Land
Hessen
Sozialgericht
SG Frankfurt (HES)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Frankfurt (HES)
Aktenzeichen
S 8 U 193/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 3 U 9/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. August 2008 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Feststellung seiner Harnblasenkrebs-Erkrankung als BK nach der Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV ab Juli 2006 bis Juni 2008 Verletztenrente nach einer MdE von 50 v.H. und ab Juli 2008 bis Juni 2011 einschließlich nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung einer Harnblasenkrebserkrankung als Berufskrankheit (BK) Nr. 1301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV-Schleimhautveränderungen, Krebs oder anderen Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine).
Der 1951 geborene Kläger war ausschließlich bei der ehemaligen X AG am Standort C Stadt als Chemiefachwerker beschäftigt. Im Einzelnen:
1967 – 1969 Berufsausbildung zum Chemiefachwerker (Werkschule) keine relevanten Expositionen gegenüber chemischen Arbeitsstoffen,
1969 – 1970 OXO – Betrieb, Pharma-Vorprodukt, Chemiewerker,
1970 – 1971 Resocynbetrieb, Herstellung Gummi Inhaltsstoff, Chemiewerker,
1971 – 1972 Wehrdienst als Sanitäter,
1973 – 1984 Angestellter in der Werksärztlichen Abteilung der X AG,
1984 – 1993 Isocyanatbetrieb (Betriebsmeister Herr S.), Chemiewerker,
1993 – 1994 Reduktionsbetrieb, Chemiewerker,
1995 – Diketanbetrieb, Chemiewerker.
Im Juni 2006 wurde bei dem Kläger ein tapilläres Urothelcarcinon der Harnblase entdeckt. In der Klinik für Urologie und Kinderurologie der Uni-Klinik C-Stadt erfolgte am 27. Juli 2006 eine Resektion des erkrankten Gewebes der Harnblase.
Am 2. August 2006 zeigte die Sozialarbeiterin der Uniklinik C-Stadt, Frau Z, unter Hinweis auf die Karzinomerkrankung des Klägers das mögliche Bestehen einer BK an. Bei einem anschließenden Anruf teilte der Kläger mit, er führe seine Erkrankung auf seine Tätigkeit in den 80-iger Jahren bei der X AG zurück, wo er im Isocyanatbetrieb, Gebäude C 472 (heute nicht mehr existent) in nicht unbeträchtlichen Umgang mit aromatischen Aminen und Chlorbenzol gehabt habe.
Die Beklagte holte sodann zunächst eine Stellungnahme ihres technischen Aufsichtsdienstes ein. In seiner Stellungnahme vom 18. Dezember 2006 kam Dr. W zu dem Ergebnis, dass der Kläger bei der Tätigkeit in der X AG gegenüber aromatischen Arminen, insbesondere Anilin, sowie gegenüber Benzol und Ranej-Nickel exponiert gewesen sei.
Ferner holte die Beklagte eine Stellungnahme des Landegewerbearztes ein. In seiner Stellungnahme vom 23. Januar 2007 kam für diesen der Facharzt für Arbeitsmedizin MJ. zu dem Ergebnis, aus gewerbeärztlicher Sicht sei eine BK Nr. 1301 anzuerkennen.
Auf Grund der Auswahlentscheidung des Klägers vom 2. Oktober 2006 gab die Beklagte mit Schreiben vom 29. Januar 2007 ein Gutachten bei dem Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg, Prof. Dr. med. D in Auftrag. In seinem wissenschaftlich begründeten arbeitsmedizinischen Fachgutachten vom 31. Mai 2007 kam Prof. Dr. D nach ambulanter Untersuchung vom 26. März 2007 zu dem Ergebnis, dass das operativ entfernte Harnblasenkarzinom bei Vorliegen der haftungsbegründenden Kausalität ursächlich auf die versicherte Tätigkeit des Klägers zurückzuführen sei.
Zur Abklärung der Expositionsverhältnisse beauftragte die Beklagte Ihren technischen Aufsichts- und Beratungsdienst (TAD). In seinen Berichten vom 30. August 2007 und 26. Oktober 2007 kam der Mitarbeiter des TAD, Dr. W, zu dem Ergebnis, dass der Kläger während seiner Tätigkeit als Chemifachwerker im Isocyanat-Betrieb in der Zeit von 1984 bis 1993 gegenüber Anilin, para-Chloranilin, 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid exponiert gewesen sei. Während seiner Tätigkeit an Bahnkesselwagen sei er 10 bis 20mal im Jahr gegenüber aromatischen Aminen (para-Chloranilin und/oder 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid) exponiert gewesen. Weiterhin seien pro Schicht etwa 18 bis 20 Proben aus Kesseln entnommen worden (para-Chloranilin und/oder 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid). Bei Instandhaltungsmaßnahmen sei ein Kontakt zu aromatischen Aminen (para-Chloranilin und/oder 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid) durch kontaminiertes Isoliermaterial gegeben gewesen. In Ermangelung von Betriebsunterlagen könne allerdings nicht gesagt werden welche Stoffe in welcher Häufigkeit hergestellt bzw. verkauft worden seien.
Auf dieser Grundlage holte die Beklagte eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. D ein. In seiner Stellungnahme vom 20. März 2008 empfahl Prof. Dr. D, das Harnblasenkarzinom des Klägers nicht als Berufskrankheit nach Nr. 3101 BKV anzuerkennen und zu entschädigen. Zur Begründung führte er aus, Anilin sei durch die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe lediglich in die Kategorie 4 eingestuft worden. Wie hoch die Exposition gegenüber p-Chloranilin, durch die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe in die Kategorie 2 eingestuft, im Einzelnen gewesen sei, bleibe unklar. Insgesamt gesehen habe jedoch keine exzessiv hohe Exposition gegenüber urothelkanzerogenen aromatischen Aminen in den neuen Jahren der Beschäftigung des Klägers im Isocyanat-Betrieb vorgelegen. Auch wenn bei dem Kläger durch das Erkrankungsalter von 55 Jahren ein deutlich vorgezogener Erkrankungsbeginn vorliege, erscheine in der Zusammenschau der Dinge die Harnblasenkarzinomerkrankung doch eher als schicksalhaft.
Dieser Einschätzung stimmte der Landesgewerbearzt in seiner Stellungnahme vom 17. April 2008 zu.
Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 3101 BKV mit Bescheid vom 14. Mai 2008 ab. Zur Begründung führte sie aus, nach der Gefährdungsanalyse ihres technischen Aufsichts- und Beratungsdienstes sei der Kläger im Isocyanat-Betrieb unter anderem den aromatischen Aminen para-Chloranilin, Anilin, Ziffer 3, 4-Dechloranilin sowie n-Aminobenzotrefluorid ausgesetzt gewesen. Nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand sei die kanzerogene Wirkung von para-Chloranilin in Tierversuchen, jedoch nicht in epidemiologischen Studien bei exponiert Beschäftigten nachgewiesen worden. Dem reinen Anilin werde kanzerogene Wirkung abgesprochen; im Einzelfall könne dieses mit krebserzeugenden aromatischen Arminen verunreinigt sein. Dieser Nachweis habe jedoch nicht geführt werden können. Bei 3,4 Dichloranilin und m-Aminobenzoltrifluorid handele es sich zwar um gesundheitsschädliche, nicht aber um krebserzeugende Arbeitsstoffe.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. August 2008 zurück.
Hiergegen richtet sich die am 26. August 2008 erhobene Klage. Es sei nicht nachvollziehbar, wie der Gutachter in seiner abschließenden Stellungnahme vom 20. März 2008 zu einer abweichenden Einschätzung gegenüber seinem Gutachten vom 31. Mai 2007 komme. Ferner habe der Gutachteer offensichtlich übersehen, dass bei der täglichen Probenentnahme an den Kesseln eine Exposition insbesondere durch Hautkontakt zu p-Chloranilin gegeben sei und zwar in einem ganz erheblichen Umfang. Pro Schicht seien 18 bis 20 Proben an den Kesseln entnommen worden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2008 aufzuheben, festzustellen, dass es sich bei der Blasenerkrankung des Klägers um eine Berufskrankheit nach Nr. 1301 BKV handelt sowie die Beklagte zu verurteilen, ihn entsprechend zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält an ihren Bescheiden fest. Im Laufe des Verfahrens legte sie eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. D vom 20. März 2008 vor. Darin führt dieser aus, dass Studien, die ein erhöhtes Auftreten von Harnblasenkarzinomen nach Exposition zu Isocyanaten zeigen, derzeit nicht vorliegen würden. Im Übrigen sei der Kläger Nitroaromaten nur über einen relativ kurzen Zeitraum, nämlich von 1993 bis 1994, ausgesetzt gewesen. Bei der Begutachtung von Harnblasenkarzinomen zur Abklärung der beruflichen Verursachung sei eine Qualifizierung der Exposition von größter Bedeutung. Die Allgemeinbevölkerung sei nämlich gegenüber aromatischen Aminen ubiquitär exponiert, so dass der alleinige Nachweis einer Exposition nicht belegen könne, dass ein Harnblasenkarzinom durch berufliche Einflüsse wesentlich mitverursacht wurde. Er gehe unter Bezugnahme auf das Konzept von Weiß "Dosismaß als Hilfestellung zur gutachterlichen Beurteilung einer BK 1301" davon aus, dass der innere Zusammenhang prinzipiell dann erfüllt sei, wenn die kumulative Exposition gegenüber aromatischen Aminen den mg-Bereich erreiche. Sollte sich eine Exposition gegenüber urothelkanzerogenen aromatischen Aminen im mg-Bereich (kumulative Exposition) durch den TAD nicht bestätigen lassen, empfehle man, das Harnblasenkarzinom nicht als BK 1301 anzuerkennen.
Die Kammer hat zu weiteren Aufklärung des Sachverhalts ein wissenschaftliches fachärztliches Gutachten bei dem Leiter des Instituts und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin, Prof. Dr. med. A. eingeholt. In seinem Gutachten vom 10. Februar 2009 stellt Prof. Dr. A. nach ambulanter Untersuchung des Klägers vom 6. Januar 2009 fest, dass dieser gegenüber 3,4-Dichloranilin, p-Chloranilin (4-Chloranilin), Chlortoluidin-2,4 (3-Chlor-4-methylanilin), Cumin (p-Isopropyl-Anilin, 4-Isopropyl-Anilin), m Aminobenzotriflurid (m-Trifluormethyl-Anilin, 3-Aminobenzotrifluorid) und Anilin (Aminobenzol) exponiert gewesen sei. Hinsichtlich 3,4-Dichloranilin werde ein Verdacht auf kanzerogene Wirkung nicht als relevant angesehen, da es keine Hinweise für eine Dehalogenisierung gebe. Auch bei Chlortoluidin-2,4 hätten zwei Langzeitfütterungsstudien an Ratten und Mäusen keine Befunde ergeben, die auf eine kanzerogene Wirkung schließen ließen. Hinsichtlich Cumin (p-Isopropyl-Anilin, 4 Isopropyl-Anilin) und m-Aminobenzotriflurid (m-Trifluormethyl-Anilin, 3 Aminobenzotrifluorid) habe eine Recherche der GESTIS-Stoffdatenbank ergeben, dass keine Hinweise auf eine kanzerogene Wirkung bestünden, eine Bewertung des kanzerogenen Potentials und eine Einstufung in die Liste der krebserregenden Stoff jedoch ausstehe. Demgegenüber habe p-Chloranilin in Langzeitstudien mit oraler Applikation an Ratten und Mäusen kanzerogenes Potential gezeigt, wobei vor allem seltene Tumore der Milz und der Leber beobachtet worden seien. Dieser Stoff sei als krebserzeugend in der Kategorie 2 eingeordnet. Auch bei Anilin bestehe der Verdacht auf kanzerogenes Potential. Für die an Ratten, nicht an Mäusen, beobachtete tumorige Wirkung auf die Milz sei ein zytotoxischer Mechanismus wahrscheinlich; für einen primär genotoxischen Mechanismus gebe es keine Hinweise. Im Ergebnis spreche die hohe Einwirkung von verschiedenen aromatischen Aminen und das Fehlen eines konkurrierenden Faktors (der Kläger ist Nichtraucher) für einen Zusammenhang der Krebserkrankung mit der Exposition des Klägers gegenüber aromatischen Aminen. Dagegen spreche, dass die Einwirkung gegenüber bekanntermaßen humankanzerogenen Gefahrstoffen der Kategorie 1 zwar wahrscheinlich, jedoch nicht im Vollbeweis gesichert sei. Insofern empfahl er bezüglich der Verunreinigung der verwendeten aromatischen Amine mit humankanzerogenen Gefahrstoffen (K1) eine Nachermittlung mit den Ergebnissen eventuell Laboranalysen auch Herstellerseits. Angesichts der Tatsache, dass einige der aromatischen Amine bisher nicht abschließend bezüglich ihres kanzerogenen Potentials bewertet worden seien, empfahl er die Einholung eines toxikologischen Gutachtens, zum Beispiel durch die Toxikologen Prof. Dr. H oder Prof. Dr. E.
Auf Grund dieser Empfehlung gab die Kammer ein toxikologisches Gutachten bei Prof. Dr. H in Auftrag. Dieser kommt in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 4. August 2009 zu dem Ergebnis, dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs der Blasenkrebserkrankung bei dem Kläger mit der beruflichen Schadstoffexposition zu begründen sei und schlug die Anerkennung einer BK 1301 vor. Dies begründete er zunächst damit, dass der Kläger über die vom TAD als verursachend bezeichneten Arbeitsstoffe hinaus noch weiteren exponiert war. In diesem Zusammenhang stellte er fest, dass der Kläger auch Isocyanaten (als Umsetzungsprodukte) und nitroaromatischen Verbindungen ausgesetzt gewesen sei. Isocyanate seien in die Kategorie 3 der krebserzeugenden Arbeitsstoffe aufgenommen. Ferner führe die MAK-Werte-Liste allein 6 aromatische Nitroverbindungen in Kategorie 2 und 13 in Kategorie 3. Diese Stoffe hätten das gleiche Wirkungspotential wie die bisher einbezogenen aromatischen Amine, d. h. sie seien geeignet Blasenkrebs zu erzeugen. Dies sei dadurch zu belegen, dass alle diese Stoffe über identische Wege des Stoffwechsels zu ultimal wirksamen Metaboliten aktiviert würden, die am gleichen Zielgewebe, dem Blasenurothel, angriffen. Ebenso sei die Latenzzeit bis zur Tumorbildung, sowie das deutlich vorgezogene Lebensalter bei der Tumormanifestation in Übereinstimmung mit den umfänglichen gewerbemedizinischen Erfahrungen mit der BK 1301.
In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 28. März 2010 diskutiert Prof. Dr. H die Frage, ob eine Beschränkung der Bewertung der Zusammenhangsfrage auf sog. K1-Stoffe gerechtfertigt ist, oder vielmehr auf weitere Vertreter der Wirkstoffgruppe, die ebenfalls als blasenkrebserzeugend auch beim Menschen zu erwarten sind, auszudehnen ist. In diesem Zusammenhang weist er auf die Kriterien hin, die erfüllt sein müssen, um einen Arbeitsstoff in K1 oder in eine andere Kategorie einstufen zu können. Danach sei es zufälligen Randbedingungen unterworfen, ob im Einzelnen die Bedingungen erfüllt sind oder nicht. Im weiteren erläutert er, warum eine Exposition des Klägers gegenüber kanzerogenen Aminen der Gruppe K1 zwar wahrscheinlich ist, aber nicht im Vollbeweis nachgewiesen werden könne. Ansonsten bestehe für eine Beteiligung krebserzeugender Verunreinigungen am Gesamtgeschehen der Blasenkrebserkrankung eine begründbare Wahrscheinlichkeit, deren Ausmaß jedoch mangels entsprechender chemisch-analytischer Daten nicht abzuschätzen sei. Eine Anerkennung als beruflich bedingte Erkrankung nach den Kriterien der "Listenstoffe" sei im vorliegenden Falle mangels Vollbeweises als K1-Stoff nicht möglich. In Betracht komme nur eine Anerkennung als Wie-BK.
Im Auftrag des Klägers holte die Kammer ferner ein arbeitsmedizinisches Fachgutachten bei Prof. Dr. E. ein. In seinem Gutachten vom 13. November 2011 bejaht dieser das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 3101 und schätzte die MdE für die Zeit von 2 Jahren von Juli 2006 bis Juli 2008 auf 50 vom Hundert und für die darauffolgenden drei Jahre mit 20 vom Hundert ein. Der Auffassung, dass zur Anerkennung einer BK 1301 der Nachweis erforderlich sei, dass aromatische Amine der Kategorie 1 eingewirkt hätten, sei unbegründet. Die Mehrzahl krebserzeugender aromatischer Amine sei nur deshalb nicht in der Kategorie 1 eingestuft, weil entsprechende Studien zum Nachweis der Wirkung auf den Menschen nicht durchgeführt werden konnten oder nicht durchgeführt wurden. Im vorliegenden Fall habe nachweislich p-Chloranilin eingewirkt. Dieses gehöre zur Gruppe der monozyklischen aromatischen Amino- und Nitroverbindungen, von denen bereits zwei von der DFG als gesicherte Humankanzerogene eingestuft worden sind. Ausschlaggebend für die Beurteilung der Einwirkungskausalität sei die Höhe der Exposition. Insofern hätten der TAD, Prof. Dr. A. und Prof. Dr. H eine ausreichend hohe Exposition für gegeben angesehen. Hinzu komme das deutlich vorgezogene Erkrankungsalter des Klägers, dem er im Falle eines genetisch und auch sonst außerberuflich nicht erkennbar belassenden Nierauchers den Rang eines Brückensymptoms zuspreche. Ferner bestünden keine Hinweise auf außerberufliche Risiken wie chronische Entzündungen der Harnwege, Dauerinfekte der Harnwege in Verbindung mit Steinleiden oder Fremdkörpereinwirkung, Bilharziose, Phenacetin-Einnahme bei chronisch interstitieller Nephritis, vorausgegangene Therapie mit Cyclophosphamid oder Bestrahlung der Beckenregion. Es bestehe auch keine familiäre Häufung von Harnblasenkrebs, die auf eine genetische Prädisposition schließen lasse. Es habe kein wirksamer persönlicher Arbeitsschutz bestanden. Ferner hätten weitere Gefahrstoffe, insbesondere Nitroamine, die Harnblasenkrebs erzeugen können, eingewirkt. Die Dauer der beruflichen Exposistion sei mit 9 Jahren als hinreichend lang anzusehen. Schließlich bestehe eine plausible Latenzzeit von 22 Jahren.
Wegen den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und dem sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2008, mit dem die Feststellung einer BK 1301 sowie Entschädigungsleistungen abgelehnt wurden, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung einer BK und auf Entschädigung im tenorierten Umfang.
Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach Nr. 1301 der Anlage zur BKV sind Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine eine BK.
Voraussetzung für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als Berufskrankheit ist, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität), ferner müssen die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität).
Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Lediglich für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits und zwischen der schädigenden Einwirkung und der eingetretenen Erkrankung andererseits reicht die hinreichende Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – aus (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 2. April 2009 - B 2 U 9/08 R - m. w. N., zitiert nach juris.de). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a. a. O.).
Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung" und "Krankheit" sind zwischen den Beteiligten unstreitig. Bei dem Kläger bestand ein Urothelkarzinom, so dass auch eine von der BK 1301 erfasste Krankheit im Vollbeweis gesichert ist.
Durch die Stellungnahmen des TAD vom 18. Dezember 2006 und 30. August 2007 ist ohne jeden Zweifel, d.h. im Vollbeweis nachgewiesen, welcher Art von "Einwirkungen" der Kläger ausgesetzt war, nämlich gegenüber 3,4-Dichloranilin, p-Chloranilin (4 Chloranilin), Chlortoluidin-2,4 (3-Chlor-4-methylanilin), Cumin (p-Isopropyl-Anilin, 4 Isopropyl-Anilin), m-Aminobenzotriflurid (m-Trifluormethyl-Anilin, 3 Aminobenzotrifluorid) und Anilin (Aminobenzol). Ferner konnte Prof. Dr. H mit der erforderlichen Gewissheit nachweisen, dass der Kläger ebenso gegenüber Isocyanaten (als Umsetzungsprodukten) und von 1993 bis 1994 nitroaromatischen Verbindungen ausgesetzt war. Dem stimmte auch Prof. Dr. D (Seite 6 unten der wissenschaftlich begründeten arbeitsmedizinischen Stellungnahme vom 20. März 2008) zu.
Bei dem Stoff p-Chloranilin handelt es sich um einen Stoff der Gefahrkategorie 2. Dies sind Stoffe, die als Krebs erzeugend für den Menschen anzusehen ist, weil durch hinreichende Ergebnisse aus Langzeit-Tierversuchen oder Hinweise aus Tierversuchen und epidemiologischen Untersuchungen davon auszugehen ist, dass sie einen nennenswerten Beitrag zum Krebsrisiko leisten.
Nach Abschnitt III der MAK-Werteliste der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der DFG 2009 und der Europäischen Union werden krebserzeugende Arbeitsstoffe in fünf Kategorien eingeteilt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, 18.3, S. 1089):
Kategorie 1:
Stoffe, die beim Menschen Krebs erzeugenden und bei denen davon auszugehen ist, dass sie einen nennenswerten Beitrag zum Krebsrisiko leisten. Epidemiologische Untersuchungen geben hinreichende Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen einer Exposition beim Menschen und dem Auftreten von Krebs. Andernfalls können epidemiologische Daten durch Informationen zum Wirkungsmechanismus beim Menschen gestützt werden.
Kategorie 2:
Stoffe, die als Krebs erzeugend für den Menschen anzusehen ist, weil durch hinreichende Ergebnis aus seinem Zeit-Tierversuchen oder Hinweise aus Tierversuchen und epidemiologischen Untersuchungen davon auszugehen ist, dass sie einen nennenswerten Beitrag zum Krebsrisiko leisten. Andernfalls können Daten aus Tierversuchen durch Informationen zum Wirkungsmechanismus und aus In-vitro- und Kurzzeit-Tierversuchen gestützt werden.
Kategorie 3:
Stoffe, die wegen erwiesener oder möglicher Krebs erzeugender Wirkung Anlass zur Besorgnis geben, aber aufgrund unzureichender Informationen nicht endgültig beurteilt werden können. Die Einstufung ist vorläufig.
3A) Stoffe, bei denen die Voraussetzungen erfüllt wären, sie der Kategorie 4 oder 5 zuzuordnen. Für die Stoffe liegen jedoch keine hinreichenden Informationen vor, um einen MAK- oder BAT-Wert abzuleiten.
3B) Aus In-vitro- oder aus Tierversuchen liegen Anhaltspunkte für eine Krebs erzeugender Wirkung vor, die jedoch zur Einordnung in eine andere Kategorie nicht ausreichen. Zur endgültigen Entscheidung sind weitere Untersuchungen erforderlich. Sofern der Stoff oder seine Metaboliten keiner in die nur toxischen Wirkungen aufweisen, kann ein MAK- oder BAT-Wert festgelegt werden.
Kategorie 4:
Stoffe mit Krebs erzeugender Wirkung, bei denen ein nicht-genotoxischer Wirkungsmechanismus im Vordergrund steht und genotoxische Effekte bei Einhaltung des MAK- und BAT-Wertes keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Unter diesen Bedingungen ist kein nennenswerter Beitrag zum Krebsrisiko für den Menschen zu erwarten. Die Einstufung wird insbesondere durch Befunde zum Wirkungsmechanismus gestützt, die beispielsweise darauf hinweisen, dass eine Steigerung der Zellproliferation, Hemmung der Apoptose unter Störung der Differenzierung im Vordergrund stehen. Zur Charakterisierung eines Risikos werden die vielfältigen nicht ermessen, die zur Kanzerogenese beitragen können, sowie ihre charakteristischen Dosis-Zeit-Wirkungsbeziehungen berücksichtigt.
Kategorie 5:
Stoffe mit Krebs erzeugender und genotoxischer Wirkung, in deren Wirkungsstärke jedoch als so gering erachtet wird, dass unter Einhaltung des MAK- und BAT-Wertes kein nennenswerter Beitrag zum Krebsrisiko für den Menschen zu erwarten ist. Die Einstufung wird geschützt durch Informationen zum Wirkungsmechanismus, zur Dosisabhängigkeit und durch toxikokinetische Daten zum Spezies-Vergleich.
Dass p-Chloranilin keinen Gefahrstoff der Kategorie 1 darstellt, steht der Anerkennung einer BK 1301 nicht entgegen. Die Kammer folgt insoweit den übereinstimmenden Einschätzungen von Prof. Dr. E. (S.14 des Gutachtens vom 13. November 2011) und Prof. Dr. H (S.7 des Gutachtens vom 4. August 2009). Deren Auffassung steht mit dem Amtlichen Merkblatt zur BK 1301, das eine Exposition gegenüber Gefahrstoffen der Kategorie 1 nicht fordert, ebenso im Einklang wie mit der unfallversicherungsrechtlichen Literatur, wonach der ärztliche Befund unter Berücksichtigung aller äußeren Umstände des Fallherganges entscheidend ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 18.3., S. 1088). Allein dieses Verständnis entspricht auch dem Charakter der MAK-Werte-Liste (vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft: MAK- und BAT-Werte-Liste 2009, Wiley-VCH, S. 10; abgedruckt bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 18.3., S. 1088. Dort heißt es:
"Ebensowenig lässt sich aus MAK-Werte-Liste oder der Einstufung als krebserzeugender Arbeitsstoff eine festgestellte oder angenommene Schädigung im Einzelfalle herleiten; hier entscheidet allein der ärztliche Befund unter Berücksichtigung aller äußeren Umstände des Fall-Herganges. Angaben in der MAK-Werte-Liste sind daher grundsätzlich nicht als vorgezogene Gutachten für Einzelfallentscheidungen zu betrachten."
Eine reine Orientierung an der MAK-Werte-Liste kann den tatsächlichen Verhältnissen auch deshalb nicht gerecht werden, weil es letztlich von zufälligen Randbedingungen abhängt, ob und ggf. in welche Kategorie ein Gefahrstoff eingeordnet wird. Dies hat insbesondere Prof. H überzeugend ausgeführt (vgl. S.7f. des Gutachtens vom 4. August 2009). Er hat darauf hingewiesen, dass das Arbeitsstoffgebiet der aromatischen Amine eine enorme Fülle an höchst unterschiedlichen chemisch-konfigurierten Stoffen aufweist, die sich in z.T. unterschiedlicher Art und Intensität der krebserzeugenden Eigenschaften unterscheiden. Die Fülle bedingt auch, dass (bisher) nur ein (relativ) geringer Anteil an diesen Stoffen überhaupt wissenschaftlich untersucht wurde, und wenn doch, dann vielfach nur in Versuchsansätzen, die mehr oder weniger solide Hinweise, aber keine (end-)gültige Beurteilung der Wirkung am Menschen liefern (sog. Kurzzeittests). Ferner wies er darauf hin, dass für die Anerkennung der kanzerogenen Wirkungseigenschaft eines Stoffes hohe Voraussetzungen erfüllt sein müssen, die er im Einzelnen beschreibt. Die Einflusselemente einer kanzerogenen Wirkung an Menschen und ihrer Bewertung sind, bei statistischer Betrachtung, dem Zufall unterworfen. Es ist nach alledem für die Kammer überzeugend, wenn Prof. Dr. H und Prof. Dr. E. zu dem Ergebnis kommen, dass ein Gefahrstoff nicht deshalb aus der Gesamtbetrachtung entlassen werden könne, weil er nicht in der Kategorie 1 eingeordnet worden sei.
Ob der Kläger darüber hinaus gegenüber den fünf beim Menschen erwiesenermaßen kanzerogen wirkenden Stoffen (&946;-Naphthylamin (BNA), Benzidin, 4-Aminodiphenyl – Xenylamin -, 4-Chlor-o-Toluidin und o-Toluidin) der Kategorie 1 ausgesetzt war, konnte im vorliegenden Fall nicht aufgeklärt werden. Zwar hat Prof. Dr. A. eine Verunreinigung der im Vollbeweis gesicherten aromatischen Amine mit den genannten erwiesenermaßen humankanzerogen wirkenden Stoffen für möglich gehalten und wurde hinsichtlich diese Vermutung auch ausdrücklich von Prof. Dr. H und Prof. Dr. E. bestätigt, jedoch fehlt es insoweit an Feststellungen die den erforderlichen Grad an Gewissheit vermitteln könnten. Da der der Isocyanat-Betrieb nach den geführten Ermittlungen nicht mehr existiert und die Produktion nicht mehr versuchsweise nachgestellt werden kann, sieht die Kammer insoweit auch keine Ansätze für weitere Ermittlungen.
Dass das Ausmaß der Exposition gegenüber den genannten aromatischen Aminen nicht abschließend geklärt werden konnte, führt ebenso nicht dazu, dass diese bei der Gesamtbetrachtung unberücksichtigt zu bleiben haben. Zumindest gingen alle gehörten Gutachter ausgehend von der im Vollbeweis gesicherten Tatsache, dass der Kläger von 1984 bis 1993 im Isocyanatbetrieb als Chemiewerker gearbeitet hat, übereinstimmend von einer mindestens 9jährigen Einwirkungszeit aus. Darüber hinaus geht Prof. Dr. H für die Nitroverbindungen sogar von einer längeren Einwirkungszeit aus, nämlich für die Dauer der Arbeit des Klägers im Reduktionsbetrieb (1993 bis 1994).
Nach den aus Sicht der Kammer abschließenden Ermittlungen der Beklagten im Verwaltungsverfahren konnte allerdings die Einwirkungsmenge (Dosis, Konzentration) nicht abschließend geklärt werden, da der Isocyanatbetrieb Mitte der 90iger Jahre geschlossen und abgerissen. Ungeachtet dessen wurden die für eine Feststellung der Einwirkungsmenge erforderlichen Messungen nicht durchgeführt. Eine befriedigende Dokumentation über die Rückstände liegt ebenfalls nicht vor. Unterlagen aus der Rohstoffkontrolle des Betriebes sind nicht mehr vorhanden.
Damit ist im Ergebnis die Einwirkung der genannten aromatischen Amine als gesichert anzusehen, die Höhe der Exposition jedoch weitgehend unbekannt. Dies steht einer Berücksichtigung der Exposition gegenüber den genannten aromatischen Aminen im Rahmen des Ursachenzusammenhanges jedoch nicht entgegen. In Kenntnis der Beweisschwierigkeiten wird von der unfallrechtlichen Literatur daher auch kein Alles-oder-Nichts-Prinzip gefordert, sondern eine Berücksichtigung des quantitativen Nachweises des krebserzeugenden Gefahrstoffes nur, sofern dieser möglich ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 18.4, S. 1093). Bei den aufgetretenen Beweisschwierigkeiten sind im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 128 SGG, in die auch Billigkeitserwägungen einfließen dürfen, an den Vollbeweis keine zu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. auch: Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Urteil vom 29. September 2011 – L 6 U 5889/06 -, zitiert nach juris Rn. 60 m.w.N.).
Nach dieser Maßgabe geht die Kammer aufgrund der Ermittlungen des TAD davon aus, dass der Kläger einer ausreichend hohen Dosis der Gefahrstoffe ausgesetzt war um im Rahmen der Zusammenhangsbeurteilung Berücksichtigung finden zu können. Die Kammer folgt damit der Einschätzung der Sachverständigen Prof. Dr. E. (S.18 des Gutachtens vom 13. November 2011) und Prof. Dr. H (S.13 des Gutachtens vom 4. August 2009). Die beiden Sachverständigen stimmen insoweit überein mit Prof. Dr. A., der nach gründlicher Analyse der Tätigkeitsbeschreibung des Klägers und der Art und Menge der Produktion im Isocyanat-Betrieb der X AG sowie der inhalativen und transdermalen Einwirkung der Gefahrstoffe (S.22ff. des Gutachtens vom 10. Februar 2009) ebenfalls zu diesem Ergebnis gekommen ist. Danach waren die verwendeten Mengen der Gefahrstoffe im Isocyanat-Betrieb der X AG bei dem in Vollzeit beschäftigten Klägerin unter Berücksichtigung seiner Tätigkeitsbeschreibung hoch und damit auch die Einwirkungsmöglichkeit von aromatischen Aminen (gleichgültig welcher Bioverfügbarkeit) als hoch einzustufen.
Dass Prof. Dr. D (Stellungnahme vom 20. März 2008) die Berücksichtigung der gesicherten Gefahrstoffe ausschließen will, weil keine Exposition gegenüber urothelkanzerogenen aromatischen Aminen im mg-Bereich nachgewiesen worden sei, überzeugt die Kammer nicht. Vielmehr beruht die Forderung nach einer exzessiv hohen Exposition auf einem methodischen Mangel. Hierauf hat bereits Prof. Dr. H zutreffend hingewiesen. Es ist nämlich gerade davon auszugehen, dass über die Anforderung einer Mindestdosis für eine Dosis-Wirkungs-Beziehung der Belastung mit aromatischen Aminen derzeit noch kein Konsens besteht (so auch: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Februar 2011 – L 31 U 339/08 - zitiert nach juris Rn. 30 m.w.N.). Ausgehend hiervon kann eine exzessiv hohe Dosis im Sinne eines Auschlusskriteriums daher nicht gefordert werden.
Der Versuch von Prof. Dr. D (S. 8 der Stellungnahme vom 20. März 2008) unter Hinweis auf das am 27. Februar 2007 veranstaltete Symposium über aromatische Amine verbindliche Grenzwerte für die Entstehung einer BK nach der Nr. 1301 der Anlage zur BKV zu bestimmen, gebietet keine andere Sicht der Dinge. Hierzu hat bereits Prof. Dr. H methodische Bedenken geäußert. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28. März 2010 (S.2) hat er darauf hingewiesen, dass es sich bei den auf dem genannten Symposium handelten Fragen um einen neuen, bisher in der wissenschaftlichen Literatur noch nicht behandelten, komplexen Sachverhalt handelte, der als solcher nicht allgemein akzeptiert und damit Teil der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie im Sinne der herrschenden, allgemein anerkannten Meinung sei. Dies wird er letztlich auch von Prof. Dr. D bestätigt, der den Stand der Meinungsbildung aus dem Symposium als eine "kontroverse Diskussion" (S.11 der Stellungnahme vom 20. März 2008) bezeichnet.
Schließlich hat das LSG Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 7. September 2010 L 1 U 2869/09 – (zitiert nach juris Rn. 38 m.w.N.) zur Verwertbarkeit der Ergebnisse des o.g. Symposiums folgendes ausgeführt:
"Bei der Formulierung des Tatbestandes der bereits durch die 3. BKVO vom 16. Dezember 1936 Nr. 14 eingeführten BK Nr. 1301 (vgl. Mehrtens/Brandenburger, Die Berufskrankheitenverordnung, M 1301 S. 3) hat der Verordnungsgeber auf die Angabe eines konkreten Belastungsgrenzwerts verzichtet. Der Verzicht auf die Angabe konkreter Belastungsarten und Belastungsgrenzwerte bei der Formulierung von BK-Tatbeständen geschah vielfach bewusst, um bei der späteren Rechtsanwendung Raum für die Berücksichtigung neuer, nach Erlass der Verordnung gewonnener oder bekannt gewordener Erkenntnisse zu lassen (BSG, Urteil vom 27.06.2006 - B 2 U 20/04 R -, in Juris Rdnrn. 18 ff. mwN). Auch das Merkblatt zur BK Nr. 1301 der Anlage zur BKV (Bek. des BMA vom 12.06.1963, BArbBl. Fachteil Arbeitsschutz 1964, 129 f.) sowie der aktuelle BK-Report 1/2009 über Aromatische Amine (herausgegeben vom Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, im Internet verfügbar unter http://www.dguv.de/ifa/de/pub/rep/pdf/reports2009/bk0109/bk rep 1 2009.pdf) enthalten für die Chemikalien, mit denen der Kläger in Kontakt gekommen ist, keine Mindestexpositionsmenge. Dies entspricht dem im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblichen wissenschaftlichen Forschungsstand."
Diesen Überlegungen schließt sich die Kammer aufgrund eigener Überprüfung und Bewertung an, zumal keine neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgetragen oder bekannt geworden sind, die eine Abkehr von den zitierten Überlegungen des LSG Baden-Württemberg erforderlich machen würden.
Das gilt ebenso für den von der Beklagten auch in diesem Verfahren vorgelegten Aufsatz "Berufskrankheit 1301" (Weiß/Henry/Brüning, Arbeitsmed.Sozialmed.Unfall-med. 2010, 222). Die Autoren schlagen zwar ein Berechnungsmodell, das dem Symposiumsergebnis entspricht, vor, räumen aber auch ausdrücklich ein, dass sich den in der internationalen Literatur verfügbaren epidemiologischen Arbeiten weder Dosis-Wirkungs- noch Dosis-Risiko-Beziehungen entnehmen lassen, und dass diese Studien in der Regel sogar keine Exposition angeben (LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 41).
Im Ergebnis geht die Kammer in freier Beweiswürdigung daher davon aus, der Kläger einer grundsätzlich ausreichenden Menge an aromatischen Aminen, insbesondere p Chloranilin, ausgesetzt war, zumal er eigenen Angaben zufolge bei seinen Tätigkeiten im Umgang mit den Gefahrstoffen keinen wirksamen persönlichen Arbeitsschutz getragen hat.
Die danach zur Herbeiführung eines Harnblasenkarzinoms als grundsätzlich geeignet anzusehende berufliche Exposition des Klägers gegenüber p-Chloranilin hat im konkreten Fall diese Krankheit mit Wahrscheinlichkeit tatsächlich auch zumindest wesentlich mitverursacht.
Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs beziehungsweise Gesundheitsschadens abgeleitet werden. Wenn es mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen gibt, ist sozialrechtlich allein relevant, ob die Einwirkungen wesentlich waren. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere/n Ursache/n keine überragende Bedeutung hat/haben. Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur diese Ursache/n "wesentlich" und damit Ursache/n im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jede/s andere alltäglich vorkommende Ereignis oder Einwirkung zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte (BSG, Urteile vom 9. Mai 2005 - B 2 U 1/05 R – und vom 12. April 2005 – B 2 U 27/04 -).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind vorliegend zur Überzeugung der Kammer die Voraussetzungen für einen ursächlichen Zusammenhang der Exposition des Klägers gegenüber p-Chloranilin und seiner Krebserkrankung gegeben.
Nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen war der Gefahrstoff p-Chloranilin nach den Erkenntnissen der wesentlichen Wissenschaft geeignet bösartigen Bildungen bei dem Kläger zu verursachen (vgl. hierzu im Einzelnen: Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S.1092ff.).
Der Nachweis der Kanzerogenität erfolgt durch epidemiologische Erhebungen bei entsprechend belasteten kollektiven. Ergebnisse aus Tierversuchen können Hinweise für eventuelle kanzerogene Potenzen bzw. Gefährdungen ergeben, wobei die Gültigkeit solcher Ergebnisse auf die Krankheitslehre des Menschen geklärt sein muss (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 18.4, S.1092f.). Diese Voraussetzungen lagen vor. Die Kammer folgt dabei der Einschätzung von Prof. Dr. E. (S. 15 des Gutachtens vom 13. November 2011). Prof. Dr. E. hat darauf hingewiesen, dass p-Chloranilin zu den monozyklischen aromatischen Amino- und Nitroverbindungen gehört, von denen bereits zwei von der DFG (2011) als gesicherte Humankanzerogene eingestuft sind, nämlich o-Toluidin und 4-Chlor-o-Toluidin. Weiter legt er dar, dass p-Chloranilin die typischen Eigenschaften der Methämaglobinbildung besitze und Hämosiderosen und Organschäden an Leber und Milz verursache. Im übrigen ist für p-Chloranilin die Kennzeichnung mit dem Hinweis R 45 "kann Krebs erzeugen" vorgeschrieben (S. 27 des Gutachtens von Prof. Dr. A.).
Dass p-Chloranilin nach den übereinstimmenden Feststellungen von Prof. Dr. E. (S. 15 des Gutachtens vom 13. November 2011) und Prof. Dr. A. (S.27 des Gutachtens vom 10. Februar 2009) in Langzeitstudien mit oraler Applikation an Ratten und Mäusen vor allem zu seltenen Tumoren der Milz sowie Tumoren der Leber geführt hat, bestärkt diese Einschätzung von Prof. Dr. E ... Allein die Tumorlokalisation gebietet insoweit keine andere Sicht der Dinge. Denn allen krebserzeugenden aromatischen Aminen ist gemeinsam, dass sie an sich nicht krebserzeugend sind. Erst in der Verstoffwechselung entstehen aus den Ausgangsmolekülen krebserzeugende Metaboliten, die im Urin ausgeschieden werden. Die Organspezifizität wird mit dem Urinkontakt dieser Metaboliten begründet (Dr. med. G., Arbeitsmed.Sozialmed.Umweltmed. 45, 12, 2010, S.690). Im Ergebnis ist eine Krebserkrankung der Harnwege bei Menschen damit im Falle von aromatischen Aminen typisch, auch wenn sie bei Tierversuchen andere Organe befallen haben. Davon geht letztlich auch Prof. Dr. E., wenn er ausführt die Organlokalisation des Krebsleidens sowie der biologische Mechanismus stimmten mit den arbeitsmedizinischen Erfahrungen überein.
Hinzu kommt, dass p-Chloranilin über einen angemessenen Zeitraum von 9 Jahren am Arbeitsplatz des Klägers vorhanden war und auf seinen Körper eingewirkt hat. Diese Expositionszeit entspricht ebenso wie die Latenzzeit von 22 Jahren nach den Feststellungen von Prof. Dr. E. den medizinischen Erfahrungen.
Ferner sind außerberufliche Noxen als wesentliche Ursache auszuschließen. Insofern hat Prof. Dr. E. ausdrücklich festgestellt, dass der Kläger nie geraucht hat und damit die wichtigste außerberufliche Ursache des Harnblasenkarzinoms entfalle (S.17 des Gutachtens vom 13. November 2011). Ebenso bestehen keine Hinweise auf weitere außerberufliche Risiken wie chronische Entzündung der Harnwege, Dauerinfekte der Harnwege in Verbindung mit Steinleiden oder Fremdkörpereinwirkung, Billharziose, Phenactin-Einnahme bei chronisch interstitieller Nephritis, vorausgegangene Therapie mit Cyclophosphamid oder Bestrahlung der Beckenregion (vgl. S. 17 des Gutachtens vom 13. November 2011). Schließlich besteht auch keine familiäre Häufung von Harnblasenkrebs, die auf eine genetische Prädisposition schließen ließe (vgl. S. 17 des Gutachtens vom 13. November 2011).
Unter dem Gesichtspunkt der Synkanzerogenese ist ferner zu berücksichtigen, dass der Kläger an seinem Arbeitsplatz weiteren Gefahrstoffen ausgesetzt war, insbesondere Nitroaromaten, die Harnblasenkrebs erzeugen können.
Schließlich kommt dem Erkrankungsalter des Klägers besonderes Gewicht zu. Insofern hat Prof. Dr. E. der Kammer erläutert, dass in Deutschland jährlich etwa 28.000 Menschen an einem Tumor der Harnblase erkrankten. Das mittlere Erkrankungsalter liege für Männer bei 72 Jahren. Daraus ergebe sich, dass der Kläger mit einem zeitlichen Abstand von 17 Jahren vor dem mittleren Erkrankungsalter bei Männern ein Harnblasekrebs erkrankt sei. Eine Vorverlegung des Krankheitszeitpunktes bis zu 10 Jahre gelten dabei als typisch für beruflich verursachten Harnblasentumore. Im weiteren erläutert Prof. Dr. E. anhand des Krebsregisters des Robert-Koch-Instituts, dass Krebserkrankungen der Harnblase bei Männern im Alter von 55 Jahren, die nie geraucht haben, genetisch nicht prädisponiert und auch ansonsten nicht belastetet sind, bei weniger als 1 % liege.
Angesichts all dessen spricht aus Sicht der Kammer deutlich mehr für als gegen einen Zusammenhang des Harnblasenkrebses des Klägers durch die Exposition gegenüber p-Chloranilin als dagegen.
Im Ergebnis war daher eine BK nach Nr. 1301 anzuerkennen.
Für das danach nach Überzeugung der Kammer als BK 1301 zu entschädigende Harnblasenkarzinom ist dem Kläger unter Berücksichtigung der Erstdiagnose am 19. Juli 2006 entsprechend den übereinstimmenden Vorschlägen von Prof. Dr. D (S. 17 des Gutachtens vom 31. Mai 2007) und Prof. Dr. E. (S.21 des Gutachtens vom 13. November 2011) vom Juli 2006 bis zum Juni 2008 Verletztenrente nach einer MdE von 50 v.H. und ab Juli 2008 bis Juni 2011 nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Der Ansatz einer MdE von 50 v.H. bis zu zwei Jahren nach dem letzten Rezidiv und von 20 v.H. bis zu fünf Jahren nach dem letzten Rezidiv entspricht unter den gegebenen Umständen (Stadieneinteilung, histopathologisches Grading) allgemeinen Bewertungsrichtlinien (s. Schönberg/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 1129) und ist im Übrigen auch unstreitig.
Die Entscheidung über die Kosten folgt dem Ergebnis in der Hauptsache und beruht auf § 193 SGG.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger unter Feststellung seiner Harnblasenkrebs-Erkrankung als BK nach der Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV ab Juli 2006 bis Juni 2008 Verletztenrente nach einer MdE von 50 v.H. und ab Juli 2008 bis Juni 2011 einschließlich nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung einer Harnblasenkrebserkrankung als Berufskrankheit (BK) Nr. 1301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV-Schleimhautveränderungen, Krebs oder anderen Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine).
Der 1951 geborene Kläger war ausschließlich bei der ehemaligen X AG am Standort C Stadt als Chemiefachwerker beschäftigt. Im Einzelnen:
1967 – 1969 Berufsausbildung zum Chemiefachwerker (Werkschule) keine relevanten Expositionen gegenüber chemischen Arbeitsstoffen,
1969 – 1970 OXO – Betrieb, Pharma-Vorprodukt, Chemiewerker,
1970 – 1971 Resocynbetrieb, Herstellung Gummi Inhaltsstoff, Chemiewerker,
1971 – 1972 Wehrdienst als Sanitäter,
1973 – 1984 Angestellter in der Werksärztlichen Abteilung der X AG,
1984 – 1993 Isocyanatbetrieb (Betriebsmeister Herr S.), Chemiewerker,
1993 – 1994 Reduktionsbetrieb, Chemiewerker,
1995 – Diketanbetrieb, Chemiewerker.
Im Juni 2006 wurde bei dem Kläger ein tapilläres Urothelcarcinon der Harnblase entdeckt. In der Klinik für Urologie und Kinderurologie der Uni-Klinik C-Stadt erfolgte am 27. Juli 2006 eine Resektion des erkrankten Gewebes der Harnblase.
Am 2. August 2006 zeigte die Sozialarbeiterin der Uniklinik C-Stadt, Frau Z, unter Hinweis auf die Karzinomerkrankung des Klägers das mögliche Bestehen einer BK an. Bei einem anschließenden Anruf teilte der Kläger mit, er führe seine Erkrankung auf seine Tätigkeit in den 80-iger Jahren bei der X AG zurück, wo er im Isocyanatbetrieb, Gebäude C 472 (heute nicht mehr existent) in nicht unbeträchtlichen Umgang mit aromatischen Aminen und Chlorbenzol gehabt habe.
Die Beklagte holte sodann zunächst eine Stellungnahme ihres technischen Aufsichtsdienstes ein. In seiner Stellungnahme vom 18. Dezember 2006 kam Dr. W zu dem Ergebnis, dass der Kläger bei der Tätigkeit in der X AG gegenüber aromatischen Arminen, insbesondere Anilin, sowie gegenüber Benzol und Ranej-Nickel exponiert gewesen sei.
Ferner holte die Beklagte eine Stellungnahme des Landegewerbearztes ein. In seiner Stellungnahme vom 23. Januar 2007 kam für diesen der Facharzt für Arbeitsmedizin MJ. zu dem Ergebnis, aus gewerbeärztlicher Sicht sei eine BK Nr. 1301 anzuerkennen.
Auf Grund der Auswahlentscheidung des Klägers vom 2. Oktober 2006 gab die Beklagte mit Schreiben vom 29. Januar 2007 ein Gutachten bei dem Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Erlangen-Nürnberg, Prof. Dr. med. D in Auftrag. In seinem wissenschaftlich begründeten arbeitsmedizinischen Fachgutachten vom 31. Mai 2007 kam Prof. Dr. D nach ambulanter Untersuchung vom 26. März 2007 zu dem Ergebnis, dass das operativ entfernte Harnblasenkarzinom bei Vorliegen der haftungsbegründenden Kausalität ursächlich auf die versicherte Tätigkeit des Klägers zurückzuführen sei.
Zur Abklärung der Expositionsverhältnisse beauftragte die Beklagte Ihren technischen Aufsichts- und Beratungsdienst (TAD). In seinen Berichten vom 30. August 2007 und 26. Oktober 2007 kam der Mitarbeiter des TAD, Dr. W, zu dem Ergebnis, dass der Kläger während seiner Tätigkeit als Chemifachwerker im Isocyanat-Betrieb in der Zeit von 1984 bis 1993 gegenüber Anilin, para-Chloranilin, 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid exponiert gewesen sei. Während seiner Tätigkeit an Bahnkesselwagen sei er 10 bis 20mal im Jahr gegenüber aromatischen Aminen (para-Chloranilin und/oder 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid) exponiert gewesen. Weiterhin seien pro Schicht etwa 18 bis 20 Proben aus Kesseln entnommen worden (para-Chloranilin und/oder 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid). Bei Instandhaltungsmaßnahmen sei ein Kontakt zu aromatischen Aminen (para-Chloranilin und/oder 3,4-Dichloranilin und meta-Aminobenzotrifluorid) durch kontaminiertes Isoliermaterial gegeben gewesen. In Ermangelung von Betriebsunterlagen könne allerdings nicht gesagt werden welche Stoffe in welcher Häufigkeit hergestellt bzw. verkauft worden seien.
Auf dieser Grundlage holte die Beklagte eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. D ein. In seiner Stellungnahme vom 20. März 2008 empfahl Prof. Dr. D, das Harnblasenkarzinom des Klägers nicht als Berufskrankheit nach Nr. 3101 BKV anzuerkennen und zu entschädigen. Zur Begründung führte er aus, Anilin sei durch die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe lediglich in die Kategorie 4 eingestuft worden. Wie hoch die Exposition gegenüber p-Chloranilin, durch die Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe in die Kategorie 2 eingestuft, im Einzelnen gewesen sei, bleibe unklar. Insgesamt gesehen habe jedoch keine exzessiv hohe Exposition gegenüber urothelkanzerogenen aromatischen Aminen in den neuen Jahren der Beschäftigung des Klägers im Isocyanat-Betrieb vorgelegen. Auch wenn bei dem Kläger durch das Erkrankungsalter von 55 Jahren ein deutlich vorgezogener Erkrankungsbeginn vorliege, erscheine in der Zusammenschau der Dinge die Harnblasenkarzinomerkrankung doch eher als schicksalhaft.
Dieser Einschätzung stimmte der Landesgewerbearzt in seiner Stellungnahme vom 17. April 2008 zu.
Auf dieser Grundlage lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit nach Nr. 3101 BKV mit Bescheid vom 14. Mai 2008 ab. Zur Begründung führte sie aus, nach der Gefährdungsanalyse ihres technischen Aufsichts- und Beratungsdienstes sei der Kläger im Isocyanat-Betrieb unter anderem den aromatischen Aminen para-Chloranilin, Anilin, Ziffer 3, 4-Dechloranilin sowie n-Aminobenzotrefluorid ausgesetzt gewesen. Nach derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand sei die kanzerogene Wirkung von para-Chloranilin in Tierversuchen, jedoch nicht in epidemiologischen Studien bei exponiert Beschäftigten nachgewiesen worden. Dem reinen Anilin werde kanzerogene Wirkung abgesprochen; im Einzelfall könne dieses mit krebserzeugenden aromatischen Arminen verunreinigt sein. Dieser Nachweis habe jedoch nicht geführt werden können. Bei 3,4 Dichloranilin und m-Aminobenzoltrifluorid handele es sich zwar um gesundheitsschädliche, nicht aber um krebserzeugende Arbeitsstoffe.
Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 1. August 2008 zurück.
Hiergegen richtet sich die am 26. August 2008 erhobene Klage. Es sei nicht nachvollziehbar, wie der Gutachter in seiner abschließenden Stellungnahme vom 20. März 2008 zu einer abweichenden Einschätzung gegenüber seinem Gutachten vom 31. Mai 2007 komme. Ferner habe der Gutachteer offensichtlich übersehen, dass bei der täglichen Probenentnahme an den Kesseln eine Exposition insbesondere durch Hautkontakt zu p-Chloranilin gegeben sei und zwar in einem ganz erheblichen Umfang. Pro Schicht seien 18 bis 20 Proben an den Kesseln entnommen worden.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2008 aufzuheben, festzustellen, dass es sich bei der Blasenerkrankung des Klägers um eine Berufskrankheit nach Nr. 1301 BKV handelt sowie die Beklagte zu verurteilen, ihn entsprechend zu entschädigen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hält an ihren Bescheiden fest. Im Laufe des Verfahrens legte sie eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. D vom 20. März 2008 vor. Darin führt dieser aus, dass Studien, die ein erhöhtes Auftreten von Harnblasenkarzinomen nach Exposition zu Isocyanaten zeigen, derzeit nicht vorliegen würden. Im Übrigen sei der Kläger Nitroaromaten nur über einen relativ kurzen Zeitraum, nämlich von 1993 bis 1994, ausgesetzt gewesen. Bei der Begutachtung von Harnblasenkarzinomen zur Abklärung der beruflichen Verursachung sei eine Qualifizierung der Exposition von größter Bedeutung. Die Allgemeinbevölkerung sei nämlich gegenüber aromatischen Aminen ubiquitär exponiert, so dass der alleinige Nachweis einer Exposition nicht belegen könne, dass ein Harnblasenkarzinom durch berufliche Einflüsse wesentlich mitverursacht wurde. Er gehe unter Bezugnahme auf das Konzept von Weiß "Dosismaß als Hilfestellung zur gutachterlichen Beurteilung einer BK 1301" davon aus, dass der innere Zusammenhang prinzipiell dann erfüllt sei, wenn die kumulative Exposition gegenüber aromatischen Aminen den mg-Bereich erreiche. Sollte sich eine Exposition gegenüber urothelkanzerogenen aromatischen Aminen im mg-Bereich (kumulative Exposition) durch den TAD nicht bestätigen lassen, empfehle man, das Harnblasenkarzinom nicht als BK 1301 anzuerkennen.
Die Kammer hat zu weiteren Aufklärung des Sachverhalts ein wissenschaftliches fachärztliches Gutachten bei dem Leiter des Instituts und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin, Prof. Dr. med. A. eingeholt. In seinem Gutachten vom 10. Februar 2009 stellt Prof. Dr. A. nach ambulanter Untersuchung des Klägers vom 6. Januar 2009 fest, dass dieser gegenüber 3,4-Dichloranilin, p-Chloranilin (4-Chloranilin), Chlortoluidin-2,4 (3-Chlor-4-methylanilin), Cumin (p-Isopropyl-Anilin, 4-Isopropyl-Anilin), m Aminobenzotriflurid (m-Trifluormethyl-Anilin, 3-Aminobenzotrifluorid) und Anilin (Aminobenzol) exponiert gewesen sei. Hinsichtlich 3,4-Dichloranilin werde ein Verdacht auf kanzerogene Wirkung nicht als relevant angesehen, da es keine Hinweise für eine Dehalogenisierung gebe. Auch bei Chlortoluidin-2,4 hätten zwei Langzeitfütterungsstudien an Ratten und Mäusen keine Befunde ergeben, die auf eine kanzerogene Wirkung schließen ließen. Hinsichtlich Cumin (p-Isopropyl-Anilin, 4 Isopropyl-Anilin) und m-Aminobenzotriflurid (m-Trifluormethyl-Anilin, 3 Aminobenzotrifluorid) habe eine Recherche der GESTIS-Stoffdatenbank ergeben, dass keine Hinweise auf eine kanzerogene Wirkung bestünden, eine Bewertung des kanzerogenen Potentials und eine Einstufung in die Liste der krebserregenden Stoff jedoch ausstehe. Demgegenüber habe p-Chloranilin in Langzeitstudien mit oraler Applikation an Ratten und Mäusen kanzerogenes Potential gezeigt, wobei vor allem seltene Tumore der Milz und der Leber beobachtet worden seien. Dieser Stoff sei als krebserzeugend in der Kategorie 2 eingeordnet. Auch bei Anilin bestehe der Verdacht auf kanzerogenes Potential. Für die an Ratten, nicht an Mäusen, beobachtete tumorige Wirkung auf die Milz sei ein zytotoxischer Mechanismus wahrscheinlich; für einen primär genotoxischen Mechanismus gebe es keine Hinweise. Im Ergebnis spreche die hohe Einwirkung von verschiedenen aromatischen Aminen und das Fehlen eines konkurrierenden Faktors (der Kläger ist Nichtraucher) für einen Zusammenhang der Krebserkrankung mit der Exposition des Klägers gegenüber aromatischen Aminen. Dagegen spreche, dass die Einwirkung gegenüber bekanntermaßen humankanzerogenen Gefahrstoffen der Kategorie 1 zwar wahrscheinlich, jedoch nicht im Vollbeweis gesichert sei. Insofern empfahl er bezüglich der Verunreinigung der verwendeten aromatischen Amine mit humankanzerogenen Gefahrstoffen (K1) eine Nachermittlung mit den Ergebnissen eventuell Laboranalysen auch Herstellerseits. Angesichts der Tatsache, dass einige der aromatischen Amine bisher nicht abschließend bezüglich ihres kanzerogenen Potentials bewertet worden seien, empfahl er die Einholung eines toxikologischen Gutachtens, zum Beispiel durch die Toxikologen Prof. Dr. H oder Prof. Dr. E.
Auf Grund dieser Empfehlung gab die Kammer ein toxikologisches Gutachten bei Prof. Dr. H in Auftrag. Dieser kommt in seinem Gutachten nach Aktenlage vom 4. August 2009 zu dem Ergebnis, dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs der Blasenkrebserkrankung bei dem Kläger mit der beruflichen Schadstoffexposition zu begründen sei und schlug die Anerkennung einer BK 1301 vor. Dies begründete er zunächst damit, dass der Kläger über die vom TAD als verursachend bezeichneten Arbeitsstoffe hinaus noch weiteren exponiert war. In diesem Zusammenhang stellte er fest, dass der Kläger auch Isocyanaten (als Umsetzungsprodukte) und nitroaromatischen Verbindungen ausgesetzt gewesen sei. Isocyanate seien in die Kategorie 3 der krebserzeugenden Arbeitsstoffe aufgenommen. Ferner führe die MAK-Werte-Liste allein 6 aromatische Nitroverbindungen in Kategorie 2 und 13 in Kategorie 3. Diese Stoffe hätten das gleiche Wirkungspotential wie die bisher einbezogenen aromatischen Amine, d. h. sie seien geeignet Blasenkrebs zu erzeugen. Dies sei dadurch zu belegen, dass alle diese Stoffe über identische Wege des Stoffwechsels zu ultimal wirksamen Metaboliten aktiviert würden, die am gleichen Zielgewebe, dem Blasenurothel, angriffen. Ebenso sei die Latenzzeit bis zur Tumorbildung, sowie das deutlich vorgezogene Lebensalter bei der Tumormanifestation in Übereinstimmung mit den umfänglichen gewerbemedizinischen Erfahrungen mit der BK 1301.
In seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 28. März 2010 diskutiert Prof. Dr. H die Frage, ob eine Beschränkung der Bewertung der Zusammenhangsfrage auf sog. K1-Stoffe gerechtfertigt ist, oder vielmehr auf weitere Vertreter der Wirkstoffgruppe, die ebenfalls als blasenkrebserzeugend auch beim Menschen zu erwarten sind, auszudehnen ist. In diesem Zusammenhang weist er auf die Kriterien hin, die erfüllt sein müssen, um einen Arbeitsstoff in K1 oder in eine andere Kategorie einstufen zu können. Danach sei es zufälligen Randbedingungen unterworfen, ob im Einzelnen die Bedingungen erfüllt sind oder nicht. Im weiteren erläutert er, warum eine Exposition des Klägers gegenüber kanzerogenen Aminen der Gruppe K1 zwar wahrscheinlich ist, aber nicht im Vollbeweis nachgewiesen werden könne. Ansonsten bestehe für eine Beteiligung krebserzeugender Verunreinigungen am Gesamtgeschehen der Blasenkrebserkrankung eine begründbare Wahrscheinlichkeit, deren Ausmaß jedoch mangels entsprechender chemisch-analytischer Daten nicht abzuschätzen sei. Eine Anerkennung als beruflich bedingte Erkrankung nach den Kriterien der "Listenstoffe" sei im vorliegenden Falle mangels Vollbeweises als K1-Stoff nicht möglich. In Betracht komme nur eine Anerkennung als Wie-BK.
Im Auftrag des Klägers holte die Kammer ferner ein arbeitsmedizinisches Fachgutachten bei Prof. Dr. E. ein. In seinem Gutachten vom 13. November 2011 bejaht dieser das Vorliegen einer Berufskrankheit nach Nr. 3101 und schätzte die MdE für die Zeit von 2 Jahren von Juli 2006 bis Juli 2008 auf 50 vom Hundert und für die darauffolgenden drei Jahre mit 20 vom Hundert ein. Der Auffassung, dass zur Anerkennung einer BK 1301 der Nachweis erforderlich sei, dass aromatische Amine der Kategorie 1 eingewirkt hätten, sei unbegründet. Die Mehrzahl krebserzeugender aromatischer Amine sei nur deshalb nicht in der Kategorie 1 eingestuft, weil entsprechende Studien zum Nachweis der Wirkung auf den Menschen nicht durchgeführt werden konnten oder nicht durchgeführt wurden. Im vorliegenden Fall habe nachweislich p-Chloranilin eingewirkt. Dieses gehöre zur Gruppe der monozyklischen aromatischen Amino- und Nitroverbindungen, von denen bereits zwei von der DFG als gesicherte Humankanzerogene eingestuft worden sind. Ausschlaggebend für die Beurteilung der Einwirkungskausalität sei die Höhe der Exposition. Insofern hätten der TAD, Prof. Dr. A. und Prof. Dr. H eine ausreichend hohe Exposition für gegeben angesehen. Hinzu komme das deutlich vorgezogene Erkrankungsalter des Klägers, dem er im Falle eines genetisch und auch sonst außerberuflich nicht erkennbar belassenden Nierauchers den Rang eines Brückensymptoms zuspreche. Ferner bestünden keine Hinweise auf außerberufliche Risiken wie chronische Entzündungen der Harnwege, Dauerinfekte der Harnwege in Verbindung mit Steinleiden oder Fremdkörpereinwirkung, Bilharziose, Phenacetin-Einnahme bei chronisch interstitieller Nephritis, vorausgegangene Therapie mit Cyclophosphamid oder Bestrahlung der Beckenregion. Es bestehe auch keine familiäre Häufung von Harnblasenkrebs, die auf eine genetische Prädisposition schließen lasse. Es habe kein wirksamer persönlicher Arbeitsschutz bestanden. Ferner hätten weitere Gefahrstoffe, insbesondere Nitroamine, die Harnblasenkrebs erzeugen können, eingewirkt. Die Dauer der beruflichen Exposistion sei mit 9 Jahren als hinreichend lang anzusehen. Schließlich bestehe eine plausible Latenzzeit von 22 Jahren.
Wegen den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und dem sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 14. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. August 2008, mit dem die Feststellung einer BK 1301 sowie Entschädigungsleistungen abgelehnt wurden, ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung einer BK und auf Entschädigung im tenorierten Umfang.
Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach Nr. 1301 der Anlage zur BKV sind Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine eine BK.
Voraussetzung für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als Berufskrankheit ist, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität), ferner müssen die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität).
Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Lediglich für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits und zwischen der schädigenden Einwirkung und der eingetretenen Erkrankung andererseits reicht die hinreichende Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – aus (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 2. April 2009 - B 2 U 9/08 R - m. w. N., zitiert nach juris.de). Ein Zusammenhang ist hinreichend wahrscheinlich, wenn nach herrschender ärztlich-wissenschaftlicher Lehrmeinung mehr für als gegen ihn spricht und ernste Zweifel an einer anderen Ursache ausscheiden (vgl. BSG a. a. O.).
Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung" und "Krankheit" sind zwischen den Beteiligten unstreitig. Bei dem Kläger bestand ein Urothelkarzinom, so dass auch eine von der BK 1301 erfasste Krankheit im Vollbeweis gesichert ist.
Durch die Stellungnahmen des TAD vom 18. Dezember 2006 und 30. August 2007 ist ohne jeden Zweifel, d.h. im Vollbeweis nachgewiesen, welcher Art von "Einwirkungen" der Kläger ausgesetzt war, nämlich gegenüber 3,4-Dichloranilin, p-Chloranilin (4 Chloranilin), Chlortoluidin-2,4 (3-Chlor-4-methylanilin), Cumin (p-Isopropyl-Anilin, 4 Isopropyl-Anilin), m-Aminobenzotriflurid (m-Trifluormethyl-Anilin, 3 Aminobenzotrifluorid) und Anilin (Aminobenzol). Ferner konnte Prof. Dr. H mit der erforderlichen Gewissheit nachweisen, dass der Kläger ebenso gegenüber Isocyanaten (als Umsetzungsprodukten) und von 1993 bis 1994 nitroaromatischen Verbindungen ausgesetzt war. Dem stimmte auch Prof. Dr. D (Seite 6 unten der wissenschaftlich begründeten arbeitsmedizinischen Stellungnahme vom 20. März 2008) zu.
Bei dem Stoff p-Chloranilin handelt es sich um einen Stoff der Gefahrkategorie 2. Dies sind Stoffe, die als Krebs erzeugend für den Menschen anzusehen ist, weil durch hinreichende Ergebnisse aus Langzeit-Tierversuchen oder Hinweise aus Tierversuchen und epidemiologischen Untersuchungen davon auszugehen ist, dass sie einen nennenswerten Beitrag zum Krebsrisiko leisten.
Nach Abschnitt III der MAK-Werteliste der Senatskommission zur Prüfung gesundheitsschädlicher Arbeitsstoffe der DFG 2009 und der Europäischen Union werden krebserzeugende Arbeitsstoffe in fünf Kategorien eingeteilt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, 18.3, S. 1089):
Kategorie 1:
Stoffe, die beim Menschen Krebs erzeugenden und bei denen davon auszugehen ist, dass sie einen nennenswerten Beitrag zum Krebsrisiko leisten. Epidemiologische Untersuchungen geben hinreichende Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen einer Exposition beim Menschen und dem Auftreten von Krebs. Andernfalls können epidemiologische Daten durch Informationen zum Wirkungsmechanismus beim Menschen gestützt werden.
Kategorie 2:
Stoffe, die als Krebs erzeugend für den Menschen anzusehen ist, weil durch hinreichende Ergebnis aus seinem Zeit-Tierversuchen oder Hinweise aus Tierversuchen und epidemiologischen Untersuchungen davon auszugehen ist, dass sie einen nennenswerten Beitrag zum Krebsrisiko leisten. Andernfalls können Daten aus Tierversuchen durch Informationen zum Wirkungsmechanismus und aus In-vitro- und Kurzzeit-Tierversuchen gestützt werden.
Kategorie 3:
Stoffe, die wegen erwiesener oder möglicher Krebs erzeugender Wirkung Anlass zur Besorgnis geben, aber aufgrund unzureichender Informationen nicht endgültig beurteilt werden können. Die Einstufung ist vorläufig.
3A) Stoffe, bei denen die Voraussetzungen erfüllt wären, sie der Kategorie 4 oder 5 zuzuordnen. Für die Stoffe liegen jedoch keine hinreichenden Informationen vor, um einen MAK- oder BAT-Wert abzuleiten.
3B) Aus In-vitro- oder aus Tierversuchen liegen Anhaltspunkte für eine Krebs erzeugender Wirkung vor, die jedoch zur Einordnung in eine andere Kategorie nicht ausreichen. Zur endgültigen Entscheidung sind weitere Untersuchungen erforderlich. Sofern der Stoff oder seine Metaboliten keiner in die nur toxischen Wirkungen aufweisen, kann ein MAK- oder BAT-Wert festgelegt werden.
Kategorie 4:
Stoffe mit Krebs erzeugender Wirkung, bei denen ein nicht-genotoxischer Wirkungsmechanismus im Vordergrund steht und genotoxische Effekte bei Einhaltung des MAK- und BAT-Wertes keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielen. Unter diesen Bedingungen ist kein nennenswerter Beitrag zum Krebsrisiko für den Menschen zu erwarten. Die Einstufung wird insbesondere durch Befunde zum Wirkungsmechanismus gestützt, die beispielsweise darauf hinweisen, dass eine Steigerung der Zellproliferation, Hemmung der Apoptose unter Störung der Differenzierung im Vordergrund stehen. Zur Charakterisierung eines Risikos werden die vielfältigen nicht ermessen, die zur Kanzerogenese beitragen können, sowie ihre charakteristischen Dosis-Zeit-Wirkungsbeziehungen berücksichtigt.
Kategorie 5:
Stoffe mit Krebs erzeugender und genotoxischer Wirkung, in deren Wirkungsstärke jedoch als so gering erachtet wird, dass unter Einhaltung des MAK- und BAT-Wertes kein nennenswerter Beitrag zum Krebsrisiko für den Menschen zu erwarten ist. Die Einstufung wird geschützt durch Informationen zum Wirkungsmechanismus, zur Dosisabhängigkeit und durch toxikokinetische Daten zum Spezies-Vergleich.
Dass p-Chloranilin keinen Gefahrstoff der Kategorie 1 darstellt, steht der Anerkennung einer BK 1301 nicht entgegen. Die Kammer folgt insoweit den übereinstimmenden Einschätzungen von Prof. Dr. E. (S.14 des Gutachtens vom 13. November 2011) und Prof. Dr. H (S.7 des Gutachtens vom 4. August 2009). Deren Auffassung steht mit dem Amtlichen Merkblatt zur BK 1301, das eine Exposition gegenüber Gefahrstoffen der Kategorie 1 nicht fordert, ebenso im Einklang wie mit der unfallversicherungsrechtlichen Literatur, wonach der ärztliche Befund unter Berücksichtigung aller äußeren Umstände des Fallherganges entscheidend ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 18.3., S. 1088). Allein dieses Verständnis entspricht auch dem Charakter der MAK-Werte-Liste (vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft: MAK- und BAT-Werte-Liste 2009, Wiley-VCH, S. 10; abgedruckt bei Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 18.3., S. 1088. Dort heißt es:
"Ebensowenig lässt sich aus MAK-Werte-Liste oder der Einstufung als krebserzeugender Arbeitsstoff eine festgestellte oder angenommene Schädigung im Einzelfalle herleiten; hier entscheidet allein der ärztliche Befund unter Berücksichtigung aller äußeren Umstände des Fall-Herganges. Angaben in der MAK-Werte-Liste sind daher grundsätzlich nicht als vorgezogene Gutachten für Einzelfallentscheidungen zu betrachten."
Eine reine Orientierung an der MAK-Werte-Liste kann den tatsächlichen Verhältnissen auch deshalb nicht gerecht werden, weil es letztlich von zufälligen Randbedingungen abhängt, ob und ggf. in welche Kategorie ein Gefahrstoff eingeordnet wird. Dies hat insbesondere Prof. H überzeugend ausgeführt (vgl. S.7f. des Gutachtens vom 4. August 2009). Er hat darauf hingewiesen, dass das Arbeitsstoffgebiet der aromatischen Amine eine enorme Fülle an höchst unterschiedlichen chemisch-konfigurierten Stoffen aufweist, die sich in z.T. unterschiedlicher Art und Intensität der krebserzeugenden Eigenschaften unterscheiden. Die Fülle bedingt auch, dass (bisher) nur ein (relativ) geringer Anteil an diesen Stoffen überhaupt wissenschaftlich untersucht wurde, und wenn doch, dann vielfach nur in Versuchsansätzen, die mehr oder weniger solide Hinweise, aber keine (end-)gültige Beurteilung der Wirkung am Menschen liefern (sog. Kurzzeittests). Ferner wies er darauf hin, dass für die Anerkennung der kanzerogenen Wirkungseigenschaft eines Stoffes hohe Voraussetzungen erfüllt sein müssen, die er im Einzelnen beschreibt. Die Einflusselemente einer kanzerogenen Wirkung an Menschen und ihrer Bewertung sind, bei statistischer Betrachtung, dem Zufall unterworfen. Es ist nach alledem für die Kammer überzeugend, wenn Prof. Dr. H und Prof. Dr. E. zu dem Ergebnis kommen, dass ein Gefahrstoff nicht deshalb aus der Gesamtbetrachtung entlassen werden könne, weil er nicht in der Kategorie 1 eingeordnet worden sei.
Ob der Kläger darüber hinaus gegenüber den fünf beim Menschen erwiesenermaßen kanzerogen wirkenden Stoffen (&946;-Naphthylamin (BNA), Benzidin, 4-Aminodiphenyl – Xenylamin -, 4-Chlor-o-Toluidin und o-Toluidin) der Kategorie 1 ausgesetzt war, konnte im vorliegenden Fall nicht aufgeklärt werden. Zwar hat Prof. Dr. A. eine Verunreinigung der im Vollbeweis gesicherten aromatischen Amine mit den genannten erwiesenermaßen humankanzerogen wirkenden Stoffen für möglich gehalten und wurde hinsichtlich diese Vermutung auch ausdrücklich von Prof. Dr. H und Prof. Dr. E. bestätigt, jedoch fehlt es insoweit an Feststellungen die den erforderlichen Grad an Gewissheit vermitteln könnten. Da der der Isocyanat-Betrieb nach den geführten Ermittlungen nicht mehr existiert und die Produktion nicht mehr versuchsweise nachgestellt werden kann, sieht die Kammer insoweit auch keine Ansätze für weitere Ermittlungen.
Dass das Ausmaß der Exposition gegenüber den genannten aromatischen Aminen nicht abschließend geklärt werden konnte, führt ebenso nicht dazu, dass diese bei der Gesamtbetrachtung unberücksichtigt zu bleiben haben. Zumindest gingen alle gehörten Gutachter ausgehend von der im Vollbeweis gesicherten Tatsache, dass der Kläger von 1984 bis 1993 im Isocyanatbetrieb als Chemiewerker gearbeitet hat, übereinstimmend von einer mindestens 9jährigen Einwirkungszeit aus. Darüber hinaus geht Prof. Dr. H für die Nitroverbindungen sogar von einer längeren Einwirkungszeit aus, nämlich für die Dauer der Arbeit des Klägers im Reduktionsbetrieb (1993 bis 1994).
Nach den aus Sicht der Kammer abschließenden Ermittlungen der Beklagten im Verwaltungsverfahren konnte allerdings die Einwirkungsmenge (Dosis, Konzentration) nicht abschließend geklärt werden, da der Isocyanatbetrieb Mitte der 90iger Jahre geschlossen und abgerissen. Ungeachtet dessen wurden die für eine Feststellung der Einwirkungsmenge erforderlichen Messungen nicht durchgeführt. Eine befriedigende Dokumentation über die Rückstände liegt ebenfalls nicht vor. Unterlagen aus der Rohstoffkontrolle des Betriebes sind nicht mehr vorhanden.
Damit ist im Ergebnis die Einwirkung der genannten aromatischen Amine als gesichert anzusehen, die Höhe der Exposition jedoch weitgehend unbekannt. Dies steht einer Berücksichtigung der Exposition gegenüber den genannten aromatischen Aminen im Rahmen des Ursachenzusammenhanges jedoch nicht entgegen. In Kenntnis der Beweisschwierigkeiten wird von der unfallrechtlichen Literatur daher auch kein Alles-oder-Nichts-Prinzip gefordert, sondern eine Berücksichtigung des quantitativen Nachweises des krebserzeugenden Gefahrstoffes nur, sofern dieser möglich ist (Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 18.4, S. 1093). Bei den aufgetretenen Beweisschwierigkeiten sind im Rahmen der freien Beweiswürdigung nach § 128 SGG, in die auch Billigkeitserwägungen einfließen dürfen, an den Vollbeweis keine zu hohen Anforderungen zu stellen (vgl. auch: Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Urteil vom 29. September 2011 – L 6 U 5889/06 -, zitiert nach juris Rn. 60 m.w.N.).
Nach dieser Maßgabe geht die Kammer aufgrund der Ermittlungen des TAD davon aus, dass der Kläger einer ausreichend hohen Dosis der Gefahrstoffe ausgesetzt war um im Rahmen der Zusammenhangsbeurteilung Berücksichtigung finden zu können. Die Kammer folgt damit der Einschätzung der Sachverständigen Prof. Dr. E. (S.18 des Gutachtens vom 13. November 2011) und Prof. Dr. H (S.13 des Gutachtens vom 4. August 2009). Die beiden Sachverständigen stimmen insoweit überein mit Prof. Dr. A., der nach gründlicher Analyse der Tätigkeitsbeschreibung des Klägers und der Art und Menge der Produktion im Isocyanat-Betrieb der X AG sowie der inhalativen und transdermalen Einwirkung der Gefahrstoffe (S.22ff. des Gutachtens vom 10. Februar 2009) ebenfalls zu diesem Ergebnis gekommen ist. Danach waren die verwendeten Mengen der Gefahrstoffe im Isocyanat-Betrieb der X AG bei dem in Vollzeit beschäftigten Klägerin unter Berücksichtigung seiner Tätigkeitsbeschreibung hoch und damit auch die Einwirkungsmöglichkeit von aromatischen Aminen (gleichgültig welcher Bioverfügbarkeit) als hoch einzustufen.
Dass Prof. Dr. D (Stellungnahme vom 20. März 2008) die Berücksichtigung der gesicherten Gefahrstoffe ausschließen will, weil keine Exposition gegenüber urothelkanzerogenen aromatischen Aminen im mg-Bereich nachgewiesen worden sei, überzeugt die Kammer nicht. Vielmehr beruht die Forderung nach einer exzessiv hohen Exposition auf einem methodischen Mangel. Hierauf hat bereits Prof. Dr. H zutreffend hingewiesen. Es ist nämlich gerade davon auszugehen, dass über die Anforderung einer Mindestdosis für eine Dosis-Wirkungs-Beziehung der Belastung mit aromatischen Aminen derzeit noch kein Konsens besteht (so auch: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 24. Februar 2011 – L 31 U 339/08 - zitiert nach juris Rn. 30 m.w.N.). Ausgehend hiervon kann eine exzessiv hohe Dosis im Sinne eines Auschlusskriteriums daher nicht gefordert werden.
Der Versuch von Prof. Dr. D (S. 8 der Stellungnahme vom 20. März 2008) unter Hinweis auf das am 27. Februar 2007 veranstaltete Symposium über aromatische Amine verbindliche Grenzwerte für die Entstehung einer BK nach der Nr. 1301 der Anlage zur BKV zu bestimmen, gebietet keine andere Sicht der Dinge. Hierzu hat bereits Prof. Dr. H methodische Bedenken geäußert. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 28. März 2010 (S.2) hat er darauf hingewiesen, dass es sich bei den auf dem genannten Symposium handelten Fragen um einen neuen, bisher in der wissenschaftlichen Literatur noch nicht behandelten, komplexen Sachverhalt handelte, der als solcher nicht allgemein akzeptiert und damit Teil der wissenschaftlichen Erkenntnistheorie im Sinne der herrschenden, allgemein anerkannten Meinung sei. Dies wird er letztlich auch von Prof. Dr. D bestätigt, der den Stand der Meinungsbildung aus dem Symposium als eine "kontroverse Diskussion" (S.11 der Stellungnahme vom 20. März 2008) bezeichnet.
Schließlich hat das LSG Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 7. September 2010 L 1 U 2869/09 – (zitiert nach juris Rn. 38 m.w.N.) zur Verwertbarkeit der Ergebnisse des o.g. Symposiums folgendes ausgeführt:
"Bei der Formulierung des Tatbestandes der bereits durch die 3. BKVO vom 16. Dezember 1936 Nr. 14 eingeführten BK Nr. 1301 (vgl. Mehrtens/Brandenburger, Die Berufskrankheitenverordnung, M 1301 S. 3) hat der Verordnungsgeber auf die Angabe eines konkreten Belastungsgrenzwerts verzichtet. Der Verzicht auf die Angabe konkreter Belastungsarten und Belastungsgrenzwerte bei der Formulierung von BK-Tatbeständen geschah vielfach bewusst, um bei der späteren Rechtsanwendung Raum für die Berücksichtigung neuer, nach Erlass der Verordnung gewonnener oder bekannt gewordener Erkenntnisse zu lassen (BSG, Urteil vom 27.06.2006 - B 2 U 20/04 R -, in Juris Rdnrn. 18 ff. mwN). Auch das Merkblatt zur BK Nr. 1301 der Anlage zur BKV (Bek. des BMA vom 12.06.1963, BArbBl. Fachteil Arbeitsschutz 1964, 129 f.) sowie der aktuelle BK-Report 1/2009 über Aromatische Amine (herausgegeben vom Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, im Internet verfügbar unter http://www.dguv.de/ifa/de/pub/rep/pdf/reports2009/bk0109/bk rep 1 2009.pdf) enthalten für die Chemikalien, mit denen der Kläger in Kontakt gekommen ist, keine Mindestexpositionsmenge. Dies entspricht dem im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblichen wissenschaftlichen Forschungsstand."
Diesen Überlegungen schließt sich die Kammer aufgrund eigener Überprüfung und Bewertung an, zumal keine neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgetragen oder bekannt geworden sind, die eine Abkehr von den zitierten Überlegungen des LSG Baden-Württemberg erforderlich machen würden.
Das gilt ebenso für den von der Beklagten auch in diesem Verfahren vorgelegten Aufsatz "Berufskrankheit 1301" (Weiß/Henry/Brüning, Arbeitsmed.Sozialmed.Unfall-med. 2010, 222). Die Autoren schlagen zwar ein Berechnungsmodell, das dem Symposiumsergebnis entspricht, vor, räumen aber auch ausdrücklich ein, dass sich den in der internationalen Literatur verfügbaren epidemiologischen Arbeiten weder Dosis-Wirkungs- noch Dosis-Risiko-Beziehungen entnehmen lassen, und dass diese Studien in der Regel sogar keine Exposition angeben (LSG Baden-Württemberg, a.a.O., Rn. 41).
Im Ergebnis geht die Kammer in freier Beweiswürdigung daher davon aus, der Kläger einer grundsätzlich ausreichenden Menge an aromatischen Aminen, insbesondere p Chloranilin, ausgesetzt war, zumal er eigenen Angaben zufolge bei seinen Tätigkeiten im Umgang mit den Gefahrstoffen keinen wirksamen persönlichen Arbeitsschutz getragen hat.
Die danach zur Herbeiführung eines Harnblasenkarzinoms als grundsätzlich geeignet anzusehende berufliche Exposition des Klägers gegenüber p-Chloranilin hat im konkreten Fall diese Krankheit mit Wahrscheinlichkeit tatsächlich auch zumindest wesentlich mitverursacht.
Nach der Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs beziehungsweise Gesundheitsschadens abgeleitet werden. Wenn es mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen gibt, ist sozialrechtlich allein relevant, ob die Einwirkungen wesentlich waren. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere/n Ursache/n keine überragende Bedeutung hat/haben. Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur diese Ursache/n "wesentlich" und damit Ursache/n im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jede/s andere alltäglich vorkommende Ereignis oder Einwirkung zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte (BSG, Urteile vom 9. Mai 2005 - B 2 U 1/05 R – und vom 12. April 2005 – B 2 U 27/04 -).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze sind vorliegend zur Überzeugung der Kammer die Voraussetzungen für einen ursächlichen Zusammenhang der Exposition des Klägers gegenüber p-Chloranilin und seiner Krebserkrankung gegeben.
Nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen war der Gefahrstoff p-Chloranilin nach den Erkenntnissen der wesentlichen Wissenschaft geeignet bösartigen Bildungen bei dem Kläger zu verursachen (vgl. hierzu im Einzelnen: Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S.1092ff.).
Der Nachweis der Kanzerogenität erfolgt durch epidemiologische Erhebungen bei entsprechend belasteten kollektiven. Ergebnisse aus Tierversuchen können Hinweise für eventuelle kanzerogene Potenzen bzw. Gefährdungen ergeben, wobei die Gültigkeit solcher Ergebnisse auf die Krankheitslehre des Menschen geklärt sein muss (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., 18.4, S.1092f.). Diese Voraussetzungen lagen vor. Die Kammer folgt dabei der Einschätzung von Prof. Dr. E. (S. 15 des Gutachtens vom 13. November 2011). Prof. Dr. E. hat darauf hingewiesen, dass p-Chloranilin zu den monozyklischen aromatischen Amino- und Nitroverbindungen gehört, von denen bereits zwei von der DFG (2011) als gesicherte Humankanzerogene eingestuft sind, nämlich o-Toluidin und 4-Chlor-o-Toluidin. Weiter legt er dar, dass p-Chloranilin die typischen Eigenschaften der Methämaglobinbildung besitze und Hämosiderosen und Organschäden an Leber und Milz verursache. Im übrigen ist für p-Chloranilin die Kennzeichnung mit dem Hinweis R 45 "kann Krebs erzeugen" vorgeschrieben (S. 27 des Gutachtens von Prof. Dr. A.).
Dass p-Chloranilin nach den übereinstimmenden Feststellungen von Prof. Dr. E. (S. 15 des Gutachtens vom 13. November 2011) und Prof. Dr. A. (S.27 des Gutachtens vom 10. Februar 2009) in Langzeitstudien mit oraler Applikation an Ratten und Mäusen vor allem zu seltenen Tumoren der Milz sowie Tumoren der Leber geführt hat, bestärkt diese Einschätzung von Prof. Dr. E ... Allein die Tumorlokalisation gebietet insoweit keine andere Sicht der Dinge. Denn allen krebserzeugenden aromatischen Aminen ist gemeinsam, dass sie an sich nicht krebserzeugend sind. Erst in der Verstoffwechselung entstehen aus den Ausgangsmolekülen krebserzeugende Metaboliten, die im Urin ausgeschieden werden. Die Organspezifizität wird mit dem Urinkontakt dieser Metaboliten begründet (Dr. med. G., Arbeitsmed.Sozialmed.Umweltmed. 45, 12, 2010, S.690). Im Ergebnis ist eine Krebserkrankung der Harnwege bei Menschen damit im Falle von aromatischen Aminen typisch, auch wenn sie bei Tierversuchen andere Organe befallen haben. Davon geht letztlich auch Prof. Dr. E., wenn er ausführt die Organlokalisation des Krebsleidens sowie der biologische Mechanismus stimmten mit den arbeitsmedizinischen Erfahrungen überein.
Hinzu kommt, dass p-Chloranilin über einen angemessenen Zeitraum von 9 Jahren am Arbeitsplatz des Klägers vorhanden war und auf seinen Körper eingewirkt hat. Diese Expositionszeit entspricht ebenso wie die Latenzzeit von 22 Jahren nach den Feststellungen von Prof. Dr. E. den medizinischen Erfahrungen.
Ferner sind außerberufliche Noxen als wesentliche Ursache auszuschließen. Insofern hat Prof. Dr. E. ausdrücklich festgestellt, dass der Kläger nie geraucht hat und damit die wichtigste außerberufliche Ursache des Harnblasenkarzinoms entfalle (S.17 des Gutachtens vom 13. November 2011). Ebenso bestehen keine Hinweise auf weitere außerberufliche Risiken wie chronische Entzündung der Harnwege, Dauerinfekte der Harnwege in Verbindung mit Steinleiden oder Fremdkörpereinwirkung, Billharziose, Phenactin-Einnahme bei chronisch interstitieller Nephritis, vorausgegangene Therapie mit Cyclophosphamid oder Bestrahlung der Beckenregion (vgl. S. 17 des Gutachtens vom 13. November 2011). Schließlich besteht auch keine familiäre Häufung von Harnblasenkrebs, die auf eine genetische Prädisposition schließen ließe (vgl. S. 17 des Gutachtens vom 13. November 2011).
Unter dem Gesichtspunkt der Synkanzerogenese ist ferner zu berücksichtigen, dass der Kläger an seinem Arbeitsplatz weiteren Gefahrstoffen ausgesetzt war, insbesondere Nitroaromaten, die Harnblasenkrebs erzeugen können.
Schließlich kommt dem Erkrankungsalter des Klägers besonderes Gewicht zu. Insofern hat Prof. Dr. E. der Kammer erläutert, dass in Deutschland jährlich etwa 28.000 Menschen an einem Tumor der Harnblase erkrankten. Das mittlere Erkrankungsalter liege für Männer bei 72 Jahren. Daraus ergebe sich, dass der Kläger mit einem zeitlichen Abstand von 17 Jahren vor dem mittleren Erkrankungsalter bei Männern ein Harnblasekrebs erkrankt sei. Eine Vorverlegung des Krankheitszeitpunktes bis zu 10 Jahre gelten dabei als typisch für beruflich verursachten Harnblasentumore. Im weiteren erläutert Prof. Dr. E. anhand des Krebsregisters des Robert-Koch-Instituts, dass Krebserkrankungen der Harnblase bei Männern im Alter von 55 Jahren, die nie geraucht haben, genetisch nicht prädisponiert und auch ansonsten nicht belastetet sind, bei weniger als 1 % liege.
Angesichts all dessen spricht aus Sicht der Kammer deutlich mehr für als gegen einen Zusammenhang des Harnblasenkrebses des Klägers durch die Exposition gegenüber p-Chloranilin als dagegen.
Im Ergebnis war daher eine BK nach Nr. 1301 anzuerkennen.
Für das danach nach Überzeugung der Kammer als BK 1301 zu entschädigende Harnblasenkarzinom ist dem Kläger unter Berücksichtigung der Erstdiagnose am 19. Juli 2006 entsprechend den übereinstimmenden Vorschlägen von Prof. Dr. D (S. 17 des Gutachtens vom 31. Mai 2007) und Prof. Dr. E. (S.21 des Gutachtens vom 13. November 2011) vom Juli 2006 bis zum Juni 2008 Verletztenrente nach einer MdE von 50 v.H. und ab Juli 2008 bis Juni 2011 nach einer MdE von 20 v.H. zu gewähren. Der Ansatz einer MdE von 50 v.H. bis zu zwei Jahren nach dem letzten Rezidiv und von 20 v.H. bis zu fünf Jahren nach dem letzten Rezidiv entspricht unter den gegebenen Umständen (Stadieneinteilung, histopathologisches Grading) allgemeinen Bewertungsrichtlinien (s. Schönberg/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 1129) und ist im Übrigen auch unstreitig.
Die Entscheidung über die Kosten folgt dem Ergebnis in der Hauptsache und beruht auf § 193 SGG.
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