L 7 B 480/05 AS ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 50 AS 393/05 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 7 B 480/05 AS ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerdegegnerin wird unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts München vom 2. August 2005 verpflichtet, der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann für die Zeit vom Juli 2005 bis Mai 2006 die tatsächlichen Unterkunftskosten zu zahlen.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Gründe:

I.

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Beschwerdeführer (Bf) auch für die Zeit ab dem 01.07.2005 nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) einen Anspruch auf die tatsächlichen Unterkunftskosten hat.

Die Beschwerdegegnerin (Bg) bewilligte dem Bf mit Bescheid vom 26.11.2005 für die Zeit vom 01.01. bis 31.03.2005 Leistungen nach dem SGB II für ihn und seine Ehefrau in Höhe von 1.472,01 EUR. Zugrundegelegt wurden die tatsächlichen Unterkunftskosten des Bf für eine 108 qm große Wohnung, deren Kaltmiete 749,55 EUR beträgt. Der Bescheid enthält folgendenden Hinweis: "Bitte beachten Sie, dass Ihre Kosten für Unterkunft und Heizung über der Angemessenheitsgrenze von 448,50 EUR für einen 2-Personenhaushalt liegen. Bei nächster Antragstellung kann Ihnen nur noch dieser Betrag gewährt werden."

Mit Bescheid vom 21.03.2005 wurden dem Bf vom 01.04. bis 30.09. 2005 Leistungen in Höhe von 1.014,96 EUR bewilligt. Die Unterkunftskosten wurden in Höhe von 392,00 EUR anerkannt. Mit seinem Widerspruch machte der Bf geltend, die Übernahme der Unterkunftskosten in tatsächlicher Höhe für nur vier Monate verstoße gegen § 22 Abs. 1 SGB II. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.04. 2005 (zur Post gegeben am 20.04.2005) wies die Bg den Widerspruch zurück. Die Miete des Bf sei doppelt so hoch wie die angemessenen Unterkunftskosten. Da der erste Bescheid bereits am 26.11.2004 erlassen worden sei, sei es angemessen, wegen der extrem hohen Miete den Sechs-Monatszeitraum des § 22 Abs. 1 SGB II nicht auszuschöpfen. Der Bf habe vier Monate Zeit gehabt, sich um die Senkung seiner Unterkunftskosten zu bemühen. Es bestehe ein ausreichend großes Wohnungsangebot an preiswerteren Zwei-Zimmerwohnungen.

Mit seiner am 23.05.2005 zum Sozialgericht München (SG) erhobenen Klage machte der Bf geltend, er sei krank und benötige ein Beatmungsgerät. Wohnungen mit Treppen könne er nicht annehmen und den Umzug nicht selber durchführen. Er benötige Platz zur Aktenaufbewahrung aus seinem Geschäftsbetrieb. Wegen des Konkurses sei er zu eidesstattlichen Versicherungen verpflichtet und werde deswegen von keinem Vermieter akzeptiert. Auch der Hund benötige Platz. Wohnungen zu dem Preis seien nicht zu erhalten.

Am 18.07.2005 beantragte der Bf gemäß § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), die Bg zu verpflichten, ihm die Unterkunftskosten in voller Höhe zu bezahlen. Wegen verschiedener Krankheiten seien diese in tatsächlicher Höhe zu übernehmen. Ein Umzug sei für ihn finanziell nicht machbar. Die vollen Unterkunftskosten seien zumindest für sechs Monate in voller Höhe zu übernehmen. Er sei nicht aufgefordert worden, die hohen Kos-ten zu senken. Auch könne nicht nachgeprüft werden, ob der befristete Zuschlag nach § 24 SGB II richtig berechnet wurde und die Kosten für Unterkunft und Heizung zutreffend seien. Im Übrigen seien die Regelungen des SGB II verfassungswidrig.

Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 02.08.2005 abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, soweit der Bf die Übernahme und Anerkennung der Unterkunftskosten für die Vergangenheit begehre, habe er keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Soweit er die Anerkennung der Unterkunftskosten in tatsächlicher Höhe begehre, habe er keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Wohnung des Bf sei unangemessen groß und teuer. Auch unter Berücksichtigung seiner Erkrankung sei es dem Bf zuzumuten, eine preiswertere Wohnung im Bereich der Bg zu suchen oder auf andere Weise die Unterkunftskosten zu senken. Nachweise über ent-sprechende Bemühungen habe der Bf weder im Gerichts- noch im Verwaltungsverfahren vorgelegt. Die Behauptung des Bf, es gebe keine Mietwohnungen zu den von der Bg festgelegten Mietobergrenzen, sei nicht weiter belegt worden. Ein Anspruch über die sechs Monate hinaus sei nur dann gegeben, wenn der Hilfesuchende substantiiert darlege, dass er eine angemessene Wohnung trotz intensiver und ernsthafter Suche nicht habe anmieten können. Dass diese Voraussetzungen vorliegen, habe der Bf nicht glaubhaft gemacht.

Der Bf hat gegen den am 10.08.2005 zugestellten Beschluss am 30.08.2005 Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat (Beschluss vom 05.09.2005). Zur Begründung macht er geltend, durch die Kürzung der Leistungen seien ihm erhebliche finanzielle Rückstände beim Stromversorgungsunternehmen entstanden. Ein Abschalten der Stromversorgung sei ihm mehrfach angedroht worden. Nur durch größte Anstrengungen und Appelle an die Menschlichkeit habe er das Versorgungsunternehmen bisher davon abhalten können, die Stromversorgung einzustellen. Ein Abstellen des Stromes würde bedeuten, dass er das dringend benötigte Schlafapnoegerät nicht mehr benutzen könne, wodurch mitunter auch Lebensgefahr durch Ersticken bestehe.

Während des noch anhängigen Klageverfahrens hat die Bg mit Bescheid vom 27.09.2005 auch für die Zeit vom 01.04 bis zum 30.06.2005 die tatsächlichen Unterkunftskosten übernommen und mit Bescheiden vom 07.12.2005 die Leistungen wegen des benötigten Mehrbedarfs für Ernährung angehoben.

Der Beschwerdeführer stellt sinngemäß den Antrag, den Beschluss des Sozialgerichts München vom 2. August 2005 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin zu verpflichten, ihm die tatsächlichen Unterkunftskosten über den 30. Juni 2005 hinaus fortzuzahlen.

Die Beschwerdegegnerin stellt sinngemäß den Antrag, die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie nimmt im Wesentlichen auf ihr bisheriges Vorbringen Bezug.

II.

Die eingelegte Beschwerde ist zulässig und sachlich begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Dabei hat der Bf sowohl die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (den Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (den Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen.

Der Bf hat im Beschwerdeverfahren einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht; denn er trägt vor, ihm drohe die Abschaltung der Stromversorgung.

Der Anordnungsanspruch des Bf ergibt sich aus § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Nach dieser Vorschrift haben die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende Hilfebedürftige im Sinne des § 9 SGB II - der Bf zählt zu diesem Personenkreis - auch die den angemessenen Umfang übersteigenden Unterkunftskosten so lange zu zahlen, wie es dem Hilfebedürftigen bzw. der Bedarfsgemeinschaft nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Die Unterkunftskosten für die Wohnung sind für einen Zweipersonenhaushalt mit einer Kaltmiete von fast 750 EUR unangemessen hoch.

Die Voraussetzungen des § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB II lagen für die Zeit ab dem 01.07.2005 vor. Es kann dahingestellt bleiben, ob dem Bf und seiner Ehefrau ein Umzug unmöglich oder unzumutbar war; denn die Bg kann sich nicht darauf berufen, die Sechs-Monatsfrist sei bereits am 30.06.2005 abgelaufen gewesen, weil diese mangels hinreichender Aufklärung des Bf nicht in Lauf gesetzt wurde. Die Bg hat dem Bf mit dem Bescheid vom 26.12.2004 zwar mitgeteilt, dass die Miete unangemessen hoch sei und dass bei der nächsten Antragstellung nur noch 448,50 EUR gewährt würden, er wurde aber nicht darüber informiert, in welcher Weise und mit welcher Intensität die Wohnungssuche zu erfolgen hatte und wie er dies nachzuweisen habe. Im Hinblick auf die Folgen hätte die Bg z.B. durch ein Merkblatt näher konkretisieren müssen, welche Anforderungen an die Wohnungssuche und an die entsprechenden Nachweise gestellt werden.

Zwar müssen für die Suche nach einer angemessenen Wohnung alle Möglichkeiten unter Zuhilfenahme aller erreichbaren Hilfen oder Hilfsmittel in Anspruch genommen werden (so Berlit in LPK-SGB II, § 22, RdNr 47). Entsprechend den zur Sozialhilfe entwickel-ten Grundsätzen, auf die ausweislich der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 15/1516, Begründung zu § 22 Abs. 1) zurückgegriffen werden kann, hätte der Bf an sich substantiiert darlegen müssen, dass eine andere bedarfsgerechte und kostengünstigere Unterkunft im Bedarfszeitraum auf dem örtlichen Wohnungsmarkt nicht vorhanden bzw. trotz ernsthafter und intensiver Bemühungen nicht auffindbar oder eine vorhandene Unterkunft nicht zu-gänglich war (so Bundesverwaltungsgericht - BVerwG - in BVerwGE 101, 194). Die vorgetragenen Bemühungen des Bf genügen zwar nicht diesen Anforderungen an eine ernsthafte und intensive Wohnungssuche. Dies ist aber - wie dargestellt - deshalb unschädlich, weil er über diese Obliegenheit nicht hinreichend aufgeklärt wurde.

Die Ausgestaltung der Obliegenheiten des Sozialrechts zeigen, dass dem Leistungsberechtigten eine Obliegenheitsverletzung mit nachteiligen Auswirkungen auf seinen Leistungsanspruch nur vorgeworfen werden kann, wenn er in Kenntnis der konkreten Verhal-tensanforderungen gegen diese verstößt (siehe dazu BSG, Urteil vom 25.05.2005 - B 11a/11 AL 81/04 R zur unverschuldeten Unkenntnis von der Obliegenheit zur frühzeitigen Meldung nach § 37 b SGB III).

Ein anderes Ergebnis wäre im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wegen der gravierenden Rechtsfolgen verfassungsrechtlich bedenklich. Durch die Kürzung der Kosten der Unterkunft auf die nach Ansicht der Bg angemessenen Kosten sind die Mittel, die dem Bf und seiner Ehefrau zur Verfügung standen, unter das vom Gesetzgeber für erforderlich gehaltene "soziokulturelle Existenzminimum" abgesunken.

Da der einstweilige Rechtsschutz grundsätzlich der Behebung einer gegenwärtigen Notlage dienen soll, wurde die angeordnete Leistungspflicht der Bg auf die Zeit von drei Monaten beschränkt. Die Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten wurde daher nur bis Ende Mai 2006 zugesprochen. Eine weitere Sechs-Monatsfrist konnte dem Bf nicht eingeräumt werden, weil er durch das Verfahren zwischenzeitlich über die Sach- und Rechtslage hinreichend informiert worden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit einem weiteren Rechtsmittel anfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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