L 10 AL 344/06

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 6 AL 246/06
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 10 AL 344/06
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 7/7a AL 76/07 B
Datum
Kategorie
Urteil
I. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.09.2006 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Minderung von Arbeitslosengeld wegen verspäteter Arbeitslosmeldung.

Der 1967 geborene Kläger war vom 01.07.1995 bis 31.03.2003 bei der S. Lebensversicherungs- und Rentenanstalt und ab 01.04.2003 als Bezirksleiter bei der K.-Beratungsgesellschaft mbH beschäftigt. Am 28.07.2004 teilte der Kläger der Beklagten telefonisch mit, dass sein Arbeitsvertrag zum 31.07.2004 ende und er voraussichtlich ab 01.08.2004 eine neue Stelle habe; allerdings sei der Vertrag noch nicht unterzeichnet. Das Arbeitsverhältnis wurde am 01.06.2004 zum 31.07.2004 durch Arbeitgeberkündigung beendet. Am 02.08.2004 meldete sich der Kläger bei der Beklagten arbeitslos. Wegen verspäteter Arbeitsuchendmeldung minderte die Beklagte mit Bescheid vom 23.08.2004 den Anspruch des Klägers auf Leistungen nach § 140 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) um 50,00 EUR für jeden Tag der verspäteten Meldung (längstens jedoch für 30 Tage). Es errechne sich ein Minderungsbetrag in Höhe von insgesamt 1.500,00 EUR. Der Kläger hätte sich spätestens am 02.06.2004 bei der Agentur für Arbeit arbeitsuchend melden müssen. Dieser Tag sei der erste Tag mit Dienstbereitschaft der Agentur für Arbeit nach dem Tag der Kenntnisnahme (01.06.2004) von der Beendigung des Versicherungspflichtverhältnisses. Er habe sich jedoch erst am 28.07.2004 gemeldet. Die Meldung sei somit um 56 Tage zu spät erfolgt.

Zur Begründung seines Widerspruches hiergegen trug der Kläger vor, dass es aufgrund des Dienstbeginnes eines neuen Vorstandes der Muttergesellschaft R. Versicherung zu Änderungen betreffend der Firma K. mit struktureller Neuausrichtung gekommen sei. Somit habe seine Position als Konsultant aus K. heraus gelöst werden und stattdessen in einen neuartigen Vertrag als Firmenkundenberater bei der Muttergesellschaft R. überführt werden sollen. Deshalb sei er auch bis zum 31.07.2004 im Vertragsverhältnis der K. unter vollen Bezügen fortgeführt worden. Demzufolge sei auch nicht davon auszugehen gewesen, dass es für ihn zum Eintritt einer Arbeitslosigkeit habe kommen können. Dass es nun überraschend doch zu einer kurzen Überbrückungszeit mit gemeldeter Arbeitslosigkeit gekommen sei, liege in der Tatsache begründet, dass der Firmenkundenberater-Vertrag in seiner konzeptionellen Form völlig neuartig und die Genehmigungsphase mit Verhandlungen im Beisitz des Gesamtbetriebsrates noch nicht abgeschlossen gewesen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 22.08.2004 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Rechtsfolge einer Minderung des Leistungsanspruchs trete bei einer objektiven Verletzung der persönlichen versicherungsrechtlichen Obliegenheitspflicht ein. Subjektive Gesichtspunkte einschließlich positiver Kenntnis der Handlungspflicht bzw eine Härte sei mangels einer Verschuldens- oder Kausalitätsprüfung nicht zu berücksichtigen. Der Bürger werde im Übrigen in den Massenmedien, Presse, Rundfunk und Fernsehen ausführlich über die Rechtsänderungen informiert. Die hälftige Aufrechnung erfolge im zulässigen Umfang nach § 140 Satz 4 SGB III.

Am 06.06.2005 bat der Kläger, seinen Fall aus dem vergangenen Jahr nochmals in die Bearbeitung zu nehmen. Durch eine neuerliche Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) ergäben sich aktuelle Fakten (s. Urteil des BSG vom 26.05.2005, Az: B 11a/11 Al 81/04 R) und auch dieser konkret beschriebene Vorgang beziehe sich auf das Jahr 2003.

Mit Bescheid vom 09.02.2006 lehnte die Beklagte eine Aufhebung der Entscheidung vom 23.08.2004 ab, denn diese sei zum Zeitpunkt der ständigen Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 25.05.2005 und 18.08.2005) bereits bestandskräftig gewesen.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Er habe berechtigterweise davon ausgehen können, dass eine Weiterbeschäftigung im Unternehmensverbund zustande komme. Bei dem Begriff der "Unverzüglichkeit" müssten bereits die Gründe für eine Verzögerung geprüft werden. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes (Alg) sei jedoch aufgrund rein objektiver Umstände erfolgt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24.04.2006 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Lägen die Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil er auf einer Rechtsnorm beruhe, die nach Erlass des Verwaltungsaktes in ständiger Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden sei, so sei der Verwaltungsakt - nachdem er unanfechtbar geworden sei - nur mit Wirkung für die Zeit nach dem Entstehen der st. Rechtsprechung zurückzunehmen (§ 44 Abs 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X - iVm § 330 Abs 1 SGB III). Mit den Entscheidungen des BSG vom 25.05.2005 und 18.08.2005 liege eine st. Rechtsprechung gemäß § 330 Abs 1 SGB III ab 18.08.2005 vor. Zum Zeitpunkt der st. Rechtsprechung sei der Bescheid über die Minderung bereits bestandskräftig gewesen.

Hiergegen hat der Kläger beim Sozialgericht Nürnberg (SG) Klage erhoben.

Auf Nachfrage des SG hat die Firma K. unter Übersendung des Arbeitsvertrags vom 28.03.2004 und der Kündigung vom 01.06.2004 mit Schriftsatz vom 20.06.2006 mitgeteilt, dass keine Informationen darüber vorlägen, ob der Kläger ein Angebot als Firmenberater bei der R. Versicherung erhalten habe. Die Firma R. Allgemeine Versicherung hat auf Nachfrage des SG mitgeteilt, dass bei der R. Allgemeine Versicherung eine solche Zusage nicht bekannt und in Anbetracht des Sachverhalts auch unwahrscheinlich sei.

Mit Urteil vom 14.09.2006 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Beklagte habe im Bescheid vom 09.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.04.2006 zu Recht die Überprüfung der Minderung des Alg-Anspruchs des Klägers in einem Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X abgelehnt. Das BSG habe in seinen Urteilen vom 25.05.2005 und 18.08.2005 zwar entschieden, dass eine Obliegenheitsverletzung nach § 37b SGB III dann nicht vorliege, wenn ein Arbeitsloser - wie der Kläger - sich aufgrund unverschuldeter Rechtsunkenntnis nicht unverzüglich arbeitsuchend melde. Damit liege hier zwar eine st. Rechtsprechung iS des § 330 Abs 1 SGB III vor, doch sei bereits zum Zeitpunkt dieser ständigen Rechtsprechung der Bescheid vom 23.08.2004 idF des Widerspruchsbescheids vom 17.11.2004 bestandskräftig gewesen. Gegen die Anwendung des § 330 Abs 1 SGB III auf den Fall des Klägers bestünden auch keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Bei § 330 Abs 1 SGB III handele es sich um eine Vorschrift mit verfahrensrechtlichem Einschlag, die unter der Einschränkung des § 44 Abs 1 SGB X insbesondere Grenzen der Bindungswirkung von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) regele (vgl BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 7 zur wortgleichen Vorgängerregelung). Verfahrensrechtliche Bestimmungen seien an den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu messen (vgl BVerfGE 63, 343, 358 f). Dies begegne auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes keinen Bedenken, denn dieser verfassungsrechtliche Grundsatz gewährleiste nicht etwa die Unabänderlichkeit einmal gegebener Verhältnisse und Rechtspositionen (BSGE 54, 223, 229 = SozR 1300 § 44 Nr 3 mwN).

Ferner verstoße § 330 Abs 1 SGB III nicht dadurch gegen Art 3 Abs 1 GG, dass der Kläger anders behandelt werde als ein Versicherter, der das die Rechtslage klärende Urteil erwirkt habe. Insoweit wirke sich die Vorschrift in ähnlicher Weise aus, wie eine Stichtagsregelung, bei der eine zeitliche Differenzierung in der Form der Typisierung grundsätzlich hinzunehmen sei, sofern sie sich als notwendig erweise, sich am gegebenen Sachverhalt orientiere und sachlich vertretbar sei (BVerfGE 13, 31, 38; 58, 81, 126; 75, 78, 106).

Entgegen der Auffassung des Klägers verstoße § 330 Abs 1 SGB III auch nicht gegen Art 14 GG. Der Anspruch auf Alg, der dem Kläger im Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung zugestanden habe, werde zwar von der Eigentumsgarantie grundsätzlich geschützt (BVerfGE 72, 9, 19 f Beschluss vom 18.11.1986 - 1 BVL 29/83; EuGRZ 1987, Seite 86, 90). Die Regelung des § 330 Abs 1 SGB III führe nicht zu einem Totalentzug einer eigentumsgeschützten Rechtsposition, sondern nach § 37b SGB III lediglich zu einer zeitlich begrenzten Minderung des Alg-Anspruchs. Zum anderen sei Sinn der Regelung des § 330 Abs 1 SGB III eine Verwaltungsvereinfachung. Wie sich aus den Materialien zum 1.SKWPG ergebe, solle die Beklagte dadurch von einer massenhaften rückwirkenden Korrektur von Verwaltungsakten entlastet werden (BT-Drs 12/5502 Seite 37; BT-Drs 8/2034 Seite 37; Pilz: in: Gagel, Kommentar zum SGB III § 330 Rdnr 15). Die zeitliche Begrenzung eines Zugunstenverfahrens auf den Zeitpunkt nach dem Entstehen einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu begrenzen, habe somit dem wichtigen Gemeinwohlbelang gedient, einer zeitnahen Leistungsgewährung von Leistungen nach dem SGB III, die überwiegend der Erhaltung des Lebensunterhaltes von Arbeitslosen dienten, den Vorrang einzuräumen und die Beklagten von massenhaften rückwirkenden Korrekturen von Verwaltungsakten zu entlasten.

Hiergegen richtet sich die beim BayLSG eingelegte Berufung des Klägers. Er habe berechtigter Weise davon ausgehen können, dass der Anschlussvertrag als Firmenkundenberater bei der Muttergesellschaft R. zustande komme und eine Arbeitslosigkeit daher nicht eintrete. Eine Obliegenheitsverletzung habe zum damaligen Zeitpunkt nicht vorgelegen.

Der Anwendung des § 330 Abs 1 SGB III stünden erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken entgegen. Der Arbeitslosengeld-Anspruch sei anerkanntermaßen von der Eigentumsgarantie des Art 14 GG umfasst. Der Zweck des § 330 Abs 1 SGB III, die entsprechende Behörde von der massenhaften rückwirkenden Korrektur von Verwaltungsakten zu entlasten, stelle kein dem Gemeinwohl dienender Zweck dar. Zum einen unterstelle diese Begründung, dass offensichtlich im Bereich der Arbeitslosenversicherung massenhafte rechtswidrige Bescheide existierten, die die Anspruchsberechtigten belasteten. Wenn dies so sei, sei es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, dass diese massenhaft rechtswidrigen Bescheide Bestand hätten. Durch diese Bescheide würden den Anspruchsberechtigten Leistungen zurückbehalten, die gerade im Bereich der Arbeitslosenversicherung durch persönliche Arbeitsleistung verdient seien. Damit verzichteten die Anspruchsberechtigten auf geschaffenes Vermögen, nur um die entsprechende Behörde vor gesteigertem Arbeitsanfall zu schützen. Dies entspreche kaum dem Gemeinwohl. Auch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit könne die vorstehende Regelung des § 330 Abs 1 SGB III keinen Bestand haben. Es sei den Betroffenen nicht zumutbar, auf durch Eigenleistungen geschaffene Rechtspositionen zu verzichten, um die Arbeitsbewältigung der Beklagten sicherzustellen. Auch scheine es in anderen Gebieten des öffentlichen Rechts nicht notwendig zu sein, die Behörden vor erhöhtem Arbeitsanfall zu schützen, da sich eine dem § 330 Abs 1 SGB III vergleichbare Regelung in anderen Gesetzen nicht wiederfinde.

In diesem Zusammenhang werde auch eine Verletzung von Art 3 Abs 1 GG gerügt. Nur die Versicherten der Arbeitslosenversicherung müssten sich damit abfinden, dass benachteiligende rechtswidrige Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit nicht aufgehoben werden. Die Ungleichbehandlung von Versicherten der Arbeitslosenversicherung und Beziehern anderer Leistungen sei nicht durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.09.2006 sowie den Bescheid der Beklagten vom 09.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.04.2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, unter Rücknahme des Bescheids vom 23.08.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2004 den einbehaltenen Minderungsbetrag von 1.500,00 EUR auszubezahlen.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

In ihrer Berufungserwiderung bezieht sich die Beklagte auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid und auf die Darlegungen im Tatbestand des erstinstanzlichen Urteils.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Akte der Beklagten und des SG sowie des Gerichts Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig (§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Berufung ist jedoch nicht begründet.

Zu Recht hat das SG mit Urteil vom 14.09.2006 die Klage abgewiesen, denn die Beklagte hat mit Bescheid vom 09.02.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.04.2006 rechtmäßig die Überprüfung der Minderung des Alg-Anspruchs des Klägers in einem Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X abgelehnt. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Rücknahme des Bescheids vom 23.08.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.11.2004 mit Wirkung für die Vergangenheit zu, § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X iVm § 330 Abs 1 SGB III.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X.

Liegen die Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen, nicht begünstigenden Verwaltungsaktes vor, weil er auf einer Rechtsnorm beruht, die nach Erlass des Vewaltungsaktes ... in st. Rechtsprechung anders als durch die Agentur für Arbeit ausgelegt worden ist, so ist der Verwaltungsakt, wenn er unanfechtbar geworden ist, nur mit Wirkung für die Zukunft ... nach dem Entstehen der st. Rechtsprechung zurückzunehmen, § 330 Abs 1 SGB III.

Eine "st. Rechtsprechung" in diesem Sinne liegt seit 18.08.2005 vor. Das BSG hat in seinen Urteilen vom 25.05.2005 und 18.08.2005 entschieden, dass eine Obliegenheitsverletzung nach § 37b SGB III dann nicht vorliegt, wenn einer Arbeitsloser - wie im vorliegenden Fall der Kläger - sich aufgrund unverschuldeter Rechtsunkenntnis nicht unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern (s. § 121 Abs 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch -BGB-), arbeitssuchend meldet. Zum Zeitpunkt dieser st. Rechtsprechung war der Bescheid vom 23.08.2004 idF des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2004 bereits bestandskräftig gemäß § 77 SGG, so dass der bestandskräftige Verwaltungsakt nur mit Wirkung für die Zukunft nach dem Entstehen der st. Rechtsprechung, d.h. ab dem 18.08.2005, zurückzunehmen war. Anders als nach dem bis zum 31.12.1993 geltenden Recht (§ 152 AFG aF) stand der Beklagten bezüglich der Frage, ob sie den Verwaltungsakt für die Vergangenheit aufhebt oder nicht, kein Ermessen zu. Sind nämlich die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X erfüllt, wird durch Abs 1 des § 330 SGB III die Anwendung des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X ausgeschlossen, der bestimmt, dass der VA "im Übrigen" für die Vergangenheit zurückgenommen werden "kann".

Das Gericht hat auch keinen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des § 330 Abs 1 SGB III. Zu Recht hat das SG darauf hingewiesen, dass es sich bei § 330 Abs 1 SGB III um eine Vorschrift mit verfahrensrechtlichem Einschlag handelt, die unter der Einschränkung des § 44 Abs 1 SGB X insbesondere Grenzen der Bindungswirkung von Verwaltungsakten (§ 77 SGG) regelt (vgl. BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 7 zur wortgleichen Vorgängerregelung). Verfahrensrechtliche Bestimmungen sind an den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu messen (vgl. BVerfGE 63, 343, 358 f). Zutreffend hat das SG darauf hingewiesen, dass § 330 Abs 1 SGB III und § 79 Abs 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) auf der verfassungsrechtlich zulässigen - wenn auch nicht gebotenen - Entscheidung des Gesetzgebers beruht, bei der Behandlung von nicht mehr anfechtbaren Verwaltungsakten dem Gedanken der Rechtssicherheit Vorrang vor dem des Rechtsschutzes des Einzelnen iS der Herstellung der materiell richtigen Rechtslage zu geben (vgl BSGE 64, 62, 66 = SozR 4100 § 152 Nr 18, BVerfGE 11, 263, 265; 20, 230, 235; 32, 287, 289 ff; 53, 230, 231).

Auch ein Verstoß des § 330 Abs 1 SGB III gegen Art 14 GG liegt nicht vor. Zwar wird der Anspruch des Klägers auf Alg grundsätzlich von der Eigentumsgarantie geschützt (BVerfGE 72, 9, 19 f, Beschluss vom 12.02.1986 - 1 BvL 39/83; EuGRZ 1986, 285 - 289). Die konkrete Reichweite des Schutzes durch die Eigentumsgarantie ergibt sich aber aus der Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums, die nach Art 14 Abs 1 Satz 2 GG Sache des Gesetzgebers ist (vgl BVerfGE, aaO, 9, 22).

Das Bundesverfassungsgericht hatte zur Inhalts- und Schrankenbestimmung bei Rechtspositionen aus dem Bereich der Arbeitslosenversicherung entschieden, dass es Befugnis des Gesetzgebers sei, Ansprüche auf Alg zu beschränken. Sofern die Beschränkung einem Zweck des Gemeinwohls diene und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspreche, sei es dem Gesetzgeber grundsätzlich nicht verwehrt, Ansprüche umzugestalten (BVerfGE 53, 257, 293). Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müsse dabei jedoch die Einschränkung der Eigentümerbefugnisse zur Erreichung des angestrebten Zieles geeignet und notwendig sein, dürfe den Betroffenen nicht übermäßig belasten und müsse ihm zumutbar sein (vgl BVerfGE 21, 150, 155; 58, 137, 148 mwN; BVerfG, Beschluss vom 10.02.1987 - 1 BvL 15/83 aaO).

Der Eingriff in das Eigentumsrecht des Klägers ist hier aus Gründen des öffentlichen Interesses und auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit mit Art 14 GG vereinbar. Denn die Beklagte soll - wie sich aus den Materialien zum 1. SKWBPG ergibt - durch die Regelung des § 330 Abs 1 SGB III von einer massenhaften rückwirkenden Korrektur von Verwaltungsakten entlastet werden (BT-Drs 12/5502 S.37; BT-Drs 8/2034 S.37; Pilz: in: Gagel, Kommentar zum SGB III, § 330 RdNr 15). Sinn der Regelung des § 330 Abs 1 SGB III ist somit eine Verwaltungsvereinfachung. Die zeitliche Begrenzung eines Zugunstenverfahrens auf den Zeitpunkt nach dem Entstehen einer ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu begrenzen, dient somit dem wichtigen Gemeinwohlbelang, einer zeitnahen Leistungsgewährung von Leistungen nach dem SGB III, die überwiegend der Erhaltung des Lebensunterhalts von Arbeitlosen dienen, den Vorrang einzuräumen und die Beklagten von massenhaften rückwirkenden Korrekturen von Verwaltungsakten zu entlasten. Entgegen der Auffassung der Klägerin ist dies ein Ziel, das dem Gemeinwohl dient und verfassungsrechtlich anerkennenswert ist.

Soweit der Kläger vorträgt, er liege ein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG vor, weil nur Versicherte der Arbeitslosenversicherung von der Einschränkung des § 44 SGB X betroffen seien, vermag diese Argumentation einen Verstoß gegen Art 3 GG nicht zu begründen. Der Gleichheitssatz ist nämlich nur dann verletzt, wenn ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund für eine Ungleich- oder Gleichbehandlung nicht zu finden ist, d.h. wenn eine Rechtsregelung als willkürlich im objektiven Sinne bezeichnet werden muss (BVerfGE 4, 155). Dabei ist zu beachten, dass Abs 1 des Art 3 GG dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Rechtsordnung einen weiten Spielraum lässt. Eine Regelung verstößt nicht schon deshalb gegen den Gleichheitssatz, weil eine andere gerechter und vernünftiger gewesen wäre (BVerfGE 3, 182; 23, 25; 38, 17). Der Gesetzgeber kann unter mehreren in der Sache konkurrierenden rechtspolitischen Gesichtspunkten wählen (BVerfGE 17, 130). In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Leistungsgewährung weiter als bei Eingriffsregelungen ist (BVerfGE 17, 216; 29, 56; 36, 235). Wie bereits dargelegt, soll die Beklagte durch § 330 Abs 1 SGB III von einer massenhaften rückwirkenden Korrektur von Verwaltungsakten entlastet werden. Diese Zielsetzung, die der Gesetzgeber mit der Regelung des § 330 Abs 1 SGB III verfolgt, ist jedenfalls nicht willkürlich im objektiven Sinn. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz kann insbesondere nicht damit begründet werden, dass es gerechter bzw vernünftiger gewesen wäre, die Einschränkung des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB X ggf. auch für Versicherte anderer Sozialversicherungszweige zu begründen bzw. die Einschränkung ausnahmslos zu unterlassen. Die Entscheidung, welcher Sozialversicherungträger vor möglichen massenhaften rückwirkenden Korrekturen von Verwaltungsakten entlastet werden soll und die prognostische Beurteilung, in welchen Sozialleistungsbereichen es dazu kommen kann, fällt in den Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers und stellt keinen Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG dar.

Nach alledem war die Berufung als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht, § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG.
Rechtskraft
Aus
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