L 2 P 6/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 32 P 24/04
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 P 6/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
I. Der Rechtsstreit wird ausgesetzt.
II. Dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) werden gemäß Art. 234 Buchst. a des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: 1. Ist Art. 19 Abs. 1 Buchst. a, ggf. in Verbindung mit Absatz 2, der EWG-Verordnung 1408/71 im Hinblick auf Art. 18 EGV und Art. 39, 49 EGV in Verbindung mit Art. 10 der EWG-Verordnung Nr. 1612/68 dahingehend auszulegen, dass der Arbeitnehmer oder Selbstständige bzw. der Familienangehörige keine Geld- oder Erstattungsleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Wohnorts erhält, wenn nach den für letzteren Träger geltenden Rechtsvorschriften keine Sachleistungen, sondern nur Geldleistungen für die bei diesem Versicherten vorgesehen sind? 2. Falls kein derartiger Anspruch besteht, besteht im Hinblick auf Art. 18 EGV bzw. 39, 49 EGV ein Anspruch auf Kostenübernahme - nach vorheriger Genehmigung - für einen stationären Pflegeheimaufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat gegen den zuständigen Träger in der Höhe der im zuständigen Mitgliedsstaat zu gewährenden Leistungen?

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Kostenerstattung für Sachleistungen in Form der vollstationären Pflege.

Die Klägerin bezog zunächst von der beklagten Pflegekasse sog. Kombinationsleistungen (Kombination von Geldleistung und Sachleistung) nach der Pflegestufe III in der Bundesrepublik Deutschland. Da sich ihr Ehemann beruflich nach Österreich orientierte und sich dort um eine Tätigkeit bewarb, wechselte sie in ein in Österreich staatlich anerkanntes Pflegeheim. Sie hielt sich dort vom 17. September 2001 bis 18. Dezember 2003 auf. Einen klägerischen Antrag vom 27. August 2001 auf Leistungen der vollstationären Pflege in Österreich lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 31. August 2001 ab, da das österreichische Recht für derartige Pflegeleistungen keine Sachleistungen vorsehe. Es bestehe deshalb lediglich ein Anspruch auf Auszahlung des deutschen Pflegegeldes nach der Pflegestufe III in Höhe von 1.300 DM (entspricht 664,68 Eur). Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20. März 2002 zurück.

Die hiergegen gerichtete Klage wies das Sozialgericht München mit Urteil vom 11. Oktober 2005 ab. Es sah keinen Verstoß gegen nationales oder europäisches Recht. Insbesondere verstoße Art. 19 Abs. 1 der Verordnung 1408/71 nicht gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 39 EGV in Verbindung mit Art. 42 EGV sowie gegen die (passive) Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 EGV. Im Übrigen handele es sich bei Art. 19 Abs. 1 der Verordnung 1408/71 um eine sog. Kollisionsregelung, die weder unmittelbar noch mittelbar die Dienstleistungsfreiheit beeinträchtige.

Im Berufungsverfahren begehrt die Klägerin weiterhin die Erstattung der Kosten für die Unterbringung in der vollstationären Pflegeeinrichtung in Österreich in Höhe der Differenz zwischen dem bereits gewährten Pflegegeld und dem Höchstbetrag der vollstationären Pflege der Pflegestufe III für die Zeit vom 17. September 2001 bis 28. Dezember 2003. Zur Begründung führt sie aus, faktisch handele es sich aus der Sicht der Pflegekasse sowohl bei der Geldleistung als auch bei der Sachleistung um eine Geldleistung; es bestehe deshalb kein zulässiges Differenzierungskriterium für den Ausschluss des Exports von Sachleistungen. Ferner liege durch die Verweigerung der Erbringung von Sachleistungen ein Verstoß gegen Art. 39 EGV in Verbindung mit Art. 10 der EWG-Verordnung Nr. 1612/68 vor, die entsprechend anzuwenden sei. Eine im Sinne des Art. 10 der EWG-Verordnung Nr. 1612/68 beabsichtigte größtmögliche räumliche Nähe zwischen den Familienangehörigen sei nur dann möglich, wenn sie in einem Pflegeheim in Österreich untergebracht werde. Schließlich liege auch ein Verstoß gegen die (passive) Dienstleistungsfreiheit nach Art. 49 Abs. 1 EGV vor.

II.

Das Verfahren ist gemäß § 114 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszusetzen, um gemäß Art. 234 Buchst. a des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (i.d.F. des Vertrages von Nizza vom 26. Februar 2001 - BGBl II 2001, 1667) eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu der gestellten Frage einzuholen. Der Ausgang des Rechtsstreits hängt von der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ab.

Allein nach innerstaatlichem Recht steht der Klägerin der geltend gemachte Anspruch auf Erstattung der Kosten für die Unterbringung in der vollstationären Pflegeeinrichtung in Österreich in Höhe der Differenz zwischen dem bereits gewährten Pflegegeld und dem Höchstbetrag der vollstationären Pflege nicht zu. Nach § 34 Abs. 1 Nr. 1 des Elften Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB XI) ruht der Anspruch auf Leistungen, solange sich der Versicherte im Ausland aufhält. Ausnahmen bestehen nur bei vorübergehendem Auslandsaufenthalt, die hier jedoch nicht eingreifen.

Nach Art. 19 Abs. 1 Buchst. a der EWG-Verordnung 1408/71 erhält allerdings ein Arbeitnehmer oder Selbstständiger, der im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen Staates wohnt und die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18, erfüllt, in dem Staat, in dem er wohnt, Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre. Entsprechendes gilt gemäß Absatz 2 für Familienangehörige, die im Gebiet eines anderen als des zuständigen Staates wohnen, sofern sie nicht aufgrund der Rechtsvorschriften des Staates, in dessen Gebiet sie wohnen, Anspruch auf diese Leistungen haben.

Diese Regelung läuft jedoch ins Leere, wenn in diesem Mitgliedstaat keinerlei vergleichbare Sachleistungen vorgesehen sind, sondern stattdessen durch Geldleistungen abgegolten werden, die zur Weiterreichung an das Pflegeheim verwendet werden können. In diesem Fall ist das allgemeine Freizügigkeitsrecht (Art. 18 EGV) sowie die Dienstleistungsfreiheit (Art. 39, 49 EGV) berührt.

Nach Art. 18 Abs. 1 EGV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.

Art. 39 Abs. 1 EGV gewährleistet innerhalb der Gemeinschaft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft für Angehörige der Mitgliedstaaten, die in einem anderen Staat der Gemeinschaft als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind, sind grundsätzlich verboten (Art. 49 EGV). Der räumliche und sachliche Anwendungsbereich der Art. 39, 49 EGV ist eröffnet, da unter den Schutzbereich auch Arbeitssuchende fallen, die sich in einen anderen Mitgliedsstaat begeben, um dort einen Arbeitsplatz zu suchen (EuGH Rechtssache C-292/89). Hinsichtlich des personellen Anwendungsbereichs ist auf Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 zu verweisen.

Die hier im Raum stehende Rechtsfrage ist nicht durch das Urteil des Gerichtshofes vom 5. März 1998 (Rechtssache C-160/96) geklärt. Hieraus ergibt sich zwar, dass Leistungen, die die häusliche oder stationäre Pflege eines Versicherten, den Kauf von Pflegehilfsmitteln und bestimmte Maßnahmen decken sollen, unter den Begriff "Sachleistungen" in den Art. 19 Abs. 1 Buchst. a, 25 Abs. 1 Buchst. a und 28 Abs. 1 Buchst. a der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 fallen. Im Übrigen betrifft diese Entscheidung jedoch nur das Pflegegeld als Geldleistung bei Krankheit.

In dem Urteil des Gerichtshofes vom 21. Februar 2006 (Rechtssache C-286/03) stellte dieser nochmals klar, dass Leistungen, die objektiv aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt werden und die darauf abzielen, den Gesundheitszustand und die Lebensbedingungen der Pflegebedürftigen zu verbessern, im Wesentlichen eine Ergänzung der Leistungen der Krankenversicherung bezwecken und damit als "Leistungen bei Krankheit" im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 zu betrachten sind. Im Übrigen bezieht sich auch diese Entscheidung des Gerichtshofes lediglich auf das Pflegegeld.

Ebenfalls zum Pflegegeld (hier nach dem österreichischen Bundespflegegeldgesetz) ergangen ist das Urteil des Gerichtshofes vom 8. März 2001 (Rechtssache C-215/99), wonach der Anspruch auf die Leistung von Pflegegeld nicht davon abhängig gemacht werden darf, dass der Pflegebedürftige seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hat.

Da beispielsweise das österreichische Recht anders als das deutsche Recht nur die Gewährung von Geldleistungen vorsieht, ist die Inanspruchnahme einer Sachleistung als Pflegeleistung eines in Österreich Versicherten in Deutschland ohne Weiteres möglich, nicht jedoch im Falle des Bezuges von Sachleistungen nach deutschem Recht im umgekehrten Fall. Im Falle der Klägerin heißt dies, ihr steht nach ihrem Wechsel der Pflegeeinrichtung von Deutschland nach Österreich nur mehr das Pflegegeld, nicht jedoch die bislang gewährten Sachleistungen zu. Da nach dem Wortlaut des Art. 19 Buchst. a der EWG-Verordnung 1408/71 ein Export von Sachleistungen nicht stattfindet, bestünde kein Anspruch auf Übernahme bzw. Erstattung der sachleistungsbezogenen Kosten.

Da Versicherte hierdurch erhebliche finanzielle Einbußen erleiden würden, ist das allgemeine Freizügigkeitsrecht des Art. 18 EGV und ggf. die Dienstleistungsfreiheit des Art. 39 EGV berührt. Es ist zu fragen, ob Art. 19 Buchst. a der EWG-Verordnung 1408/71 in diesen Fällen dahingehend auszulegen ist, dass der Arbeitnehmer oder Selbstständige bzw. der Familienangehörige dennoch Geld- oder Erstattungsleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Wohnorts erhält. Insoweit stellt sich ggf. die Frage, ob die Beschränkung des Freizügigkeitsrechts bzw. der Dienstleistungsfreiheit aus Gründen der öffentlichen Gesundheit oder aus anderen überwiegenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.

Hilfsweise ist zu klären, ob im Hinblick auf Art. 18 EGV bzw. 39, 49 EGV in entsprechender Anwendung der Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Kostenübernahme für medizinische Dienstleistungen (insb. Urteil des Gerichtshofes vom 12. Juli 2001, Rechtssache C-157/99) ein Anspruch gegen den zuständigen Träger (hier: die Beklagte) auf vorherige Genehmigung und Kostenübernahme für einen stationären Pflegeheimaufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat in Höhe der im zuständigen Mitgliedsstaat zu gewährenden Leistungen bestehen kann.

Der Beschluss ergeht kostenfrei und ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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