L 17 U 216/94

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
17
1. Instanz
SG Münster (NRW)
Aktenzeichen
S 5 (8) U 40/90
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 17 U 216/94
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 09. September 1994 abgeändert und die Klage abgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist im Rahmen eines Verfahrens nach § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X), ob dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 29.11.1985 Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - von 40 v.H. zusteht. Umstritten ist dabei insbesondere, ob ein beim Kläger bestehender Schiefhals als Unfallfolge anzusehen ist.

Der 1939 geborene, aus Jugoslawien stammende Kläger erlitt am 29.11.1985 einen Arbeitsunfall, als ihm beim Auswechseln einer Papierrolle an einer Rollenabwicklungsmaschine beim Versuch, nach dem Ausschwenken die Abwickelwelle mit dem Aufzug anzuheben, die Welle des Aufzugs rechts seitlich an den Kopf schlug. In der Chirurgischen Abteilung des Evangelischen Krankenhauses M stellte der Chefarzt und Durchgangsarzt Prof. Dr. L nach seinem Bericht vom Unfalltag einen Druckschmerz und eine Prellmarke am rechten Scheitelbein direkt über dem rechten Ohr fest sowie einen geringgradigen Schmerz bei Bewegung des Kopfes nach links. Bei den Befundangaben hieß es in dem Bericht weiter: Keine Bewußtlosigkeit, kein Schwindel, kein Erbrechen.

Nachdem der Kläger in der Folgezeit über Schwindel und Kopfschmerz geklagt und am 02.12.1985 eine Hörminderung rechts sowie das Auslaufen eines blutig-wässrigen Sekrets aus dem rechten Ohr angegeben hatte, erfolgten während der bis zum 18.12.1985 dauernden stationären Behandlung neurologische, hno- und augenärztliche Konsiliaruntersuchungen. Der aufgrund von Röntgenaufnahmen ferner in dem Durchgangsarztbericht geäußerte Verdacht auf eine Schädelfraktur des Ostemporale rechts wurde bei Kontrollaufnahmen der Schädelbasis, einer Felsenbeinaufnahme nach Schüller sowie einer Computertomographie des Schädels nicht bestätigt. Der zunächst am 11.12.1985 in der HNO-Klinik der Westfälischen X-Universität in N erhobene unfallunabhängige Befund eines seit langem bestehenden Cholesteatoms rechts wurde ebenfalls nicht bestätigt. Vielmehr fand sich ein epitympanaler Defekt am rechten Trommelfell, der wegen der am 21.01.1986 festgestellten chronischen, epitympanalen Otitis media rechts zu der Ohrradikaloperation am Folgetage führte. Der Direktor dieser Klinik, Prof. Dr. G, kam in seinem HNO-ärztlichen Gutachten vom 13.11.1986 zu dem Ergebnis, daß keine Hinweise auf einen Bruchspalt und eine traumatische Cholesteatombildung rechts vorlägen, das gesamte klinische Bild vielmehr eine typische chronische Otitis media epitympanalis widerspiegele; die rechtsseitige Taubheit werde vom Kläger vorgetäuscht. In seinem Gutachten vom 21.04.1987 führte der Landesmedizinaldirektor Dr. N1, Leiter der Neurologischen Abteilung des Westfälischen Landeskrankenhauses in M aus, für die bei der Untersuchung gezeigte sehr stark zur linken Schulter und nach vorn geneigte Kopfhaltung sowie die geklagten rechtsseitigen Nackenbeschwerden und Mißempfindungen habe sich bisher kein klinisches Korrelat finden lassen und auch die Bewegungsstörungen im Bereich der Halswirbelsäule seien in erheblichem Maß psychogen überlagert. Auch wenn zu berücksichtigen sei, daß sich der Kläger in einer Resignationshaltung befinde und er auf seine Beschwerden fixiert sei, verdiene dennoch die in der Orthopädischen Klinik der Universität N gestellte Diagnose eines vertebragenen Schiefhalses besondere Beachtung. Durch ein längeres Hinausschieben der dringend notwendigen orthopädischen Behandlung würde die psychogene Überlagerung weiter zunehmen. Neurologischerseits sei es nicht möglich, eine MdE durch die Folgen des Unfalls anzugeben. Nachdem der beratende Arzt der Beklagten, der Nervenarzt Priv.-Doz. Dr. T, unter dem 04.05.1987 zwar ein Halswirbelsäulenschleudertrauma im eigentlichen Sinne nicht aber eine Schädigung im Bereich der Kopfgelenke durch den Unfall ausgeschlossen hatte und nachdem Priv.-Doz. Dr. I, Leitender Oberarzt der Psychiatrischen und Nervenklinik der Westfälischen X-Universität N in seinem Gutachten vom 17.11.1987 zu dem Ergebnis gekommen war, die als Unfallfolgen vorgebrachten Paresen, Sensibilitätsstörungen und eine Riechstörung seien nicht objektivierbar, so daß auf neurologischem Fachgebiet keine Verletzungsfolgen des Arbeitsunfalls vom 29.11.1985 vorlägen, jedoch eine psychiatrische Abklärung wegen einer möglicherweise reaktiven Depression zu empfehlen sei, erstattete Professor Dr. Q, Orthopädische Klinik und Poliklinik der Westfälischen X-Universität, der Beklagten ein Gutachten vom 17.03.1988. Danach lagen auf orthopädischem Gebiet keine Unfallfolgen vor. Er empfahl jedoch eine ambulante Psychotherapie, um einer weiteren Chronifizierung der Somatisierung eines psychischen Konflikts vorzubeugen. In dem Zusammenhang nannte er als unfallunabhängige Erkrankungen eine psychogene Fehlhaltung des Kopfes, Schwindelgefühle, chronische Kopfschmerzen, eine rechtsseitige Dysästhesie, den Zustand nach Radikaloperation, eine essentielle Hypertonie und den Verdacht auf eine konversionsneurotische Reaktion.

Gestützt auf die von ihr eingeholten Gutachten lehnte die Beklagte daraufhin mit bindend gewordenem Bescheid vom 28.03.1988 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 22.09.1988 die Gewährung von Verletztenrente ab, weil die ab 03.01.1986 bestehende Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit mit dem Unfall vom 29.11.1985 nicht in ursächlichem Zusammenhang stehe.

Am 19.03.1990 beantragte der Kläger die nochmalige Einleitung von Ermittlungen. Dabei stützte er sich auf einen Befundbericht des Arztes für Allgemeinmedizin X1 N2 vom 05.03.1990 in dem Schwerbehindertenstreitverfahren S 11 Vs 36/89, in dem dieser Gründe dafür angegeben hatte, daß zwischen dem Unfallereignis und den psychogenen krankhaften Veränderungen des Klägers ein Zusammenhang bestehe. - Mit Bescheid vom 11.04.1990 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 28.03.1988 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.09.1988 gemäß § 44 SGB X ab, weil sie bei dieser Entscheidung nicht von einem Sachverhalt ausgegangen sei, der sich als unrichtig erwiesen habe. Selbst der Arzt für Allgemeinmedizin N1 sei in seinem Befundbericht der Ansicht, die Auffassung des Klägers sei als sicher falsch zu bewerten.

Der Kläger hat am 14.05.1990 beim Sozialgericht - SG - Münster Klage erhoben und weiterhin geltend gemacht, die im Befundbericht des Arztes N1 aufgeführten Beschwerden seien letztendlich als Folgen des Unfalls vom 29.11.1985 zu werten. Das vorliegende psychiatrische Krankheitsbild, das als wesentliche Unfallfolge jetzt im Vordergrund stehe, sei von Anfang an unberücksichtigt geblieben.

Das SG hat nach Einholung eines Befundberichts des Arztes W. N1 vom 08.01.1993 ein nervenärztliches Gutachten von Dr. T1, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie des St.-B-Krankenhauses L1, vom 28.10.1993, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von Dr. F in N vom 07.09.1993 sowie ein psychologisches Zusatzgutachten von dem Dipl.-Psych. M1 vom 30.11.1993 erstatten lassen. Dr. F kam zu dem Ergebnis, auf neurologischem Fachgebiet lägen beim Kläger keine Gesundheitsstörungen vor, die durch den Arbeitsunfall vom 29.11.1985 verursacht oder verschlimmert worden seien. Unfallunabhängig seien der Schiefhals nach links (Torticollis spasmodicus) sowie eine konversionsneurotische Entwicklung. Dr. T1 führte abschließend aus, beim Kläger handele es sich um einen Schiefhals nach links, der mit großer Wahrscheinlichkeit unmittelbar im Zusammenhang mit dem Unfall stehe und auf dessen Basis sich eine Somatisierungsstörung mit chronischem Schmerzsyndrom entwickelt habe. Der genaue Wirkungsmechanismus der Entstehung von Torticollis spasmodicus könne beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft zwar nicht geklärt werden; ein zeitlicher Zusammenhang sei aber deutlich erkennbar. Die durch den Unfall bedingte MdE sei unverändert seit dem 01.01.1986 mit 30 bis 40 v.H. einzuschätzen. - In seiner Stellungnahme vom 21.02.1994 hat Dr. T1 ergänzt, er meine ausdrücklich den idiopathischen Torticollis spasmodicus. Dessen Ätiologie sei in der Wissenschaft nicht so weit gesichert, daß es eine klare Gruppe von bekannten Ursachen gebe, die stets und mit Sicherheit im Ergebnis zum Torticollis führten. Ebenfalls sei aber klar, daß dieses Krankheitsbild beim Kläger nach dem Unfall aufgetreten sei und in seinem Leben keine weiteren Ursachen zu finden seien, die die Auslösung dieses Krankheitsbildes auch nur wahrscheinlich machten. Das Krankheitsbild beim Kläger sei durch den Unfall ausgelöst worden und ohne den Unfall nicht vorstellbar.

Die Beklagte hat die Ansicht vertreten, wesentliche Unfallfolgen lägen beim Kläger nicht vor und nach den Stellungnahmen ihres beratenden Arztes Priv.-Doz. Dr. T vom 09.01. und 02.05.1994 sei bei der komplizierten Ätiologie des Schiefhalses anstelle einer organischen auch eine seelische Ursache vorliegend nicht überwiegend wahrscheinlich zu machen.

Mit Urteil vom 09.09.1994 hat das SG antragsgemäß unter Aufhebung des Bescheides vom 11.04.1990 den Bescheid vom 28.03.1988 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.09.1988 zurückgenommen und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 40 v.H. nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Zur Begründung hat es sich im wesentlichen auf die Ausführungen von Dr. T1 gestützt, denen nicht nur das psychologische Zusatzgutachten zugrundeläge, sondern die auch die Angaben der Ehefrau des Klägers berücksichtigt hätten. Auf die Entscheidungsgründe im übrigen wird Bezug genommen.

Gegen das ihr am 30.09.1994 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 27.10.1994 Berufung eingelegt. Unter Vorlage einer Stellungnahme des Priv.-Doz. Dr. T vom 17.10.1994 trägt sie zur Begründung vor, das SG habe sich zu Unrecht auf das Gutachten Dr. T1 gestützt. Selbst diesem Gutachten sei aber nicht zu entnehmen, daß der Schiefhals des Klägers mit Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 29.11.1985 zurückzuführen sei, denn Dr. T1 habe darin selbst eingeräumt, daß der genaue Wirkungsmechanismus zur Entstehung von Torticollis spasmodicus beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft nicht geklärt werden könne. Wenn Dr. T1 sich nur auf den zeitlichen, nicht aber auf den inneren Ursachenzusammenhang stützen könne, sei dies lediglich eine Möglichkeit, bzw. nur ein Versuch, die Ursache zu klären.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 09.09.1994 abzuändern und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und stützt sich ergänzend auf die im Berufungsverfahren gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - erstatteten Gutachten von Dr. F Dr. T2.

Der Senat hat ein Gutachten von Dr. W, Chefarzt des Instituts für Neurologie/Psychiatrie der Kliniken St. B in W1, vom 02.05.1995 eingeholt. Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, daß beim Kläger auf nervenärztlichem Gebiet keine Gesundheitsstörungen vorliegen, die mit Wahrscheinlichkeit auf den Arbeitsunfall vom 29.11.1985 zurückzuführen seien. Auf den weiteren Inhalt des Gutachtens wird verwiesen. - Auf Antrag des Klägers hat der Senat gemäß § 109 SGG sodann ein Gutachten von dem Arzt für Psychiatrie Dr. F, Oberarzt der Rheinischen Landesklinik in E, vom 24.11.1995 sowie ein orthopädisch-manualmedizinisches Gutachten von Dr. T2, Chefarzt der Klinik für Manuelle Therapie in I1, vom 06.02.1997 erstatten lassen. Auf den Inhalt dieser Gutachten, die ergänzende Stellungnahme Dr. L2 vom 05.02.1996 sowie dessen abschließende Beurteilung vom 28.07.1997 wird ebenfalls Bezug genommen.

Die Beklagte hat zu den Gutachten Dr. L2 und Dr. T2 eine Stellungnahme Dr. Dr. X2, Chefarzt der Neurologischen Abteilung der Klinik S in Bad P, vom 02.04.1997 vorgelegt, auf deren Inhalt gleichfalls verwiesen wird.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Streitakte verwiesen. Auf den Inhalt der den Kläger betreffenden Verwaltungsakten der Beklagten und des Versorgungsamts Münster sowie der Streitakte des SG Münster - S 11 Vs 36/89 -, der ebenfalls Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist auch begründet. Zu Unrecht hat das SG der Klage stattgegeben, denn der Bescheid der Beklagten vom 11.04.1990 ist rechtmäßig und beschwert den Kläger nicht i.S.v. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG. Dieser hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 28.03.1988 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.09.1988, denn die Beklagte hat seinerzeit zu Recht die Gewährung von Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 29.11.1985 abgelehnt.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist - soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß eines Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind - der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Diese gesetzlichen Voraussetzungen sind im Gegensatz zur Auffassung des Klägers und des SG hier nicht erfüllt.

Der Anspruch des Klägers richtet sich nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung - RVO -, da der Arbeitsunfall vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches - Gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) am 01.01.1997 eingetreten ist (Art. 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes - UVEG -, § 212 SGB VII).

Zwar hat der Kläger am 29.11.1985 einen Arbeitsunfall i.S.v. § 548 Abs. 1 RVO erlitten. Nach dem Gesamtergebnis der medizinischen Ermittlungen im Verwaltungs-, Klage- und Berufungsverfahren ist der Senat aber mit der Beklagten der Überzeugung, daß der Arbeitsunfall keine bleibenden Gesundheitsstörungen, insbesondere auch nicht auf neurologisch-psychiatrischem sowie orthopädischem Fachgebiet, hinterlassen hat. Das beim Kläger bestehende Krankheitsbild ist nicht i.S.d. unfallrechtlichen Kausallehre wesentlich ursächlich auf den vorliegenden Arbeitsunfall zurückzuführen. Der Senat stützt sich insoweit in medizinischer Hinsicht auf die Darlegungen der Sachverständigen Dr. W und Dr. F sowie auf die Gutachten und Stellungnahmen, die Prof. Dr. G, Landesmedizinaldirektor Dr. N1, Priv.-Doz. Dr. I und Prof. Dr. Q für die Beklagte erstattet haben und die urkundsbeweislich gewürdigt worden sind. Der Senat folgt im Ergebnis insoweit auch den von der Beklagten vorgelegten Stellungnahmen des Priv.-Doz. Dr. T und des Dr. Dr. X2. Diese sind zwar als Beteiligtenvorbringen zu werten, jedoch deshalb nicht davon ausgeschlossen, der Überzeugungsbildung des Senats zu dienen (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl., § 128 Rdn. 4).

Soweit Dr. T1, Dr. F und Dr. T2 zu einem anderen Ergebnis gekommen sind und nervenärztlicherseits eine unfallbedingte MdE um 40 v.H., bzw. psychiatrischerseits eine solche um 100 v.H. und von seiten des orthopädisch-manualmedizinischen Fachgebiets eine MdE um 25 v.H. angenommen haben, war ihren Darlegungen nicht zu folgen. Dafür sind im einzelnen folgende Erwägungen maßgebend:

Das Vorliegen des erforderlichen Ursachenzusammenhangs beurteilt sich nach der für die Sozialversicherung und damit auch für die gesetzliche Unfallversicherung maßgebenden Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung. Danach sind nur die Bedingungen ursächlich oder mitursächlich, die unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (vgl. BSGE 1, 254, 256; 12, 242, 245; 61, 127, 129; Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung - Handkommentar - Stand 6/96, § 548 Anm. 3 m.w.N.). Ob ein Unfall zu einem Gesundheitsschaden geführt hat, richtet sich nach der Wertigkeit, welche die medizinische Wissenschaft dem Unfall beimißt. Der ursächliche Zusammenhang ist zu bejahen, wenn er wahrscheinlich ist, d.h. wenn bei vernünftiger Abwägung aller für und gegen den Zusammenhang sprechenden Umstände die auf die berufliche Verursachung hindeutenden Faktoren so stark überwiegen, daß darauf die Entscheidung gestützt werden kann und die gegen den ursächlichen Zusammenhang sprechenden Faktoren billigerweise außer Betracht bleiben können (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38).

Der Arbeitsunfall, bei dem der Kläger eine Kopfprellung erlitt, hat weder auf hno-fachärztlichem noch auf chirurgischem und orthopädischem Fachgebiet Gesundheitsschäden hinterlassen. Bei dem Unfall hat der Kläger keine Schädelfraktur erlitten. Zwar wurde seinerzeit im Durchgangsarztbericht von Prof. Dr. L vom 29.11.1985 nach röntgenologischer Untersuchung von einem "Verdacht" auf eine Schädelfraktur des Ostemporale rechts gesprochen, nach dem Arztbrief Prof. Dr. L vom 30.12.1985 und insoweit unstreitig konnten jedoch bei Kontrollaufnahmen der Schädelbasis, einer Felsenbeinaufnahme und einer Computertomographie des Schädels keine Frakturen nachgewiesen werden. Wurde damit ebensowenig der Verdacht des konsiliarisch gehörten HNO-Arztes Dr. H auf eine Felsenbeinlängsfraktur bestätigt, den dieser aufgrund des ihm unklar gebliebenen Trommelfellbefundes sowie wegen der vom Kläger angegebenen leichten Rachenblutung und der Sekretion aus dem rechten Ohr noch geäußert hatte, hat der Unfall auch nicht zu einer Schädigung des rechten Ohres geführt. Aufgrund seiner Untersuchung der am 22.01.1985 in der HNO-Klinik der Westfälischen X-Universität durchgeführten Ohrradikaloperation rechts stellte Prof. Dr. G nämlich die Diagnose einer chronischen epitympanalen Otitis media rechts, die auch ein traumatisch bedingtes Cholesteatom ausschließt.

Der Arbeitsunfall hat auch nicht zu einer Schädigung auf chirurgisch/orthopädischem Fachgebiet geführt. Soweit Dr. C von einem Halswirbelsäulenschleudertrauma sprach, ist dies, worauf Prof. Dr. Q und Dr. T2 insoweit übereinstimmend hinwiesen, schon aufgrund des vorliegenden Unfallmechanismus auszuschließen (vgl. dazu: Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeits- unfall und Berufskrankheit, 5. Aufl. S. 464 ff). Aber auch sonstige durch den Unfall bedingte Schädigungen im Halswirbelsäulenbereich sind nicht nachweisbar. Zwar unterblieben unmittelbar nach dem Unfall entsprechende (Röntgen-)Untersuchungen, die neurologischerseits von Dr. N1 und Dr. I2 vorgeschlagene, wegen der hno-ärztlichen Behandlung erst am 10.04.1986 durchgeführten Röntgenuntersuchungen der Halswirbelsäule ergaben jedenfalls aber keinen Anhalt für eine unfallbedingte Verletzung. Daß Dr. X3 an Hand der Aufnahmen in Seitansicht eine Atlasfehlstellung, eine Fehlstellung C5/C6 und durch eine zusätzliche AP-Aufnahme am 05.01.1987 eine erhebliche Fehlstellung im Occiput C1/C2 angenommen hat, führt insoweit zu keiner anderen Beurteilung. Geht es nämlich um die Feststellung einer durch den Unfall herbeigeführten Gesundheitsschädigung i.S. eines sog. Erstschadens, wird mit Ausnahme von Dr. T2 von keinem medizinischen Gutachter eine unmittelbar durch den Unfallhergang herbeigeführte Fehlstellung im Halswirbelsäulen- und Kopfgelenksbereich angenommen. Soweit der gemäß § 109 SGG gehörte Sachverständige Dr. T2 in dem Zusammenhang ausführt, durch den Anprall der Transportwelle rechts seitlich an den Schädel des Klägers müsse es auch zu einer Verletzung der Halswirbelsäule selbst gekommen sein, kann ihm mangels einer Begründung nicht gefolgt werden. Denn er muß einräumen, daß seine "Erörterungen zweifellos einen gewissen hypothetischen Charakter haben" und die Diskussion über die Art der Verletzung von spekulativer Art ist. Wenn er also zugibt, hinsichtlich der Art der Verletzung auf Vermutungen angewiesen zu sein, kann seiner Vermutung, daß es zu einer traumatischen Blockierung im oberen Kopfgelenksbereich gekommen ist, weil der Vergleich mit ähnlichen Schädelverletzungen, beispielsweise durch einen seitlichen Anprall des Schädels an Fahrzeugholme durch ein Unfallereignis dafür spreche, kein wesentlicher Beweiswert beigemessen werden. Der erforderliche volle Nachweis eines Erstschadens ist damit nicht geführt.

Ist angesichts dieser Sachlage, daß als Erstschaden mithin nur die Prellmarke über dem rechten Ohr vorlag, lediglich von einem Bagatellunfall auszugehen, da nach dem Bericht des Durchgangsarztes Prof. Dr. L zudem keine Bewußtlosigkeit, kein Schwindel und kein Erbrechen vorlagen und auch der Oberarzt der Neurologischen Abteilung des Westfälischen Landeskrankenhauses Dr. I2 für eine Commotio cerebri keinen Anhalt hatte, ist ebenfalls nicht wahrscheinlich zu machen, daß der Unfall den Schiefhals des Klägers entweder unmittelbar durch organische Veränderungen oder indirekt durch psychoreaktive Folgeerscheinungen des Unfalls herbeigeführt hat. Fehlt - wie dargestellt - für eine organisch zu erklärende Entwicklung des Krankheitsbildes der Erstschaden, blieb auch nach der stationären Behandlung des Klägers in der Neurologischen Abteilung des Westfälischen Landeskrankenhauses in M vom 25.11.1986 bis 25.02.1987 und der dort stattgehabten neurochirurgischen Konferenz die Genese der erst in der Ambulanz der Orthopädischen Klinik der Universität N am 09.02.1987 gestellten Diagnose des Torticollis zumindest unklar. Gegen eine organische Entwicklung sprechen jedenfalls die fehlenden Veränderungen im Bereich des cranio-cervikalen Übergangs sowie der Umstand, daß der Orthopäde Dr. X3 die Kopfseitneigung nach links als spontan bezeichnete, die - wenn auch unter Schmerzäußerungen - passiv und aktiv korrigierbar war. Auch eine durchgeführte Kernspintomographie des Schädels und der Halswirbelsäule sowie eine Liquoruntersuchung führten zu keinen neuen Erkenntnissen, insbesondere ergaben sich keine Anzeichen für eine möglicherweise traumatisch bedingte cervikale Myelopathie oder organische Hirnveränderungen. Auch als Ausdruck einer cervikalen Nervenwurzelreizsymptomatik ließen sich die Beschwerden nicht erklären.

Soweit Dr. T2 eine unfallbedingte organische Entwicklung eines permanenten Torticollis posttraumatischer Natur annimmt, kann er wiederum nicht überzeugen. Wenn er in dem Zusammenhang einräumen muß, daß ossäre Verletzungen nicht nachgewiesen sind, für ihn - wie oben angeführt - eine Verletzung der Halswirbelsäule aber feststeht, obwohl er über die Verletzungsart nur spekulieren kann, ist nicht nachvollziehbar, daß sich nach seiner Ansicht "als Folgereaktion auf das Unfallereignis eine Schiefhaltung des Kopfes eingestellt hat" und dies "eindeutig eine traumatische Verletzungsfolge, also ein Unfallfolgezustand" ist. Denn für die von ihm damit lediglich behauptete Ursächlichkeit bietet er keine Erklärung. Wenn Dr. T2 auf der einen Seite den akuten Torticollis in der Weise beschreibt, daß dieser von einem plötzlichen Beginn mit fixierter Fehlhaltung meistens muskulärer Genese geprägt ist, und er andererseits den permanenten Schiefhals als einen solchen bezeichnet, dessen Ursprung im muskulären oder ossären Bereich sein kann und der sich im chronischen Verlauf entwickelt, soll damit auch hinsichtlich des von ihm so benannten permanenten Torticollis offensichtlich nicht zum Ausdruck gebracht werden, daß dieser etwa ausschließlich traumatisch bedingt ist. Dann jedoch ist seine Feststellung, beim Kläger handele es sich um einen permanenten Torticollis "posttraumatischer" Natur, nach wie vor eine bloße Behauptung, für die er eine Erklärung schuldig bleibt.

Die Entwicklung des Schiefhalses stellt sich aber auch nicht als eine psychoreaktive Unfallfolge dar. Die vorstehend dargelegten Grundsätze der unfallrechtlichen Kausalitätslehre gelten auch bei der - besonders schwierigen - Zusammenhangsbeurteilung zwischen Arbeitsunfällen und danach aufgetretenen psychischen Reaktionen (vgl. dazu BSGE 18, 173, 177; 19, 275, 278; Urteil vom 31.01.1989 - 2 RU 17/88 -; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S. 220 ff.). Akute abnorme seelische Reaktionen kommen danach als Unfallfolge dann ohne weiteres in Betracht, wenn sich die Symptome unmittelbar nach dem schädigenden Ereignis entwickelt haben, das mit einer so schweren seelischen Störung verbunden war, daß auch bei einer gewöhnlichen seelischen Reaktionsweise eine ausgeprägte Reaktion zu erwarten gewesen wäre. Regelmäßig klingen psychische Folgen eines Traumas in wenigen Monaten, in Ausnahmefällen nach ein bis zwei Jahren ab (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O. S. 224 m.w.N.). Bleiben sie bestehen oder verstärken sich gar oder treten sie bei geringfügigen Traumen auf, deutet dies auf eine besondere Disposition des Verletzten zu neurotischen Störungen hin, so daß sich die Frage der Wesentlichkeit der Anlage im Vergleich zum Unfallereignis stellt. Bei der Beurteilung der Zusammenhangsfrage zwischen Arbeitsunfällen und psychoreaktiven Störungen ist - nicht zuletzt zur Abgrenzung von Fällen der Simulation oder Aggravation - ein strenger Maßstab anzulegen und eine eindeutige Beweisantwort vom Sachverständigen zu verlangen (vgl. BSG SozR Nr. 38 zu § 1246 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 589 e). Dabei ist zu berücksichtigen, daß psychische Reaktionen des Verletzten auf einen Unfall meist nicht ausschließlich durch Kräfte aus dem Unterbewußtsein bestimmt werden, vielmehr eine bewußte Überbetonung und ein zweckgerichtetes, unechtes Verhalten häufig mitwirkt (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 220). Der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen Arbeitsunfall und Gesundheitsschaden ist danach in der Regel dann zu verneinen, wenn die psychische Reaktion wesentlich die Folge wunschbedingter Vorstellung ist, die z.B. mit der Tatsache des Versichertseins oder auch mit persönlichen Lebenskonflikten in Zusammenhang stehen (BSGE 18, 173, 177; BSG SozR 2200 § 581 Nr. 26).

Hiervon ausgehend kann entgegen dem SG weder den Ausführungen des Dr. T1 noch denen des Dr. F gefolgt werden. Dr. T1, der beim Kläger einen sog. Torticollis spasmodicus allein aufgrund des zeitlichen Zusammenhangs annimmt, muß einräumen, daß der Wirkungsmechanismus zur Entstehung von Torticollis spasmodicus beim gegenwärtigen Stand der Wissenschaft nicht geklärt ist. Im übrigen hat selbst Dr. T2 eine psychogene Form des Torticollis ausgeschlossen, weil beim Kläger für eine solche Torsionsdystonie die charakteristische Kopfbewegung mit Seitneigung zur einen und Drehung zur anderen Seite nicht vorliegt. Und Dr. F vermag lediglich anzugeben, daß "natürlich eine psychische Überlagerung und insbesondere auch neurotische Fixierung des Beschwerdebildes durchaus verstehbar sei, da der Kläger mit seinem Beschwerdebild möglicherweise niemals recht verstanden, ernstgenommen und behandelt worden sei."

Der Senat folgt daher den überzeugenden Ausführungen Dr. W, der dem Senat aus einer Vielzahl von Fällen als außerordentlich erfahrungsreicher und kompetenter medizinischer Gutachter bekannt ist. Danach liegen auf nervenärztlichem Gebiet beim Kläger keine Gesundheitsstörungen vor, die mit Wahrscheinlichkeit i.S.d. Entstehung oder der Verschlimmerung auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind. Zweifel an der Beurteilung Dr. W, daß die psychogenen Schontendenzen des Klägers seiner willentlichen Steuerung unterliegen und keine krankheitswertige Störung darstellen, bestehen umso weniger, als bereits Prof. Dr. G von Schmerzangaben ohne klinischen Anhalt, Verdeutlichungstendenzen sowie davon sprach, daß der Kläger in den ersten postoperativen Tagen "auffällig gebeugt" ging, und Dr. N1 angab, der Kläger sei auf seinen Beschwerdekomplex fixiert.

Da nach alledem nicht erwiesen ist, daß der Unfall insbesondere auch psychogene Krankheitserscheinungen hinterlassen hat und damit die Beklagte mit dem rechtsverbindlichen Bescheid vom 28.03.1988 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22.09.1988 zu Unrecht die Gewährung von Verletztenrente wegen des Arbeitsunfalls vom 29.11.1985 abgelehnt hat, besteht auch kein Anspruch des Klägers auf Rücknahme dieses Bescheides. Das angefochtene Urteil konnte damit keinen Bestand haben, da der angefochtene Bescheid der Sach- und Rechtslage entspricht. Auf die Berufung der Beklagten war es abzuändern und die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Zur Revisionszulassung bestand kein Anhalt (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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