgericht diese auch auf die Aufrechnungserklärung übertragen würde. Ob der Bescheid vom 04.12.2006 insoweit hinreichend bestimmt ist, liegt keineswegs eindeutig auf der Hand.

Diese rechtlichen Unsicherheiten lassen es nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls als unbillig erscheinen, das Erstattungsbegehren der Bg. bereits jetzt durch Aufrechnung "zu vollziehen".

5. Bezüglich des Bf. zu 1. bleibt die Beschwerde indes vollständig erfolglos, weil ihm gegenüber keine beschwerenden Regelungen getroffen worden sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Weil die Bg. durch Adressierung des Bescheids vom 04.12.2006 an den Bf. vom 1. dessen Rechtsschutzbegehren provoziert hat, erscheint es angemessen, die hälftige Kostenerstattung nicht auf die Bf. zu 2. zu beschränken.

Dieser Beschluss ist nicht weiter anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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